Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga ...

Markus Steinbichler

Sehnsucht, ging es ihm schon wieder durch den Kopf, heißt ein altes Lied der Taiga, er hasste diese Zeile mittlerweile abgrundtief und wischte sich die bitteren Tränen von den Wangen, von denen er nicht wusste, ob sie eigentlich aus Trauer oder aus Wut flossen. Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga, seit Stunden wurde er diese Zeile nicht mehr los, wusste nicht, was er damit anfangen sollte, war sie doch so verhängnisvoll ausgesprochen worden und seitdem in seinem Kopf, wieder und wieder widerhallend und all die vielen anderen Gedanken, die sein müdes Hirn umschwirrten immer wieder beiseite schiebend und sich unaufhörlich in den Vordergrund drängend. Irgendwann, nach langem und ziellosen Herumirren durch leere und februarnachtkalte Gassen hatte er immerhin so etwas wie eine Vermutung: Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga, das müsste, ja das konnte nur eine Zeile aus einem alten deutschen Schlager sein, wahrscheinlich vor Jahrzehnten auf der blaugelben Welle aus Omas Küchenradio gehört, wahrscheinlich von einem dieser kreuzbraven Schlagerstars mit Föhnfrisur, wahrscheinlich mit einem Bubenvornamen-mit-a-dran-Mädchenvornamen, Michaela oder Martina oder so ähnlich, es musste eines jener Lieder sein, die sich durch das damals alltägliche Hören während des Mittagessenkochens und während des Mittagessens und während des Mittagsgeschirrabwaschens irgendwann in das kindliche und so noch leicht aufnahmefähige Gehirn eingegraben hatten und die nun hin und wieder als äußerst lästiger Ohrwurm hervorgespült wurden, genauso wie …Seemann, lass das träumen, denk nicht an zu Haus… und …tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück… und …weiße Rosen aus Athen, sagen Dir komm recht bald wieder… und …Ahahaha hahahahaha Ahahaha hahahahaha hahahahaha hahahahaha hahahaha hahahahaha wenn Du Dir sagst, alles ist vorbei… und wie sie alle gingen, es musste also einst auch ein …Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga… dabei gewesen sein. Zwar linderte diese sich langsam verfestigende Erkenntnis ein wenig sein Gehirnzermartern über diesen ewig wiederkehrenden Satz, nicht aber die Wut und die Ratlosigkeit darüber, was damit nun weiter anzufangen wäre. Ebenso langsam schärfer werdend tauchten nun vor seinen glasigen, verweinten Augen Lichter in der ansonsten eher finsteren Gasse auf, in die er sich offenbar gerade, ohne genau zu wissen, wo in diesem verschlafenen Ort er sich eigentlich herumtrieb, geschleppt hatte. Sich die an den eiskalt gewordenen Wangen beinahe festfrierenden Tränen am Jackenärmel abwischend erkannte er allmählich, wovor er da endlich zu stehen gekommen war, an den angelaufenen und fahl ins Dunkel leuchtenden Scheiben, an der alten hölzernen Eingangstür, am überdimensionierten Stoßgriff, immer noch die Initialen des schon vor langem und branchenüblich an Leberzirrhose verblichenen Inhabers tragend, an der immer noch kurzschlüssig vor sich hin irrlichternden Brauereileuchtreklame an der Hausecke, an der wie eh und je dumpf von irgendwoher ins Freie übertragenen Berieselungsmusik von drinnen, im nahezu unverständlichen Gesumme glaubte er …das kleine Beisl in unserer Straße, da wo das Leben noch lebenswert ist… zu verstehen, falls richtig gehört immerhin die heimische Fassung. Zweifelsohne war er an jenem Wirtshaus angelangt, das er noch als Ziel seiner anfangs verhassten und immer widerwillig angetretenen Kindheitsspaziergänge kannte, die sich dann doch noch positiv in seine Erinnerungen gerettet haben, und zwar dadurch, dass wenn man sich dem alten, muffigen, verrauchten und mit immer denselben Gestalten bestandenen Lokal näherte, allmählich die Belohnungs-Frucade und der Bensdorp-Riegel mit der verlockenden blauen Paperschleife in Aussicht gerieten. Ohne es eigentlich zu bemerken wischte er sich die laufende Nase in den anderen Ärmel, dachte sich, was soll´s, etwas gegen den Durst, etwas gegen die Kälte kann nicht schaden, es wird da drinnen schon nicht ausgerechnet …Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga… spielen, er fasste sich ein Herz und die hölzernen Buchstaben am Griff, stieß seufzend eine weiße Wolke Dampf in die Nachtluft hinaus und dann die Tür auf, um durch beides hindurch schließlich einzutreten…

