Kreisverkehr

Christian Weimann

Elfriede Gerstenperg, seit 15 Jahren attraktive Gemeindesekretärin in dem ebenso reizvollen Hintergrub, einem entzückendem kleinen Ort, beschaulich im Hügelland nahe der Großstadt gelegen, konnte sich noch bestens an den fürchterlichen Unfall vor drei Jahren erinnern. Schon lange Zeit waren sich ihr Bürgermeister, Leopold Oberberger (54 Jahre alt, Bauer), und sein Amtskollege Kevin Birnbaum (42 Jahre alt, Arbeiterkammerfunktionär) des bereits im beginnenden Industrieviertel gelegenen Nachbarortes Vorderkirch wegen der längst überfälligen Schaffung eines Kreisverkehrs in den Haaren gelegen.

Die Notwendigkeit, die einzige Kreuzung der Straße, welche beide Orte verbindet, durch einen Kreisverkehr zu entschärfen, war allen Beteiligten klar. Jedes Jahr verblich ein Teil der physisch und psychisch tiefergelegten männlichen Jugend beider Orte, beschleunigt durch die Kraft bayrischer Motoren,  an eben dieser Stelle. Allein, dass der Kreisverkehr Liegenschaften beider Gemeinden in Anspruch nehmen würde, hatte sich zum schier unüberwindbaren Hindernis entwickelt. Eine Zustimmung könnte unweigerlich von der jeweils eigenen Parteibasis als auch dem Hintergruber Heimatbund einerseits bzw. dem Vorderkircher Solidaritätsverein anderseits als unentschuldbares Einknicken vor dem politischen Gegner und den Expansionsgelüsten der misstrauisch beäugten Nachbargemeinde gedeutet werden. Überdies schien unklar, welche der beiden Gemeinden mehr von der Verkehrsberuhigung und der ansteigenden Lebenserwartung des dann überlebenden männlichen Bevölkerungsteiles profitieren würde – die Vorstellung, es könnte der Nachbarort sein, war beiden Seiten absolut unerträglich und Grund genug, das Projekt von Arbeitskreis zu Arbeitskreis zu verschieben.

Doch dann geschah das Schreckliche: anstelle junger Männer, die ohnehin aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation einem modernen Staatsgebilde nur zur Last fallen, traf das Schicksal zwei verdiente, wertvolle Stützen der Gesellschaft. Der 52-jährige, schon längst wohlverdient pensionierte Gewerkschaftsfunktionär Adolf Z. und  der ebenso im Ruhestand befindliche ehemalige Obmann der Bezirksbauernkammer Sigi L. jagten an ebendieser Kreuzung ihre Wagen mit einer Geschwindigkeit ineinander, dass ein Gentest zur Identifizierung der Leichen erforderlich war (was allerdings den Alkomat der einschreitenden Beamten nicht daran hinderte, bereits bei Annäherung an die Unfallstelle auszuschlagen). Ihr Ruhegenuss hatte sich ebenso wie die nach wie vor zur Verfügung stehenden Dienstlimousinen quasi in einem Moment atomisiert.

Leopold Oberberger tobte! Mit Sigi L. war eine verdiente Bauernfunktionärspersönlichkeit (ein Bauer ohne Makel, sieht man davon ab, dass er Zeit seines Lebens nie einen Hof bewirtschaftet hatte) verloren gegangen, allein, weil dieser unsägliche Bürgermeisterkollege Kevin Birnbaum den Kreisverkehr blockierte. Naja, diesen roten Gfriesern müsste man es einmal so richtig zeigen, aber das darf man ja heut nicht ausprechen, sonst gilt man gleich als rechtsradikal! Abgesehen davon ist die nun schon zwei Jahre andauernde Affäre mit Jessica, der – auch für heut abend erwarteten – aparten Ehefrau des Kollegen Birnbaum Grund genug, diesen zu schonen – wohin sollte man das Weib im Falle des Überdrusses sonst zurückschicken? Verärgert ließ er seinen Zorn an Elfriede Gerstenperg, der armen Gemeindesekretärin aus. Als ob diese eine Gesprachsbasis zu diesem Kevin Birnbaum herstellen könnte! Der Kreisverkehr jedenfalls schien nun unabdingbar notwendig, der Prolet aus dem Nachbarort würde den ersten Schritt tun müssen!

