Kreisverkehr

Bernhard Schausberger

Woher kommst Du? Wohin gehst Du?

Señor, señor, can you tell me where we‘re headin‘? Lincoln County Road or Armageddon? Seems like I been down this road before. Is there any truth in that, señor?1

Von Hand gepackt und auf Schiene gesetzt und wie von einer fremden Hand gesteuert geht es los. Ein Alptraum für den Einen, ein Traum für den Anderen. Sich zurücklehnen und losfahren oder losgefahren werden. Der Motor heult auf, seine Kraft drückt Dich nieder, der Fahrtwind donnert los: das war’s: diese ersten Sekunden! Zu spüren, daß unter dem Arsch die Mechanik in wahnwitzigem Tempo loskreischt und die Karre abgeht. Der Motor in rasender Rotation, Kupfer-Magnet-Kupfer,  Achse in Lager, Drehung um 360 Grad, 15.000 mal pro Minute, Zahnrad auf Zahnrad, Achse auf Reifen, Reifen auf Bahn.

RPM – Revolutions per Minute – Aleph kicherte in sich rein: alles eine Maßstabsfrage – wie weit mußte man von diesem Planeten wegtreten, damit auf der Erde auch nur 3 RPMs erreicht würden? Und Revolutionen macht, wer die Hand am Drücker hat.

Und die Throttle lag in seiner Hand. Da vor ihm – da war ihm ein echtes Meisterwerk gelungen: optisch wie technisch. Out of the box war das Teil hübsch gewesen, aber auch nur auf den ersten Blick. Lackierter Schrott sozusagen. Start der Veredelung:  MRRC-Cobra-Chassis, Magnet weg, Umbau auf Frontmotor-Setup. Er lauschte mit leisem Verzücken dem Kreischen des Motors – das Ding war höchst fahrbar und delikat in der Handhabung. Mit leiser Verzückung ließ er die wichtigsten Stationen der Entwicklung Revue passieren.  Zuerst kam die Box gesendet aus England – kleines Weihnachten zwischendurch. Dann das Teil vor ihm. Und damit sprang sein innerer Spürhund an: die Dinge erfassen, taxieren, klassifizieren – eine Liste mit den notwendigen Teilen erstellen,  Internetforen abgrasen, Rezensionen lesen, Teile sammeln. Unzählige Mails nach UK, Deutschland und Spanien – Kurzbotschaften voller kryptische Kürzel mit verwandten Seelen austauschen. Die Karosserie während dem Nachtdienst in der Mikrowelle Im Hotel sacht zurecht biegen. Und wieder lesen, Wissen um die Fahrzeughistorie aufbauen, die Farbe entscheiden. In weiteren Nächten daheim stundenlanges Einlaufen des stärkeren Motors, der bis 21.000 RPM raufdreht. Ein Hauch Öl, der unverwechselbare Geruch von Maschinen, Öl und Lack.

Auf der Piste umgaben Joe bewegte Bilder als Schrittmacher, ein Wechselspiel zwischen voller Konzentration und immer neuen Gedankenketten …. Der Turm der Zeitmessung sprang ins Blickfeld. Im linken unteren Rand der Windschutzscheibe sah er den Streckenposten am Straßenrand: ein baumlanger Kerl mit weißem Rauschebart und einer völlig abgefahrenen, leuchtenden Mütze. Keine Signale von ihm, o.k. also – auf in die nächste Runde. Das war so ein Moment der echten Unsicherheit für Joe – wie viele Runden würden es werden? – wie oft würde er den Streckenposten zu Gesicht bekommen? Einfach so wenig beeinflußen zu können. Der da, neben ihm, in dem Fiat 850, der sich just jetzt vorbeiquetschen wollte – wieviele Runden hatte der vor sich? Wow – vor seinen Augen verließ der Fiat die Bahn und donnerte in eine weiße Wand. Der Kerl hatte Glück gehabt – ein Außenspiegel und der Front-Spoiler weg, sonst leidlich unbeschädigt. ..  Gleich daneben stand ein gläserner, rauchender Schlot – irgendetwas glimmte darin – wenn er denselbigen  frontal erwischt hätte – dann wohl Wochen in der Box  … Überhaupt fuhren sie heute wieder mal durch eine postapokalyptische Szenerie:  Aluschrotthaufen, riesige umgestürzte Tanks mit chemischen Inhalten,  Türme aus Papier und Textilien, die Lichtverhältnisse elendiglich, immer wieder die Nebelschwaden….. Da war ihm die Sommersaison  lieber – durch Grassteppen pfeifen, bisschen im abendlichen oder morgendlichen Tau driften, andere, dichtgepackte Gerüche, die durchs Fenster strömten.

