Das alte Lied der Taiga – aus den Dienstreisetagebüchern des Michael Rufus D.

Michael Drucker

Ich konzentriere mich auf die Kugel, die ich versenken möchte und lasse anschließend meinen Blick über den grünen Filz zu dem anvisierten Loch weiterwandern. Es erscheint zuerst verschwommen, nur um sich einen Augenblick später zu verdoppeln. Die beiden Löcher beginnen sich zuerst langsam, aber dann immer schneller in einer Kreisbewegung um ein gemeinsames Zentrum zu drehen. Dort vermute ich die Position des wahren Loches. Unter angestrengtem Blinzeln ziele ich darauf und vollziehe den Stoß…
Nach drei Runden der russischen Variante des Billardspiels relativiert sich offensichtlich auch das Verhältnis von Licht zu Schallgeschwindigkeit, denn ich kann denn dumpfen Einschlag der Kugel hören, die - im Ziel angekommen - dort auf die anderen bereits versenkten trifft, bevor sich deren zurückgelegte Bahn ihren Weg über den Sehsinn in meine Wahrnehmung bahnt. Igor, auf dessen Mist die Idee zum heutigen Abend gewachsen ist, hält mir mein Glas hin und murmelt etwas Anerkennendes. Das „russische“ Billard unterscheidet sich von westlich geprägten Pool-Billard Varianten im Prinzip nur um die Tatsache, dass derjenige Spieler, der einen Treffer landet, umgehend mit einem Glas Wodka, das auch ebenso umgehend und in einem Zug zu leeren ist, belohnt wird. Zumindest in der klassischen Variante wird noch immer Wodka getrunken. Heute jedoch hat der Wodka ob des nunmehr vorhandenen, reichhaltigen Angebotes an anderen internationalen Drinks seinen Stellenwert als Gleichmacher verloren. Der Sinn der ganzen Aktion besteht ja nicht darin, zu gewinnen, sondern nur darin, möglichst gleich viele Punkte zu machen – und natürlich auch gleich viel zu trinken - wie alle anderen Mitspieler. Bessere Spieler trinken also mehr zu Beginn des Abends,  schlechtere am Ende. Ähnlich verhält es sich mit den Punkten. Und nicht zu vergessen: russisches Billard spielt man in Russland ausschließlich unter Freunden – guten Freunden eigentlich. Wenn du trinkst bist du ehrlich und ehrlich ist man hierzulande aus gutem Grund nur zu Freunden.

Nüchtern neigt der Großteil meiner russischen Bekannten oft dazu, alles was sie erlebt haben, besitzen, können oder wissen, sagen wir einmal „in ein besseres Licht zu stellen“. Das als Prahlerei zu bezeichnen wäre aber völlig falsch. Es geht eigentlich nur darum, die Freude über die bescheidenen Dinge, die man erreicht hat auch wirklich dementsprechend auszudrücken; ja, sich in Wirklichkeit, dadurch dass man Größeres ausspricht,  auch sich selbst mit Größerem zu beschenken. So wie z.B. Roman, der im Spiel nach mir an der Reihe ist. Er ist so Mitte Zwanzig, verdient den Großteil seines Geldes damit, Geschäftsleute vom Flughafen Domodedovo nach Moskau in die Stadt zu führen, hat aber einiges dabei zu erzählen:
Er war schon erfolgreicher Rallyefahrer, musste aber nach einem Unfall, bei dem sein Beifahrer ums Leben gekommen ist, seine Karriere beenden (Ja, er fährt wirklich wie ein Geisteskranker und ich kann mir gut vorstellen, dass seinen Fahrstil schon irgendeinmal irgendjemand nicht überlebt hat.)
Er hat einen Toyota mit 800 PS zu Hause, mit dem er für Geld des Nächtens illegale Straßenrennen in den Moskauer Randbezirken fährt. (Ich denke da hat er wohl den einzigen weltweit, außerdem habe ich von anderswo gehört, dass zur Zeit Rätselrallyes in der Umgebung von Moskau recht populär sein sollen...)
Er arbeitet in der Filmbranche als Produzent (!) für Dokumentarfilme, zuletzt war er monatelang in Kasachstan (stimmt, vor zwei Wochen war er einmal kurz weg...)
Er hat einige Jahre bei seiner Großmutter in Australien verbracht, daher kann er auch so gut Englisch. (Er fällt natürlich auf die „Sydney ist Australiens Hauptstadt“ Fangfrage herein und sein Englisch würde dort vermutlich nicht einmal an der Tankstelle ausreichen, um zwischen Benzin und Diesel zu unterscheiden...)
Diese und viele weitere Heldentaten füllen üblicherweise die zweistündige Autofahrt.
    
