Der alte Ruf der Taiga

Stefan Wurst

Gewohnheitsmäßig pflege ich meine Beiträge zum Krachmann-Wettbewerb – ganz zu Recht – mit einer mehr oder weniger höflich ummäntelten Beschimpfung jener höheren Mächte einzuleiten, die für die Vorgabe des Themas verantwortlich sind. Dies kann heuer unterbleiben:

Dem interessanten, intellektuell anspruchsvollen und durch seine unübersehbaren gesellschaftspolitischen Bezüge reizvollen Thema verdankt sich nämlich eine sprachwissenschaftliche Entdeckung, die in ihrer Qualität den Stellenwert einer Sen-sation einnimmt!

Doch davon später.

Die Zuhörer und all die unzähligen künftigen Leser dieser Zeilen sollen ebenso ge-zwungen sein, sich in Geduld zu üben, wie ich selbst es in freiwilliger Selbstbe-schränkung war, - aus Rücksicht auf den Krachmann-Wettbewerb, dem diese Enthül-lung vorbehalten bleiben sollte. Die Versuchung war zwar groß, sofort nach meiner Entdeckung die Weltpresse und einige international führende Fernsehstationen zu einer Pressekonferenz zu laden, aber ich habe widerstanden, um dem Krachmann-Wettbewerb neben seiner ihm mittlerweile längst entgegen gebrachten Wertschät-zung als Leitgestirn am Himmel literarischer Veranstaltungen auch in wissenschaftli-cher Hinsicht das ihm zukommende Ansehen zu verschaffen und ihn aus der Trias mit seinen beiden direkten (und deutlich überschätzten) Konkurrenten Forum Alpbach und Nobelpreisverleihung hervorzuheben.

Aber davon, wie gesagt, später.

Vorher muss nämlich ein anderer Aspekt des Themas abgearbeitet werden, denn wohl niemand kann sich den zwingenden Assoziationen zu einem russischen Gelän-dewagen des Herstellers Lada entziehen, der die Typenbezeichnung „Taiga“ führt. Auch aus diesem Grund ist die heurige Themenstellung ganz besonders zu begrü-ßen. Ich selbst verfüge über eine persönliche Beziehung zu diesem Juwel der Auto-mobilbaukunst. Ich war achtzehn, mein Führerschein noch druckfrisch, als mir meine Eltern einen VW Käfer schenkten, der damals nur um wenige Wochen älter war als ich. Das an sich ja sehr robuste Fahrzeug war allerdings in einem etwas angegriffe-nen Zustand, da es nach seinen ersten 15 Jahren unter den liebevollen, aber auto-mobilistisch etwas fragwürdigen Händen meiner Mutter, die prinzipiell nur die ersten beiden der theoretisch vier verfügbaren Vorwärtsgänge zu benützen pflegte, rund drei Jahre lang als Jagdwagen meines Vaters dienen musste. Der Einsatz zu Trans-porten von erlegtem Wildpret und bei Treibjagden von mitunter nicht weniger als 10 Personen, diese teils auf der hinteren Stoßstange stehend, auch die Geländefahrten im Wald über Stock und Stein hatten dem 1200-er Sparkäfer (die Sparsamkeit er-streckte sich ausschließlich auf die Ausstattung, nicht auf den Benzinverbrauch) um seine ursprünglich makellose Erscheinung gebracht, sodass ich nach einem Jahr jugendlich-intensiver Nutzung bei meinem Vater vorstellig wurde und den Ersatz des mittlerweile über 19-jährigen Vehikels begehrte. Wie immer großzügig - verschenkte mein Vater daraufhin den VW-Käfer an seinen Förster und stellte mir eine Unterstüt-zung von bis zu 10.000,-- Schilling für den Ankauf eines neuen – allerdings in diesem Sinn dann nur für mich neuen – Fahrzeuges in Aussicht. Das an meinen Vater ge-richtete Ersuchen um budgetäre Aufstockung war durch meinen damit verbundenen Hinweis auf seine jeweils fabrikneuen Achtzylindermodelle der Marke Mercedes nicht geschickt vorgebracht, enthielt die Antwort meines Vaters – „ich kann mir das ja auch leisten!“ – die eindeutige, aber auch den Tatsachen entsprechende Konnotation, dass eben dies bei mir nicht der Fall war.

