Ein Kreisverkehr in Dallas

Christian Sova

Mein Vater war an diesem Tag irgendwo mitten auf dem Atlantischen Ozean, wahrscheinlich auf einer seiner zahlreichen Fahrten von Rotterdam über Southampton nach New York und retour. Er hat immer erzählt, dass damals niemand zum Dinner erschien und die Stille an Bord beklemmend war. Die mehr als Tausend Iren, die bei einem Zwischenstopp in Cork das Kreuzfahrtschiff bestiegen hatten, saßen weinend in ihren Kabinen oder betranken sich sinnlos an einer der Bars. An diesem Abend allerdings ohne ihre typischen Gesänge, sondern still, verzweifelt und traurig.

Meine Mutter genoss ihr Studentenleben in Paris gerade in vollen Zügen. Es ist komisch daran zu denken, was die eigene Mutter in ihrer wilden Zeit so alles gemacht hat, aber es ist noch seltsamer zu wissen, dass dieses Treiben mit einem Mal abrupt zum Stillstand kam. Einfach so habe plötzlich alles aufgehört, hat sie uns erzählt. Als Kind hat mich diese Tatsache immer besonders fasziniert und ich freute mich darauf, wenn sie in ihren Ausführungen an diesem Punkt angelangt war.

Die Geburt meines älteren Bruders lag noch fast fünf Jahre in der Zukunft, meine eigene sollte erst sieben Jahre später jenes dritte Ereignis sein, das das Leben meiner Eltern entscheidend geprägt hat. Doch das erste Mal geriet ihre Welt am 22. November 1963 aus den Fugen – und das bestätigen beide auch noch heute einstimmig, sogar nach ihrer Scheidung vor ein paar Jahren.

2013 jährt sich die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy, eines Katholiken mit irischen Wurzeln, auf der Dealey Plaza in Dallas zum fünfzigsten Mal. Um diesen denkwürdigen Tag in der neueren Geschichte der Vereinigten Staaten ranken sich bis heute zahlreiche Gerüchte und Verschwörungstheorien. Damit nicht genug, auch die Attentate auf Malcolm X im Jahr 1965 und Martin Luther King und Robert Francis Kennedy, den Bruder des Präsidenten, im Jahr 1968 haben eine Epoche geprägt, deren Einfluss auf unser heutiges Dasein aus meiner Sicht viel zu wenig thematisiert wird.

Mich faszinieren die Geschichten und Ereignisse dieser Jahre und dank Youtube und anderer Kanäle tauchen auch heute noch immer wieder neue Details auf und geben Anlass zu Spekulationen. Allerdings bin ich viel zu spät geboren, um ein Anhänger der Kennedys oder ihrer Politik zu sein. Zugegeben, ich höre sehr gerne die Musik von damals und mag die Filme aus dieser Zeit, aber deswegen sympathisiere ich noch lange nicht mit den politischen Akteuren oder ihren Ansichten. Im Nachhinein und aus großer Distanz betrachtet, klang allerdings vieles, was John F. Kennedy und sein Bruder Robert vorhatten, vernünftig. Auch kann man erahnen, welchen Hype diese kernigen Sonnyboys in den USA und in anderen Ländern ausgelöst haben. Man kennt ja auch die österreichischen Verhältnisse – von JFK und RFK zu KHG ist es aber dann doch ein weiter Weg.