Kevin Birnbaum rotierte zu gleicher Zeit in seinem schmucken Reihenhaus in bester politischer Lage in Vorderkirch! Seine arme Ehefrau musste eine Suada über sich ergehen lassen, als ob sie Kontakt zu diesem Leopold Oberberger knüpfen könnte! Ausschließlich der Borniertheit des Nachbarbürgermeisters war der unsägliche Verlust des allseits beliebten Gewerkschafters Adolf Z. zuzuschreiben.
Die Arbeiterbewegung war Adolf Z. schließlich zu größtem Dank verpflichtet! Durch lebenslange Vermeidung anstrengender Arbeit konnte er sich ausschließlich dem Wohle der Werktätigen widmen und wichtige soziale Errungenschaften – etwa die Steuerfreiheit der Wurstsemmel auch dann, wenn ein Gurkerl dabei ist – erreichen. Diesen faschistoiden Bauernschädel Oberberger, der allein den fehlenden Kreisverkehr zu verantworten hat, müsste man so richtig zurechtrücken! Schad eigentlich, dass eine Revolution so anstrengend ist, manchmal hätt man eine richtige Lust drauf! Apropos Lust – heut sollt doch die Gemeindesekretärin des Nachbarortes, zweifelsohne das einzig Reizvolle an diesem Bauernkaff, ihm den Abend etwas versüßen.  Schon zwei Jahre lief diese Beziehung, die Besuche fanden jeden Sonntag statt, wenn seine Frau den Kirchenchor besuchte! Dies musste sie über ehemännliche Anordnung allerdings im verhassten Nachbarort tun, da pfarrliches Engagement daheim politisch untunlich erschien. Schnell verabschiedete er seine Jessica, nicht weiter bemerkend, wie fesch sich diese wieder für den wöchentlichen Chorgesang hergerichtet hatte! Nun denn – der Kreisverkehr jedenfalls schien nun unabdingbar notwendig, der dumpfe Bauer aus dem Nachbarort würde den ersten Schritt tun müssen!

Gut zwei Stunden später, nach jeweils getanem Liebeswerk, hatten beide Damen die störrischen Bürgermeister zu einem Treffen auf neutralem Boden überredet. Die im rechten Moment vorgeschützte Behauptung, der jeweils andere sei ohnehin auf ein solches Gespräch erpicht und würde jeweils eigenes Fehlverhalten einsehen (könne es halt aus politischen Gründen bloß nicht zugestehen), schuf die benötigte goldene Brücke. Bereits die erste Zusammenkunft, zu der Leopold Oberberger seine Gemeindesekretärin und Kevin Birnbaum seine hübsche Gemahlin mitgebracht hatte, verlief harmonisch und brachte den emotionalen Durchbruch. Folgetermine wurden in guter, fast schon netter Stimmung vereinbart. Angesichts der Tatsache, dass die Pläne für den Kreisverkehr schon lange vorlagen und jede der beiden Gemeinden gleich viel Grund beistellen musste, sohin beste Vorraussetzungen vorlagen, verwundert es nicht weiters, dass nach siebzehn weiteren Verhandlungsrunden bereits ein unterschriebenes Endergebnis vorlag!

Die Errichtung des Kreisverkehrs war nun immerhin binnen drei Jahren ab dem tragischen Unfall abgeschlossen. Immerhin waren während dieser Zeit lediglich sieben junge Männer an der nämlichen Kreuzung tödlich verunglückt, hievon allerdings fünf aus Hintergrub und bloß zwei aus Vorderkirch. Dies führte im Vorderkircher Gemeinderat zu kurzer Debatte, ob man den Kreisverkehr nicht doch bleiben lassen sollte, zumal der ansonsten in Zukunft nicht mehr stattfindende hohe Blutzoll der Nachbargemeinde deren einseitige Bevorzugung durch dieses Projekt erahnen ließ. Der Hinweis des Bürgermeisters Kevin Birnbaum auf die vier querschnittgelähmten Sprösslinge des eigenen Ortes, davon drei aus politisch zuverlässigen Familien, bewirkte jedoch ein Einsehen und die Arbeiten konnten fortschreiten.

Geringfügige unvermeidbare weitere Verzögerungen von jeweils einigen Monaten resultierten aus der Tatsache, dass hohe Landesbeamte Förderungen genehmigen mussten, die beiden Gemeinden – und sohin auch der jeweils politisch anders gefärbten – zugutekamen, und solch heikle Entscheidungen nicht ohne Rücksprache mit dem Landehauptmann getroffen werden durften. Dieser selbst – gemeinhin nur UNSER ALLER EDWIN genannt – war seit vierzig Jahren an der Spitze des Landes. Aufstiegsmöglichkeiten zu höheren Weihen, etwa das Amt des Bundeskanzlers oder – und dies vor allem – das des Bundespräsidenten waren ihm wiederholt von eigenen Parteikollegen, ja sogar Familienmitgliedern vermasselt worden.  So herrschte er umso absoluter seit gefühlter Ewigkeit als ebenso gütiger wie strenger Landesvater!