An der immergleichen und mittlerweile schon sehr abgenutzten Schank angelangt, gesenkten Blicks in die Stellen abgewetzten Lackes an deren Oberfläche starrend und gerade noch, bevor er sich allmählich darin wie auch in der Hintergrundmusik zu verlieren drohte – es lief gerade …Du bist nicht allein, wenn Du träumst heute Abend… – fasste er den Beschluss, sich ein Bier und weitere Überlegungen zu …Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga… zuzumuten, alles möglichst ohne aufzublicken, um seine Erinnerungen an diesen Ort nicht vom heute noch schäbigeren Zustand zerstören zu lassen oder in eine gerade mehr als sonst etwas auf dieser Welt gefürchtete Konversation zu geraten. Ein unerwartet warmes „Was darf´s denn sein?“ von irgendwo hinter der Schank her ließ ihn kurz aufblicken, nur nicht zu lang in meinem Zustand, dachte er sich, meine rot verquollenen Augen gehen ja wohl keinen was an, also senkte er auch bald wieder den Blick und sagte leise „Ein Seidl“ mehr in eine Stelle abgewetzten Lackes hinein als hinter die Schank. Irgendetwas drehte sich in seiner Magengrube, irgendetwas ließ seine erfrorenen Wangen heiß werden, irgendetwas ließ seinen Pulsschlag überall spürbar schneller werden, irgendwoher kannte er dieses Gesicht, das so überhaupt nicht in diese Umgebung passte, das in nur zweieinhalb Sekunden all seine Trauer, Wut und Gedanken an …Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga… ohne viel Aufhebens beiseite schob. Ja ja ja ja, er wusste es allmählich wieder, Sie musste schon bei seinen wenigen letzten Besuchen vor ein paar Jahren hier gewesen sein, drang es langsam aus verschüttet geglaubten Erinnerungen hervor, sie war sein spätjugendliches Äquivalent zu Bensdorp und Frucade, war damals wie heute eine unbeschreiblich wärmende Erscheinung in diesem Raum voll blauer Nikotinschwaden und kaltem Kondenswasser an Biergläsern und auf Resopaltischplatten. Er war überrascht, sie so unverhofft und alles andere als vorhersehbar wiederzusehen, so ohne ein Wort, mit nur einem kurzen Blick sein Innerstes umkehrend und aufwühlend, wusste nicht so recht, was nun weiter zu tun wäre, wie er sich weiter zu verhalten habe, als langsam eine kleine Hand mit einem Krügel Bier und eine zweite mit einem großen Schnaps in sein Blickfeld schwebten und die Gläser sacht und leise auf die Stellen abgewetzten Lackes vor seinem Gesicht stellte. Vermutlich mit einem dummen Gesicht aufblickend schaute er in ihre Augen, sie wiederum legte den Kopf leicht schief und sagte, in seinen Ohren irgendwie verständnisvoll klingend: „Schaust aus, als könntest Du ein wenig mehr vertragen.“ Leicht nickend senkte er wieder den Blick, umklammerte mit beiden Händen beide Gläser und brachte immerhin ein zittriges „Hast recht“ über die Lippen, zwischen die er sogleich einen großen Schluck kühlen Biers aus der rechten und danach einen wärmenden Schluck brennenden Schnapses aus der linken Hand goss…

„Ich kenn´ Dich“, kam es noch während des Trinkvorganges für ihn unerwartet einerseits, inhaltlich ziemlich überraschend andererseits über die Schank, er senkte langsam die Hand mit dem Schnapsglas, hinter welcher wieder ihr Gesicht erschien, immer noch leicht geneigt, nun mit einem etwas rätselnden und neugierigen Ausdruck darin, „dürfte aber schon eine Zeit her sein“, ergänzte sie scheinbar wissend. „Oh“, sagte er und musste dabei lächeln, seit langem wieder einmal, „ich bin quasi seit meiner Kindheit Stammgast. Ich kam immer mit meinem Opa her, zuerst auf Schokolade und Kracherl, und dann später auf ein oder zwei Achtel Rot.“ Es wurde mit einem Mal wärmer und heller im Raum, denn nun musste auch sie lächeln und sagte dabei: „Ja ja ja ja, ich weiß allmählich wieder, ich kenn ihn recht gut! Er war oft hier und ich hab gern mit ihm geplaudert, so ein netter und humorvoller Mann, eine Seele von einem Menschen! “ „Ja, das war er“ entgegnete er schwer, umklammerte die Gläser etwas fester, senkte den Blick, spürte aber deutlich ihr Lächeln erlöschen ,ihren Blick erstarren und hörte nach einer langen, unangenehmen Pause ein kaum hörbar gehauchtes „Das tut mir leid“ aus ihrem Mund. „Ich konnte so viel von ihm lernen“, fuhr er unaufgefordert und gedankenverloren fort, „wir führten viele Gespräche, manche davon hier, an dieser Stelle beim Achtel Rot, über das Mensch und menschlich sein, über die Liebe, das Leben und die Sehnsucht danach“, er nahm wieder einen Schluck Bier aus der rechten und den zweiten, letzten Schluck Schnaps aus der linken Hand und ergänzte danach: „Ich wünsche, nein, ich hoffe, dass ich wenigstens ein klein wenig von ihm habe“. Er blickte auf, sie sah ihn nun eindringlich an und entgegnete leise, beinah flüsternd, mehr an sich selbst gerichtet und für ihn vielleicht auch gar nicht hörbar: „Das hoffe ich auch…“ Etwas stieg in ihm hoch, er fühlte etwas unbehaglich und wohltuend zugleich in sich wühlen, versuchte, schnell die Lage irgendwie zu deeskalieren, senkte den Blick, umklammerte mit der Rechten noch fester sein Bierglas, neben dem nun nach und nach Tränen auf die Stellen abgewetzten Lackes tropften und grummelte: „Aber ich will Dich damit nicht noch länger von der Arbeit abhalten.“ Sie trat näher an die Schank und erklärte über diese hinweg: „Meine Schicht ist um, Deine Getränke gehen aufs Haus, nichts und niemand wartet daheim auf mich, ich hab also fast alle Zeit der Welt…“