Der Blick auf die Gefährte, die mit hysterisch kreischenden Motoren um die Wette im Kreis fuhren hatte etwas Beruhigendes für Aleph. Aufsetzen, Hand auf den Drücker und das fährt – klare Ursache-Wirkung, eine Therapie in einer wirren Welt. Brachte die Gedanken in Bewegung, den unermüdlichen Fluß der Gedanken und Bilder, der mit den Jahren an Volumen gewann. Auffällig war, dass die Gedanken immer weiter zurück und immer kürzer nach vorn huschten. So als zögerten sie oder es lag dem ein schlichtes Gesetz zu Grunde: ein Drittel bis die Hälfte der Lebenszeit verbraucht, d.h. wohl auch etwas kleinere  Schritte machen.  Und doch, nach wie vor das fast kindliche Staunen über eine kleine und doch so große Welt. Das Staunen über das Panoptikum an Menschen und ihrem Treiben in langen Tagen und Nächten im Hotel. Der Gast: die einen waren mittlerweile mit mechanischen Türklinken überfordert; Vater und Sohn mit der Anfrage nach einem Einbettzimmer, da das väterliche Rückenleiden die Benutzung eines Bettes ohnehin untersagte, die Frage nach Nächten zum inoffiziellen Stundentarif und manchmal der Umkehrfall: die Stunde zum Nachttarif, was in Spitzenzeiten eine Mehrfachvermietung des Zimmers erlaubte ….  Das Abtauchen aus dem Irrsinn des Alltages war absolut erforderlich:  das Eintauchen in einen geordneten, selbstgeschaffenen Mikrokosmos. Manchmal nützte es ihm jetzt auch, eines der kleinen Fahrzeuge zu berühren oder länger in der Hand zu halten. Je gediegener, umso stärker die Ausstrahlung. Solche, die bereits im Renneinsatz waren, hatten außerdem Dynamik als innere Energie gespeichert, die von sensiblen Naturen gespürt werden konnte. Der Anblick und die Berührung der Fahrzeuge startete  Assoziationsketten, die ihn im Nu zurück in die Sonntage der Kindheit brachten. Die Treffen beim großmütterlichen Schrebergarten im Prater, das Waschen des väterlichen Autos – beseelte Gegenstände in einer beseelten Welt. Gelegentlich in diese Welt einzutauchen, um dem ganzen Wahnsinn zu entkommen, war ja in den letzten Jahren seine Überlebensstrategie geworden.