Wer schon einmal in Texas war und die Downtown von Dallas besucht hat, kann dort trotz des Verkehrslärms und der Hochhäuser in unmittelbarer Umgebung noch immer jene geschichtsträchtige Atmosphäre spüren, die die amerikanische Politik nachhaltig verändert hat. In jenem Schulbuchgebäude, aus dessen Eckfenster im sechsten Stock der vermeintliche Attentäter Lee Harvey Oswald die drei tödlichen Schüsse auf Präsident Kennedy abgegeben haben soll, befindet sich heute ein staatliches Museum, in dem die Ereignisse von damals professionell abgehandelt werden. Am Ende der Museums-Tour wird der Besucher mit dem offiziellen Eindruck entlassen, dass nur Lee Harvey Oswald das Attentat begangen haben konnte und als Einzeltäter gehandelt hat. Wie allgemein bekannt ist, wurde Oswald am Tag nach dem Attentat vom Nachtklubbesitzer Jack Rubenstein, genannt Ruby, im Beisein der Polizei von Dallas in der Garage des Polizeigebäudes erschossen. Die Fernsehbilder dieses Mordes wurden damals direkt in alle US-Haushalte übertragen und zeigen, wie die Polizei Oswald wie auf einem Präsentierteller vorgeführt hat. Mit dem Tod Oswalds kurze Zeit später – er verstarb ebenfalls im Parkland Hospital von Dallas, wo auch der Präsident seine letzten Atemzüge tat – verstummte die Stimme jenes Mannes, der zu diesem Zeitpunkt von den Medien und der Polizei bereits massiv belastet und vorverurteilt wurde. Von den bis dahin geführten Verhören mit Oswald existieren keine Protokolle. Jack Ruby schwieg bis zu seinem Tod in seiner Gefängniszelle. Sein Motiv für den Mord an Oswald war, dass er Kennedys Frau Jackie die Scham und Trauer einer Gerichtsverhandlung ersparen wollte. Auch gab Ruby an, dass er sein Mordopfer noch nie zuvor gesehen beziehungsweise nicht gekannt hatte. Das Motiv erscheint lächerlich, wenn man das Vorleben von Ruby im Umfeld des organisierten Verbrechens beleuchtet. Seine Angaben zu Oswald sind durch Zeugenaussagen widerlegt.

Blickt man vom Reunion Tower, einem Aussichtsturm in der Downtown von Dallas, hinunter auf die Dealey Plaza, dann kommt einem dieser Ort als Schauplatz für ein geschichtsträchtiges Verbrechen eigentlich viel zu banal vor. Bevor ich zum ersten Mal ausführliche Bilder dieses Areals sah, stellte ich mir darunter einen überdimensionalen Kreisverkehr vor. Vielleicht lag diese Fehleinschätzung auch an den Erzählungen meiner Eltern, das kann ich heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Tatsächlich wirkt der Platz eher herzförmig, denn er wird von zwei breiten Straßen zu beiden Seiten schwungvoll begrenzt, die unter einer Unterführung zusammenlaufen. Eine dritte Straße durchschneidet den Platz in der Mitte und stößt im rechten Winkel auf die Houston Street, die die restliche Begrenzung markiert und die herzförmigen Rundungen brutal abschneidet. Von der Houston Street bog die Präsidentenlimousine links in die Elm Street, eine der beiden seitlichen Begrenzungsstraßen des Platzes, auf der Kennedy und Gouverneur Connally, der vor ihm im Wagen saß, von den Kugeln getroffen wurden. Es war ein sonniger Freitag im November 1963, gegen
12 Uhr 30 Ortszeit.

Nach meinem Besuch in Dallas im Jahr 1994 und den vielen Stunden, in denen ich mich mit diesem Ereignis beschäftigt habe, sind viele Bilder in meinem Kopf haften geblieben. Zwar wurde meine kindliche Vorstellung von der Dealey Plaza als Kreisverkehr in der Realität widerlegt, meine Zweifel an der offiziellen Darstellung der Ereignisse sind aber noch immer vorhanden. Seit vielen Jahrzehnten gibt eine konstante Mehrheit der US-Bürger in Umfragen an, dass sie an ein Mordkomplott gegen Präsident Kennedy glaube. Ich schließe mich dieser Meinung an. Und diese Überzeugung sorgt dafür, dass meine falsche Vorstellung von diesem Kreisverkehr nach wie vor existiert und sich über mangelndes Verkehrsaufkommen nicht beklagen kann. Fakten und Bilder fahren dort ein und wieder aus, drängen sich dicht nebeneinander in den Spuren zusammen mit TV-Aufnahmen, Zeugenaussagen und eklatanten Versäumnissen bei den Ermittlungen. Geheimdienste, die Mafia und Medien, getarnt als große Lastkraftwagen oder dunkle Limousinen, fahren mit überhöhter Geschwindigkeit durch den dichten Verkehr und drängen alles andere zur Seite, als ob die Straße ihnen gehören würde. Rund um den Kreisverkehr steht die Polizei und sieht diesem wilden Treiben tatenlos zu.