Er nahm einen Schluck Bier aus dem Glas in der rechten Hand und begann schließlich mit zitternder Stimme zu erzählen: „Mein letztes Gespräch mit ihm heute früh geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wir redeten noch über so vieles, ich fragte ihn noch so vieles, über die Liebe, das Leben und die Sehnsucht danach, irgendwann fragte ich, was genau Sehnsucht ist und er entgegnete – und dies sollten seine letzten Worte bleiben: Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga.“ Er wischte sich mit seiner freien Hand Tränen von den Augen, legte sie etwas fahrig und gleichgültig auf der Schank in einer kühlen Kondenswasserlache neben dem Glas ab und fuhr fort: „Es macht mich traurig und wütend, er war bis zuletzt bei klarem Verstand, bis ins hohe Alter so spitzbübisch ausgefuchst, so voll Witz und Humor, voll Weisheit und Wahrhaftigkeit, und dann sind seine letzten Worte …Sehnsucht heißt ein altes Lied der Taiga…, gehen mir Stunde um Stunde durch den Kopf und ergeben doch einfach keinen Sinn, scheinen einfach nur wirres Zeug zu sein.“ Er spürte auf einmal etwas Warmes auf jener leeren Hand, mit der er sich nicht gerade hilflos an seinem Bierglas festzuhalten versuchte, hob ein wenig den Blick und sah ihre kleine Hand auf seiner liegen, hob weiter den Blick und – unbemerkt war sie ihm über die Schank hinweg unvermutet nah gekommen – blickte direkt in ihre glänzenden Augen, so tief, dass er sich darin selbst anstarren sah. „Bei allem Respekt“ sagte Sie ihm leise und auf kürzeste Distanz mitten ins Gesicht, „das ist auch nur wirres Zeug.“ Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber sie näherte sich ihm noch weiter, beinah vermeinte er fühlen zu können, wie ihre Gesichter einander berührten, als sie ihm an seiner noch tränenfeuchten Wange vorbei ins Ohr flüsterte: „Besuch mich in einer Woche wieder, bis dahin weißt Du, was Sehnsucht ist!“ Sich langsam wieder von ihm entfernend und sich dabei umdrehend war sie offensichtlich im Begriff, den Schankraum durch die Hintertür zu verlassen. „Warte“ rief er ihr erstarrt gerade noch rechtzeitig hinterher, „wie heißt Du eigentlich?“ Sie wandte daraufhin nur kurz ihr Gesicht über die Schulter und lächelte. „Alexandra“ hallte es noch nach, als Sie bereits im Hinterzimmerdunkel verschwunden war. In ihm und um ihn begann sich alles zu drehen, das wie wild pochende Blut in seinen Ohren verschlang das gerade aus den Boxen plärrende …eine neue Liebe ist wie ein neues Leben nananananana… in einen rauschenden Strudel, in dem er wie aus Omas Küchenradio krächzend „…und das war Sehnsucht (das alte Lied der Taiga) von Alexandra, hier in der blaugelben Welle auf Radio Niederösterreich…“ zu hören vermeinte. Langsam verflog der Taumel, er fühlte sich bald wieder einigermaßen sicher an der Schank stehen und hörte allmählich wieder …nananananana, mir ist als ob ich durch dich neu geboren wär´, heute fängt ein neues Leben an… weiter durch das Wirtshaus schallen, leerte zügig sein Bierglas, stellte es ab und strich mit der flachen Hand die kleinen Lachen aus Kondenswasser und Tränen über die abgewetzte Kante. Er musste lächeln, nein, mehr noch, er begann allmählich gackernd zu kichern, wandte sich eilig um und schnellen Schrittes dem Ausgang zu, bevor jemand im Raum an seinem Verstand zu zweifeln beginnen würde. Er fasste den hölzernen Griff der Eingangstüre, stieß diese mit einem Ruck seines ganzen Körpers auf, um über sein ganzes erhitztes Gesicht grinsen müssend in die nun wohltuende februarnachtkalte, frische  Luft hinaus zu stürzen, und raunte dabei, nur für ihn selbst hörbar: „So ein altes Schlitzohr!“