Beispielhaft für diese Art, ein wenig zu übertreiben, erscheinen mir auch die unsäglichen Hotels, die man oft in der russische Provinz finden kann, sogenannte Sowchuks (große Betonklötze im späten Sowjet-Barock), die den Reisenden mit Zimmern verwöhnen die mit künstlichem Stuck, der bereits wieder herabbröckelt und kunstvoll geschwungenen Plüschvorhängen mit Brandlöchern aus der Breschnew-Ära ausgestattet sind. Es ist nicht wichtig für die Leute hier, dass alles echt  und tatsächlich von edler Natur ist. Viel wichtiger ist zu zeigen, dass man weiß, was man oder wie man es gerne hätte. So leben diejenigen, die erzählen oder herzeigen, genauso wie diejenigen, die zuhören oder ansehen, in einer Art russischen Phantasie, die sich einem „Nicht-Russen“  im ersten Augenblick nicht erschließen wird. So wie meine ursprünglich von mir an den Tag gelegte mitteleuropäische noble Zurückhaltung und Bescheidenheit wohl sehr oft dazu geführt haben muss, nach dem gewohnheitsmäßigen Abzug von mehr als 50% Verpackung, für einen Vollidioten gehalten zu werden…

Nüchtern betrachtet gibt es aber auch genug andere Gründe zu schweigen, denn fast alle gehen hier auch dubiosen Nebenbeschäftigungen nach. Da ein normales Gehalt oft nicht einmal für die Miete reicht, geht es auch gar nicht anders. Jeder ist also mehr oder weniger mit korrupten Geschäften in Verbindung zu bringen. Die Korruption ist auch viel breiter angesiedelt und besser organisiert als zum Beispiel das Gemeinwesen. Allerdings gesteuert von den verschiedensten Mächten im Land und es kann sehr ungesund für den einzelnen kleinen Mann werden, wenn er „auffliegt“. Die Details dahinter werden sich einem „Nicht-Russen“ vermutlich nie erschließen.

Oft habe ich in Russland erlebt, dass wenn man sich kennenlernt, um zum Beispiel Geschäfte zu machen, dann lädt man den anderen zum Trinken ein. Lehnt dieser ab, so liegt die Vermutung nahe, dass er wohl etwas zu verbergen hat.

Daher trinkt man im Allgemeinen alleine oder eben unter guten Freunden.

Somit macht mich die Tatsache, heute Abend dabei sein zu dürfen, durchaus ein wenig stolz. Ich stelle also mein Glas ab um weiter zu spielen, wobei ich eine ungeschickte Bewegung mit der Rückseite meines Queues über dem Spieltisch mache und damit einige der Spielkugeln berühre, sodass ich für diese Runde raus bin.

Der Sessel, den ich ansteuere um mich zu setzen, verschwimmt vor meinen Augen, nur um sich gleich darauf wie vorhin das Loch am Billardtisch zu verdoppeln. Die beiden Sessel beginnen sich zu drehen. Leider jedoch bestätigt sich die Theorie, die mich vorher hat erfolgreich einlochen lassen, kein zweites Mal, denn als ich mich ins Zentrum der Drehbewegung setze, ist da gar nichts und ich lande unsanft und durch keinerlei Reaktion meinerseits gebremst, auf dem Rücken.

Das Spiel ist hiermit vorbei, Roman, der rasende Filmproduzent, Igor, der mir den letzten Wodka verabreicht hat, Sergej, mit dem ich möglicherweise verwandt* bin und Georgi, der Priester der immer trinkt, weil er vermutlich auch immer ehrlich ist (oder war es umgekehrt?), starren mich an als ob ich von einem anderen Stern käme...