Sein Amt erfüllte er mit höchstem Pflichtbewusstsein, selbstverständlich würde er auch diesen Kreisverkehr – wie die 1432 vorangegangenen – mit einer feierlichen Festrede eröffnen, bei der er seine Untertanen mit einer besonderen Überraschung  beglücken würde.

Elfriede Gerstenperg hatte den nun beginnenden Festakt gemeinsam mit der Sonderbeauftragten des Nachbarortes, der feschen Bürgermeistersgattin Jessica Birnbaum, bestens vorbereitet. Dies war auch wegen der beiden bürgermeisterlichen Sturschädel nicht immer einfach gewesen, aber – dies musste Elfriede zugeben – die Sonderbeauftragte verstand es blendend, im erstaunlich häufig stattfindenden Vieraugengespräch den störrischen Leopold Oberberger in ein sanftes Lämmlein zu verwandeln. Ihr sollte es recht sein, verschafften ihr jene Schäferstündchen doch Zeit und Gelegenheit, den Ablauf der Feier eingehend mit dem Nachbarbürgermeister Kevin Birnbaum durchzugehen. Dieser führte sein erstaunliches Geschick, Elfriede höchste Freuden zu bereiten, auf eine diesezüglich bei Altachtundsechzigern bzw. -innen genossene Ausbildung zurück. Nun ja, so hat eben auch der Sozialismus sein Gutes, und der Satz, man habe (L)liebe (g)Genossen, konnte damals in Groß- und Kleinschreibweise recht angenehm variiert werden.

So gelang es,  ein politisch und geografisch erstaunlich ausgeglichenes Festprogram abzuwickeln. Je eine Bürgermeisterrede, Vorführung der Jugendsportgruppen der Union Hintergrub sowie des ASKÖ Vorderkirch, Kirchenchor aus Hintergrub, Kinderchor aus Vorderkirch, ökumenische Segnung und Weihe des Kreisverkehrs durch durch den Hintergruber Pfarrer und den Obmann der der Vorderkircher Arbeiterkammeraussenstelle und sodann als Höhepunkt die Festrede des Landeshauptmannes.

UNSER ALLER EDWIN war in Bestform, lobte Hintergrub ebenso wie die politisch abtrünnige Gemeinde Vorderkirch (mit der Einschränkung, dass er die besondere landschaftliche Schönheit Hintergrubs mit durch braven Kirchbesuch erwirkter göttlicher Zuwendung begründete, der in Vorderkirch leider zu wünschen übrig lasse), er erzählte fesselnd aus seinem nun vierzig Jahre andauerndem segensreichen Wirken für die Bevölkerung des Landes und vergaß hiebei nicht darauf, jeden einzelnen der von ihm bereits eröffneten 1432 Kreisverkehre zu beschreiben. Bereits nach vier Stunden Redezeit, die der vollständig anwesenden Bevölkerung beider Orte durch Hintergruber Freibier und Vorderkircher Tafelwein verkürzt wurde, konnte feierlich das über den Asphalt gespannte Band durchschnitten werden. Im selben Moment eilte der anwesende Notar zum Landeshauptmann und erklärte den Anwesenden, das UNSER ALLER EDWIN mit Eröffnung des nunmehr 1433 Kreisverkehrs seinen norwegischen Amtskollegen überholt hatte. Als alleinigem weltweitem Rekordhalter gebührte ihm nun eine ruhmreiche Eintragung ins Guiness-Buch!
Tränen der Rührung konnte der nun am Höhepunkt seines politischen Wirkens angelangte Landesvater nicht mehr zurückhalten, eine Welle von Glück, Begeisterung und auch Stolz erfasste alle, die diesem eindrucksvollen Akt beiwohnen konnten. „Ein Hoch dem Landeshauptmann“ erschall vielstimmig, auch geeichte Vorderkircher Gewerkschaftsfunktionäre konnten sich dem Zauber dieses Momentes nicht entziehen und stimmten in den allgemeinen Jubel ein. So endete das großartige Fest mit einer allgemeinen, Partei- und Gemeindegrenzen überschreitenden Verbrüderung, glücklich und zufrieden schritten die braven Bürger heim.
Verlassen lag der neue Verkehrsbereich nun da – beinahe, denn von Hintergrub raste der tiefliegende BMW des Leopold junior Oberberger heran, von Vorderkirch der reifnitztaugliche GTI des junge Justin Birnbaum. Die Wette, wer denn mit höherem Tempo die neue Schikane durchfahren könne, endete in einer finalen Zusammenkunft der beiden Bürgermeistersöhne im KREISVERKEHR.