Joe fegte durch die Dreierkurve, das Heck brach aus, der Wagen wurde souverän gefangen und schon quetschte er sich an einem Austin Healey vorbei. Uff – die Gerade, Bruchteile von Zeit, um abzuschweifen.  Wie ist es, wenn einfach eine Blondine neben Dich ins Auto gesetzt wird? So eines Tages, ohne viel Vorwarnung: Du bist mit Deinem Gefährt beim Routinecheck und als eine Maßnahme der Werkstatt landet am Beifahrersitz eine Blondine. Kathy war echt o.k. – eine Maßanfertigung quasi – zwischen Sie und Ihn paßte gerade mal ein Zigarettenblättchen. Und sie teilte sein Schicksal Runde um Runde: das machte das beim Gasgeben und Lenken kaum fühlbare Mehrgewicht und die höhere Achsbelastung durchaus wett. Sein Blick irrte kurz auf ihr Profil – woher kam sie eigentlich? Sein eigenes Werden war ihm unklar – gleichsam in die Welt gegossen worden zu sein, machte manches einfach: keine Familiengeschichten mit Erbstreitigkeiten, keine dubiosen Ahnenreihen, keine frühkindlichen Schreckerlebnisse. Aber das Woher blieb insgesamt unklar und vage, mit einem Hauch düsterer Ungewissheit.  Wer wußte etwas von diesen Dingen? Wenn es schon für ihn so unklar war, wie sollte er Kathy überhaupt fragen? Ihm gab man damals kurze Zeit sich zu fassen und schon saß er in diesem Auto. Seither war die Zeit eine Abfolge von Standzeiten, Transporten, Rennzeiten und Ruhezeiten. Rennen am Tag, nächtliche Wertungsfahrten, andere Wagen vor dem Kühler, andere Wagen an der hinteren Stoßstange. Gab es andere Lebensformen? Was war eigentlich Kathy wichtig: Seine Rundenzeiten? Der Wagen? Die Gemeinsamkeit?

Yeah, keep your eyes on the road, your hands upon the wheel,
Well, I woke up this morning, and I got myself a beer
The future‘s uncertain, and the end is always near2

Aleph drehte sich eine Zigarette. Gedanken sind manchmal schwer und zäh wie lehmiger Matsch manchmal leicht und tänzerisch wie Rauch. Letztere klar bevorzugt: sie stiegen auf und verloren sich im Nichts. Ein Genuß sich zur Vielfalt von Geographie und Geschichte den müßigen und doch so schönen Fragen zum menschlichen Tun und Sein hinzugeben. Fragen waren ein Weg – eine schöne Frage war wohl so etwas wie eine Brieftaube: Botschaft und Metabotschaft zugleich. Oder wie die Facette eines Kristalls, die auf Reflexion wartet:

•    Wußtest Du, dass die Kommunisten einen Eisenbahntunnel von Český Krumlov nach Koper geplant hatten?
•    Wußtest Du, daß 80% aller europäischen Holzkochlöffel von Paluzzen hergestellt werden?

Diese Fragen konnte man zu Bildern machen, Folgefragen finden und in Ausnahmefällen sogar mit anderen teilen oder mitteilen. Und das Beste: diese Fragen verlangten keine Antwort.

Er dachte an seine Reisen: kleine und größere Fluchten, Wege den Bildspeicher im Kopf zu füllen. Erinnerungen an einen Herbstabend  bei einem StopOver auf der Bernsteinstraße in einer kleinen, häßlichen Stadt. Plattenbausiedlung. Der Abend so, dass die Kälte Zigarette und Kaffee am Würstelstand gerade noch zuließ – aber eher schon für die Hartgesottenen.  Der Blick auf die Reihen heller und dunkler Fenster im Hintergrund – das eine gelb erleuchtet, das andere blau, wieder eines finster – ohne erkennbares System. Für das Auge die erleuchteten Fenster so nah beieinander wie Sterne, dem Wissen folgend aber doch die Bewohner durch Lichtjahre voneinander getrennt.  Er dachte an die Menschen hinter den blau erleuchteten Fenstern, folgte dem Rauch seines Atems. Wobei er ja die einsamen Nächte, wo man wenigstens in Ruhe auf einen Fernsehkrimi reinkippen konnte, auch mochte. Man konnte sich wie in einem kleinen Raumschiff fühlen, den bewegten Bildern folgen, Musik denken oder hören und nebenbei Rennmaterial präparieren und reparieren. So las sich das dann im Tagebuch: um 4 Uhr morgen Chassis vom BASTOS-Manta  getauscht, dabei einen Motorlagerschaden entdeckt und behoben. Kein Menschenkontakt ….