Noch immer bilde ich mir also diesen Kreisverkehr ein. Und dann denke ich auch daran, wie viele Menschen sich Dinge zu den Ereignissen vom 22. November 1963 einbilden. Von der offiziellen Seite und ihren Vertretern belächelt, sind sie verzweifelt auf der Suche nach ihrer Wahrheit. Ich kann sie gut verstehen. Sie haben etwas gesehen oder wahrgenommen, was sich nicht mit den offiziellen Angaben deckt. Im Gegensatz zu meinen Einbildungen aus der Distanz ist das viel schwieriger zu widerlegen.

Alle, die an diesen Ereignissen auch heute noch interessiert sind, sollten sich selbst ein Bild davon machen. Sie sollten das Museum in Dallas besuchen oder sich fragen, warum die über fünfzig Zeugen, die am Tatort hinter einem Zaun einen Gewehrschützen und Mündungsfeuer gesehen haben, niemals offiziell befragt wurden. Sie sollten die zweiundzwanzig Bände des Warren Reports – das Ergebnis der offiziellen Untersuchungskommission der Regierung – lesen oder sich den Film von Ephraim Zapruder ansehen, der die Sekunden der tödlichen Schüsse festhält. Sie sollten sich fragen, warum fünfzehn der damals anwesenden Ärzte im Parkland Hospital von Dallas ein faustgroßes Loch im Hinterkopf von Kennedy bestätigten und davon auf den offiziellen Autopsie-Fotos nichts zu sehen und im Warren Report nichts zu lesen ist. Sie sollten sich ansehen, wie Jackie Kennedy nach dem Kopfschuss auf den hinteren Teil des Wagens klettert, nicht in Panik, wie man lange Zeit vermutet hat, sondern um ein Stück Gehirnmasse ihres Mannes einzusammeln. Sie sollten sich fragen, warum die Akten der Warren-Kommission bis ins Jahr 2039 für die Öffentlichkeit unzugänglich bleiben.

Im meinem Kreisverkehr drehen sich diese Eindrücke Tag und Nacht weiter. Sie vermischen sich mit späteren Ereignissen und produzieren auf allen Einfahrts- und Ausfahrtsstraßen einen unübersehbaren Stau. Ich sitze mitten in diesem Stau und kann weder vor noch zurück. Ich steige aus und versuche in dieser Unübersichtlichkeit etwas zu erkennen. Ich denke an das Tonband, das in der Küche das Ambassador Hotels von Los Angeles die tödlichen Schüsse auf Bobby Kennedy aufgezeichnet hat. Ich denke daran, dass sein Attentäter Sirhan Sirhan nur acht Kugeln in der Trommel seines Revolvers hatte, auf diesem Tonband aber mehr als acht Schüsse zu hören sind. Ich steige auf die Motorhaube meines Autos und halte Ausschau nach dem ominösen Mädchen im gepunkteten Kleid. Ich erinnere mich daran, dass die Personenbeschreibung einer Zeugin des Attentates auf Martin Luther King in keinster Weise auf James Earl Ray passte, der für den Mord zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Ich erinnere mich an die Schmierenkomödie von US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat, mit der er die Welt von der Notwendigkeit des Irak-Krieges überzeugen wollte. Ich denke darüber nach, was ich weiß und was ich glaube zu wissen. Dann schaue ich mich um und frage mich, was die anderen wissen und glauben zu wissen. Wer von ihnen weiß, dass am 11. September 2001 in New York ein drittes Hochhaus eingestürzt ist? Und wer kennt den wahren Grund dafür? Frustriert und wütend frage ich mich, welche Leute die richtigen Antworten auf diese Fragen kennen? Denn ich würde sie sehr gerne fragen, was ihnen eigentlich einfällt? Und was ihnen als Nächstes einfällt?