Ich möchte dem Spott, der gleich folgen wird entgehen - Igor pflegt in solchen Fällen zum Beispiel Fragen á la „Spielt ihr in Österreich nie mehr als 2 Runden fertig?“ zu stellen.  Ich entsinne mich daher eines Themas, das mich ohnehin zwangsläufig beschäftigt und durchaus im Kontext mit meinen Russlandreisen stehen könnte.
Während ich mich also Halt suchend aufzurappeln versuche, stelle ich wie beiläufig die Frage: „Was versteht man hierzulande unter der Taiga?“
Im gleichen Moment ist mir klar – ich habe meinen nächsten Fauxpas begangen. Eine Frage über Russland, oder auch nur einen Teil davon, stellt man nicht an eine Runde Russen zugleich, da  erstens die Gefahr besteht, einen Russen vor anderen Russen durch nationales Unwissen (eine absolutes No-No in der russischen Gesellschaft) bloßzustellen, zweitens aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht alle etwas über das Thema wissen werden, was natürlich keiner zugeben darf und daher irgendetwas sagen wird, das er dann als zu einhundert Prozent richtig verteidigen wird, koste es was es wolle.
Die möglichen Ergebnisse sind also nur eisiges Schweigen oder hitziger Streit.

Leider merke ich bald, dass ich mit meiner Vorahnung Recht gehabt haben dürfte.

„Die Taiga? Na, ein riesiger Wald in Sibirien“ antwortet Igor bestimmt.

„Blödsinn! Wald?! In der Taiga gibt es vielleicht ab und zu einen Baum, aber sicher keinen Wald“, fährt Roman Igor an, „ich weiß das ganz genau, meine Babuschka wohnt sogar dort.“

„Wald oder Bäume beschreiben die Taiga nicht, es ist Russlands wichtigstes Bergbaugebiet und liefert Rohstoffe für die ganze Welt“ hält Sergej dagegen.

Für Georgi jedoch ist die Taiga so eine Art Straflager Gottes (die direkte Existenz einer Hölle wird im russisch orthodoxen Lager stark angezweifelt), bestehend aus Bergarbeiter- und Soldatenbaracken, den dazugehörigen Bordellen und Unmengen an gepanschtem Wodka, der Schlimmeres mit dir macht, als dich blind.

Ich habe den rettenden Sessel inzwischen erreicht. Die anderen sehen sich gegenseitig abschätzend an, schalten aber auf „Abwarten“, da keiner so richtig streiten will. Wie es aussieht bewegen wir uns auf die Variante „Schweigen“ zu.

Ich versuche, die Situation zu retten und ergreife wieder das Wort: “Wisst ihr, ich muss etwas schreiben über die Taiga, über die „Lieder“ der Taiga eigentlich. Und da ich ja überhaupt keine Ahnung habe, als Österreicher, also nie dort war, habe ich gehofft, wenigsten ein paar echte russische Impressionen zu dem Thema zu kriegen.“

„Schon OK“, bricht Igor das Schweigen, „ich weiß auch nicht mehr über die Taiga als jedes andere russische Schulkind gelernt hat. Der Teil von Sibirien, der nicht zu zwei Drittel des Jahres zugefroren ist. Trotzdem fast menschenleer, unberührte Natur und wunderschön.“

„Aber wenn man dort ist, wo die Menschen sind, dort kann man was erleben“, unterbricht ihn Roman. „Wie gesagt, meine Babuschka, meine Großmutter wohnt ein Stück nördlich von Krasnojarsk und noch ein paar weitschichtige Verwandte dazu. Eigentlich ein ödes Kaff. Keine Unterhaltung, ein Hotel für Touristen, die in die Gegend zum Jagen kommen. Alle rennen dort in veralteten Trainingsanzügen herum, im Winter versteckt unter dicken Pelzen. Alle bis auf einen! Andrej, mein Cousin, der hat so richtig Geld. Er ist viel unterwegs aber wenn er zu Hause ist, dann wird auch mächtig gefeiert. Ich habe das einmal miterleben dürfen. Er hat mich mit zur Jagd genommen. Nun denkt euch was er unter eine Jagd versteht. Er hat einen Panzer aus Armeebeständen hinter seinem Haus, einen T-72. Die Jagdgesellschaft bestand noch aus zwei seiner Omsker Freunde und deren Mädchen. Die waren von der übleren Sorte denke ich. Jedenfalls gab es auch noch Wodka und als Waffen natürlich Kalaschnikows an Bord. Wir fuhren also los, Andrej am Steuer, der Rest von uns auf dem Panzer sitzend. Bald waren die paar Häuser außer Sichtweite und wir schon vollkommen betrunken. Plötzlich wendete Andrej, weil er glaubte einen Hirsch gesehen zu haben, dabei fiel eines der Mädchen vom Panzer runter und geriet zu allem Übel auch noch in die Kette. Blut auf weißem Schnee und was für ein Geschrei!. Andrej brüllte den Kerl an, von dem ich dachte, er wäre ihr Freund: Er solle doch die Schlampe zum Schweigen bringen, oder besser gleich erschießen und hier eingraben. Und als der zögerte...“