Joe hatte sich wieder gefangen. Hatte Kathy eine Idee vom heutigen Kurs? Offenbar ja – ihre Körperhaltung warnte ihn – ja, da war er wieder: der dicke, süßlich riechende grüne Nebel auf der Bahn.  Eine Prise zog durchs offene Fenster – joho, jetzt klebte die Karre wie auf Schienen und trotz unveränderter Geschwindigkeit fühlte er sich wie bei einer Vollbremsung. Kathy schien es ähnlich zu ergehen. Sie heizten durch eine Kurve, schrammten knapp an einem Blechturm mit schillernder Aufschrift vorbei und weiter in die Gerade – da war das zerknüllte Plakat mit Krach… und dem seltsamen Code EGA 83 12-10-2013 und sie zogen in die nächste Kurve, vorbei an der gemotzten Corvette. Sie lagen vor dem Feld, wieder mal ganz vorne.

Aleph dachte nach wie es wohl wäre, in so einem Gefährt zu sitzen und um die Bahn gefegt zu werden. Seine Hand machte mechanisch die Bewegungen: full throttle, nachlassen, drei bis vier Millimeter runter, wieder nachlassen, fast unmerkliche Bewegungen mit dem Finger. Wäre die Rennbahn vor ihm dann die normale Welt? Würde er wissen, dass ein anderes Wesen die komplette Steuerung in der Hand hat? Würde er ahnen, dass dieses andere Wesen sich oft von Gedanken, Pizza und Kaffee ernährte, manchmal Zahn- oder Kopfschmerzen hatte? Oder fuhren die zwei bereits im Nirwana? Im Zustand der Glückseligkeit? Das war die emotionale Seite der Sache. Die wissenschaftlichen Theorien zu Slotcars waren erst in einem Frühstadium:  zur Vorstellung, man wäre so klein, daß man in einem Slotcar Platz nehmen könnte um ein paar Runden zu drehen gab es einen neuen, interessanten Gedankengang, vielleicht den Kern einer revolutionären Theorie. Entgegen der ursprünglichen Annahme, man würde sich dabei vermutlich von oben bis unten anscheißen, da umgerechnete Geschwindigkeiten von bis zu 600-700km/h und mehr erreicht werden, hatte ein Slotonom folgendes gemeint: wenn man 32x kleiner ist, dann ist auch das Gehirn 32x kleiner und somit sind auch die Distanzen zwischen den Synapsen kürzer und daher die Reizleitung 32x schneller – man denke an Insekten – dann wäre eine solche Fahrt wahrscheinlich doch nicht so arg.....

Joe merkte, daß die Geschwindigkeit nachließ: das passierte  – oft unter Siegesgetöse, Gegröle, Gläserklirren und Hupentönen, machmal still und leise wegen des Nebels auf der Piste, wegen Pannen oder aus Ursachen, die ihm verborgen blieben.  Der Wagen wurde gehoben und verweilte in der Luft – Stille. Unten, da sah er die schwarze Rundstrecke mit den silbernen Schienen in der Mitte. Jede Menge Wagen standen dort herum. Er sah den Turm der Zeitmessung und den Streckenposten.  Alles stand still. Das war also seine Welt. Könnte der doch Kathy etwas näher sein, sich zu ihr wenden und ihr etwas Nettes sagen …. War ja doch eine gute Fahrt gewesen.

Aleph hob den Wagen aus der Schiene und blickte gedankenverloren durch die winzigen Seitenfenster. Er sah Joe und Kathy nebeneinander. Sie blickten unverwandt durch die Frontscheibe, hinunter auf die Rennstrecke. Klassischer Rundkurs – Monte Carlo im Maßstab 1:32. Aufgebaut zwischen Flaschen, abgelegten Socken, Dosen, zerknüllten Zetteln und dem Aschenbecher. Feines Auto, feines Pärchen die beiden – wäre eine Sache mit so einer Frau durch den Kurs von Monte Carlo zu donnern.

Oh shit – heute wäre ja Krachmann gewesen – glatt übersehen. Naja, im nächsten Jahr. Jetzt erst mal pennen ……

1    Willie Nelson: Cover Version des Songs Señor
2    The Doors: Roadhouse Blues