Meine Bemühungen, ein meinen Bedürfnissen adäquates Automobil zu finden, führ-ten mich geradewegs zum nächstgelegenen Mercedes-Vetreter.

Ich wurde nicht fündig.

Man empfahl mir (recht höflich, da mein Vater dort Stammkunde war), einen Ge-brauchtwagenhändler, der seine Geschäftsräumlichkeiten nicht direkt an der Ring-straße, sondern in den sehr weit stadtauswärts gelegenen Bereichen der Linzer Straße unterhielt, eigentlich mehr schon in der Nähe von Tulln, angeblich aber noch im Stadtgebiet von Wien. Die Geschäftsräumlichkeiten erwiesen sich dann allerdings als nicht weiter befestigte Rasenfläche samt schräg stehendem Wohnwagen als Bü-ro.  Die beiden kräftigen, reichlich tätowierten Gestalten im Wohnwagenbüro schreckten mich keineswegs ab.

Mein Budget, das ich vorsorglich durch von meiner Mutter zusätzlich erschnorrte 2.000,-- Schilling und durch meine gesamten Ersparnisse in Höhe von etwa 80,-- Schilling inzwischen auf 12.080,00 Schilling aufgefettet hatte, ermöglichte mir das eingehende Gustieren beim bewussten Gebrauchtwagenhändler, der auf die weniger betuchte Klientel spezialisiert zu sein schien.

Ich fand einen Simca 1100 undefinierbarer Farbe und ebensolchen Alters, die zuge-hörigen Papiere waren unauffindbar, und einen relativ wenig gebrauchten Lada Tai-ga. Letzterer erwies sich ebenfalls als farblich schwer einzuordnen, irgend etwas zwischen zahnbelagsbeige und Ohrenschmalz, war aber formschön und mit dem Nimbus einer real-sozialistischen Ausstrahlung von beträchtlicher Intensität geseg-net. Das Auto schrie quasi: „Stopfenreuther Au!“, obwohl es bis zu deren Besetzung dann  noch ein paar Jahre dauerte. Außerdem vermittelte ein Geländewagen damals – weit mehr als heute, wo praktisch jede zweite Hausfrau ihre Kinder vom ersten in den dritten Bezirk mit einem Porsche Cayenne zur Schule fährt, das Air von Wild- und Freiheit. Ich war mit einem technisch kundigen Freund zur Besichtigung erschie-nen, der mich auf einige kleine Details, wie diverse Durchrostungen und angebliche Schweißstellen hinwies. Ich wunderte mich damals, dass Autos schwitzen.

Weiters war die Heckklappe ein wenig schräg eingepasst, was aber bei Nacht und ohne Beleuchtung nicht aufgefallen wäre. Eine zeitraubende Probefahrt konnte zum Glück entfallen, da „mein Taiga“, wie ich ihn in Gedanken schon liebevoll nannte, nicht ansprang.  Zum Kauf bereits wild entschlossen nötigte ich meinen Vater durch fortwährendes Betteln zu einem gemeinsamen Besuch dieses Händlers, insbesonde-re da der unterste Preis, zu dem sich der arme Dealer herablassen wollte, bei 15.000,-- Schilling lag, was ja bekanntlich meine budgetären Möglichkeiten überstie-gen hätte. Vermutlich benötigte der Autohändler das Geld für den Ankauf von Fusel, nach dem er so intensiv roch. Als ich mit meinem Vater am nächsten Tag dort er-schien, war mein Taiga weg. Ich befürchtete das Schlimmste und unterstellte dem Händler rundweg, das Auto an irgendeine wildfremde Person verkauft zu haben. Der Händler wies diese Unterstellung entschieden zurück und behauptete, dass der Wa-gen über Nacht vom Platz gestohlen worden sei. Mein Vater und ich fuhren unver-richteter Dinge nach Hause; ich war enttäuscht, traurig, gebrochen; meine Freude war daher umso größer, als anderntags der Händler anrief und uns mittelte, dass das Auto nun wieder zur Verfügung stehe. Meine Nachfrage ergab, dass der Wagen von den Dieben offenbar zurückgebracht worden war. Im Lichte meiner erst später er-worbenen Erkenntnisse über russische Autos kann ich aber nicht ausschließen, dass der Händler meinen Taiga sehr wohl verkauft, der Erwerber ihn aber am nächsten Tag wütend retourniert hatte.