„Bitte hör auf weiter zu erzählen“, fiel ihm Georgi, der Priester ins Wort „ich denke, du weißt nicht, womit dein Cousin Reich geworden ist? Ich vermutlich weiß es schon. Als junger Priester nämlich war ich in einer kleinen Mission in Mittelsibirien tätig. Für dich, Mischa, dort ist auch die Taiga! Wir kümmerten uns dort um kranke Arbeiter aus den Bergwerken und die kranken Mädchen aus den Bordellen. Unheilbar Kranke, obwohl die Syphilis heilbar wäre. Aber nicht, wenn man sie mit gestrecktem und verunreinigtem Penicillin versorgt. Dann werden die Bakterien-Stämme nämlich resistent. Und die Wenigen, die dort in dieser Gegend Geld hatten, waren im Mädchenhandel, in der Alkohol-Panscher-Branche und handelten mit diesen tödlichen und unwirksamen Medikamenten. Ich selbst habe, ohne es zu wissen, das Zeug von ihnen gekauft und es den Leuten verabreicht. Durch meine Hände haben sie das Gift bekommen, das sie vor ihrer Zeit vor den Herrn geschickt hat. Als ich es bemerkte, war es zu spät. Ich versuchte, die Schuldigen zur Strecke zu bringen, doch dort draußen gelten Gesetz und Recht noch viel weniger als überall anders in Russland…“

„… Du könntest es nie schaffen, dich gegen Gegebenheiten aufzulehnen, die älter sind als du“, schaltete sich nun auch Sergej ins Gespräch ein. „Du bist nicht viel jünger als ich, aber doch jünger. Ich weiß nicht, ob ihr wisst, dass ich meine Kindheit in Sibirien verbracht habe. Wir sind viel umgezogen dort, denn mein Vater war Ingenieur bei der Armee. Er war für die technische Einrichtung der getarnten Raketen-Abschussrampen zuständig. Er war oft tagelang weg; im Wald verschwunden; aber er sagte, er wäre gar nicht weit weg gewesen, denn sie errichten die Basen immer in der Nähe von Siedlungen. Warum hat er mir nicht mehr erklären können. Erst lag er lange krank, daheim bei uns. Oft hörte ich meine Eltern streiten und dann meine Mutter weinen. Dann irgendeinmal kam Sie zu mir, drückte mich und sagte, ich dürfe nicht mehr zu meinem Vater gehen, er wäre unheilbar krank und sehr ansteckend. Irgendwie kamen wir dann hierher nach Moskau. Und erst mehrere Jahre später erreichte uns die Nachricht, dass mein Vater nun endgültig gestorben sei. Dann erst erzählte mir meine Mutter die Wahrheit, wie er sie betrogen hatte, sich angesteckt hatte und der Rest deckt sich mit den Geschichten, die du, Georgi, Jahre später in Sibirien selbst erlebt hast. Und ich fürchte, dass - solange Russland so bleibt wie es heute ist – sich nichts daran ändern wird.“

Wir gehen dann bald und ohne viel weitere Worte nach Hause, der Russische Billard Abend ist zu Ende, der Rausch auch wieder ziemlich verzogen. Als ich also Richtung Hotel schlendere und noch eine Zigarette rauche, denke ich wieder an die Lieder der Taiga. Es müssen viele traurige Lieder dabei sein….