Weniger mir als meinem Vater, dessen Meinung ich als Finanzier des geplanten Un-ternehmens nicht völlig unbeachtet lassen durfte, fiel auf, dass gestohlene Autos in der Regel nicht – und schon gar nicht schon am nächsten Tag – wieder zurückge-bracht werden.

Mein praktischer Papa überredete meine Mutter, mir ihren damals fünf oder sechs Jahre alten VW Golf Diesel zu schenken und sich selbst ein neues Auto zu kaufen.

Später dann war ich gar nicht mehr so unglücklich über den unterbliebenen Taiga-Ankauf, da mein Diesel-Golf problemlos funktionierte, während eine an sich recht ruhige, aus sehr guter Familie stammende, wohlerzogene und Verbalinjurien ansons-ten strikt abgeneigte Studienkollegin, die den Lada Taiga Jagdwagen ihres Vaters geschenkt bekommen hatte, immer wenn die Rede auf ihr Auto kam, zu schimpfen begann wie das sprichwörtliche Marktweib.

Einige Zeit danach fand ich es dann aber doch wieder traurig, die Segnungen der russischen Automobilindustrie nicht persönlich durch ein eigenes Fahrzeug kennen gelernt zu haben, als nämlich mein Ausbildungsrichter im Grauen Haus, zu jenen Zeiten bekannt als strenger, aufrechter Konservativer, begeistert von der Robustheit und den mannigfachen sonstigen Vorzügen seines Wolga, Modell GAZ 24, Design und Technik 1960er Jahre, damals klassisches russisches Bonzenauto, schwärmte und mich mit den nachgerade lächerlich geringen Ersatzteilpreisen demütigte, die er anhand einer vollständigen Preisliste dokumentierte, die er übrigens in Zloty, in Fo-rint, in tschechoslowakischen Kronen sowie in Ostmark und in Rubel vorliegen hatte. Mein nach seinen begeisterten Schilderungen vermutlich etwas dümmlicher Blick veranlasste ihn zu der lässig hingeworfenen Erklärung: „Im Ostblock krieg ich jeden Ersatzteil!“ Die in seinem Auftrag von mir hergestellte Umrechnung in Schilling-Preise – „aber nicht in der Dienstzeit, Kollege!“ - , zweifellos völlig überflüssig, da er ohnehin alle Preise auswendig wusste und die betreffenden Währungen ja nur beschränkt verfügbar waren, diente ausschließlich dem Zweck meiner Erniedrigung zum auto-mobilen Volltrottel, der für einen Rückspiegel rund sechs Mal so viel zu zahlen hätte wie er.

Ein gerichtlicher Lokalaugenschein im nördlichen Niederösterreich brachte die er-sehnte Wende: Wir reisten im Wolga meines damaligen Chefs an, meine erste Dienstreise, - und es war ein aus mehreren Gründen unvergessliches Erlebnis, eine Zeitreise in die 60er Jahre, allerdings nicht in jenen Teil der 60er Jahre, an die man sich gern erinnert. Das Auto war übrigens etwa Baujahr 1980, also damals noch kei-ne 5 Jahre alt. Die Dreigang-Schaltung rastete beim Gangwechsel geräuschvoll ein, die Fahrleistungen auf der Landstraße waren in jeder Hinsicht überraschend: Immer wieder gelang es, kurzfristig 100 km/h zu erreichen. Ein Gespräch war bei diesen Geschwindigkeiten freilich nicht möglich, da sich zum Einen auf Grund der vom Wolga erzeugten Geräuschkulisse nur angestrengtes Gebrüll als Kommunikations-mittel angeboten hätte und zum Anderen auch angesichts der Straßenlage und des Fahrwerks des Wolga das ganze fahrtechnische Geschick und höchste Konzentrati-on meines Chefs gefragt war, nicht nur in den Kurven, auch auf den Geraden. Die Schwingungen des Wolga legten den Verdacht nahe, dass der Wagen die Straße sehr gerne verlassen würde, außerdem mussten wir – dies allerdings nur ein einzi-ges Mal auf der Hinreise, auf der Rückreise dann nicht mehr – am Straßenrand an-halten, um mir die Möglichkeit zu eröffnen, mich von meinem Frühstück auf einem dafür an sich nicht vorgesehenen Weg zu trennen. Selbstverständlich unterließ ich es angesichts des etwas autoritären und Furcht einflößenden Naturells meines Chefs, irgendwelche Bezüge zwischen meiner Unpässlichkeit und dem Federungs-komfort seines Wolga herzustellen. Da der Wagen rund 25-30 Liter Benzin auf 100 Kilometer zu konsumieren pflegte und der Tank recht klein war, konnten wir je eine Tankpause auf der Hin- und auf der Rückreise genießen.
Erst als ganz zum Ende meiner Zuteilung zu diesem Richter meine Dienstbeschrei-bung schon zur Weiterleitung an das Präsidium fertig vorlag, wagte ich die Bemer-kung, dass sich die günstigen Ersatzteilpreise angesichts des Treibstoffverbrauchs ja etwas relativierten. Mein Chef konterte souverän: „Dafür fährt er aber mit jedem Treibstoff, da kann ich Kerosin oder Terpentin, wahrscheinlich auch russischen Wod-ka (haha!) einfüllen - sehr wichtig bei meinen Reisen in den Ostblock, wo die Benzin-qualität oft so schlecht ist!“ Meine Replik: „Die Kist´n mechat ich net amal g´schenkt ham, a wann´s mit Brunze fahrat!“ unterblieb auf Grund meines karrierebewusst-kriecherischen Naturells.

Das Wort „Taiga“ findet schon aktuell in mehreren Bedeutungen Anwendung, die so unterschiedliche Dinge wie die eurasischen Gebiete des borealen Nadelwalds, das Pseudonym des US-amerikanischen Musikers Bryant Clifford Meyer, eine russische Stadt, das Album der japanischen Rockband OOIOO (was für ein Name!), einen See in Alaska, einen deutschen Spielfilm und einen deutschen Dokumentarfilm umfassen.

Das war gestern.

Meinen intensiven Forschungen ist es zu verdanken, dass nunmehr eine weitere Be-deutung des Wortes „Taiga“ verfügbar ist: Schon bisher war das jiddische Zeitwort „taigazn“, (auch: „daigazzn“, „taigazzn“ sowie „taigazen“) weithin bekannt und wurde nicht unhäufig zur Bezeichnung der spezifisch jiddischen Art, sich verbal auszutau-schen, verwendet. Der Wortstamm „taiga“ wird aber durch seinen bisher in diesem Sinne ausschließlich zeitwortlichen Gebrauch in seiner Natur verkürzt, ja nachgerade geschändet, was wir als politisch nicht korrekt, krass benachteiligend gegenüber an-deren vergleichbaren Worten und somit als gleichheitswidrig sowie eine fortgesetzte Grundrechtsverletzung empfinden.

Nach Jahrtausenden verstockter Taubheit gegenüber dem schon viel zu alten, ver-zweifelten Ruf dieses unterdrückten Wortes findet dessen Hilfeschrei nun endlich Gehör.

Als Ergebnis meiner Forschungen lege ich nunmehr das neue Hauptwort

Tai|ga, die, (jidd.) (Unterhaltung, Beisammensein, Diskussion)

vor und begehre dessen unverzügliche Aufnahme in den Duden. Da „Taiga“ in dieser Bedeutung gegenüber seinen Synonymen „Unterhaltung“, „Beisammensein“ und „Diskussion“ den unbestreitbaren Vorteil der Kürze – und damit auch der in Krisen-zeiten besonders sympathischen Sparsamkeit – besitzt, ist von umgehender und flä-chendeckender Verbreitung zumindest im deutschen Sprachraum auszugehen.