Die Sache mit dem Kreisverkehr

Markus Steinbichler

Manchmal, wenn Herr Fritz am Geländer der Geisterbahn stand, meditativ an seiner Smart Export zog und das bunte Treiben drüben im lebhafteren Teil des Praters jenseits der Zufahrtsstraße beobachtete, fiel sie ihm noch ein: diese ganze seltsame Geschichte, die ihn letzten Endes hierher gebracht hatte – nämlich die Sache mit dem Kreisverkehr.
Vor der Sache mit dem Kreisverkehr war er stolz, als Kommerzialrat Fritz Füllenhals nicht nur angesehener Land- und Gastwirt, sondern auch noch stattlicher Bürgermeister des kleinen Ortes St. Innozenz im Alpenvorland zu sein. „Klein, aber mein“, wie er insgeheim zu sagen pflegte, „Klein, aber fein!“, wie er es bei jeder sich bietenden Gelegenheit seinen Mitbürgern vorbetete, ein überschaubarer, in Zahlen immer knapp unter der Dreistelligkeit herum schrammender Haufen Landvolk, das ein wenig – nicht nur geografisch aufgrund der Lage am Schluss eines vergessenen Seitentals – zurückgeblieben mit ihm in diesem Ort ausharrte. Die Bewohner trugen die große, längst verblichene Historie ihres nun trostlosen Kaffs mit ähnlichem Stolz vor sich her wie manche im Ort ihren Bierbauch, und wie diesen pflegten sie auch die illusorische Hoffnung, dass es ja mal wieder so werden müsse, wie es bitteschön einmal war. Und so sonnten sich die Dorfleute selbstzufrieden im Glanz vergangener Größe, als aus einer kleinen, fleißigen Bauernansiedlung der florierende Wallfahrtsort St. Innozenz wurde, der wie durch ein Wunder von allen josephinischen Säuberungen verschont bis ins 20. Jahrhundert blühte, als neben den Wallern auch die Eisenbahn ins schmale Tal gefunden hatte und diese nicht nur fußlahme Heilssuchende, sondern auch ein wenig Industrie und beschaulichen Wohlstand anlieferte. Eine Handvoll fleißiger Kleinbetriebe hielten heute die traurigen Überreste eines industriellen Erbes aufrecht, aber wie lange noch war freilich abzusehen. Der Rest darbte in nur mäßig produktiver Agrarökonomie oder brachte seine Sozialbezüge fleißig in Füllenhals´ Wirtshaus, um sie dort bis kurz vor Ende des Monats in flüssige Ersatzbeschäftigung zu investieren – liquid zu sein hatte für sie grundsätzlich eine völlig andere Bedeutung. Man lebte mehr schlecht als recht in diesem vergessenen Winkel, aber zumindest als Bürgermeister konnte man sich nicht beschweren. Bis zu dieser Sache mit dem Kreisverkehr, und die begann mit einem verhängnisvollen Brief in seiner Amtspost:
„Sehr geehrter Herr Bürgermeister, werter Kommerzialrat Füllenhals, lieber Fritz!“ begann das Schriftstück mit dem Briefkopf des Landesvaters, welches ebenjener Fritz Füllenhals eines Morgens in seinen zitternden und schwitzenden Händen hielt. Briefe dieser Art waren in seinem angestammten Amt als Vorstand der immerhin zweitkleinsten Gemeinde des Landes eher selten und nur in Zeiten höchster Not (Hochwasser, Wahlkämpfe, Kreuzzüge gegen den roten Wasserkopf der Republik…) zu erwarten, nicht jedoch so unvermittelt und ohne erkennbaren äußeren Anlass. „Es ist mein Wille“ fuhr er schlagenden Herzens weiter im Lesen fort, „dass in ihrer Gemeinde St. Innozenz mit Rücksicht auf eine entsprechende Verbindung derselben mit den umliegenden Schönheiten unseres wunderbaren Bundeslandes die Errichtung eines Kreisverkehres ehemöglichst in Angriff genommen und hiebei auch auf die Belebung und Verschönerung des Ortsbildes Bedacht genommen werde. Wie die Abteilung Landesstraßenplanung der Gruppe Straße des Amtes der niederösterreichischen Landesverwaltung festgestellt hat, ist Ihre Gemeinde die mittlerweile letzte im Land, die eine innovative, zeitgemäße, verkehrssicherheitsfördernde und das Ortsbild künstlerisch aufwertende Verkehrsmaßnahme in Form des allseits bewährten Kreisverkehres bislang entbehren musste. Ich ersuche Sie, bis zum Ende dieses Jahres einen Vorschlag zu erbringen, mit welchem dieser Umstand behoben werden würde und eine bislang unsichere Kreuzungssituation in ihrer Gemeinde zu einem künstlerisch ansprechend gestalteten Kreisverkehre sich wandeln und somit zum Wohle aller Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher sorgen wird können.“ Unterzeichnet vom Landesvater höchst selbst. Als erste Amtshandlung machte sich Franz Füllenhals erst einmal auf dem Weg zu den Schnapsflaschen.
Mit zitternder Stimme wurde das schwerwiegende Schriftstück am Abend nochmals laut von Fritz Füllenhals bei der eilig einberufenen Gemeinderatssitzung verlesen. Die Sitzungen fanden schon lange nicht mehr im Gemeindeamt statt – dieses war jahrzehntelang vernachlässigt worden und vom Einsturz bedroht. Nachdem seit eh und je alle Sitzungen sich früher oder später in Füllenhals´ Wirtshaus verlagert hatten, wurde vor Jahren einstimmig beschlossen, diese gleich dort abzuhalten. Im Extrazimmer, aus dem dann am Amtstag sämtliche Kartendippler und Glücksspielautomatenspieler gestampert werden mussten, tagte also der Gemeinderat gemütlich unterm Porträt des Landesvaters, man hatte es dort aufgehängt, um der abgewetzten Stube zumindest irgendetwas Amtszimmerhaftes zu verleihen. Füllenhals hatte daneben auch sein geliebtes Monumentalporträt Leopold Figls angebracht, was von den übrigen Fraktionen nach einigen Runden Most aufs Haus auch nicht mehr weiter diskutiert wurde. Nachdem Fritz Füllenhals den Namen des Landesvaters verlesen und den verhängnisvollen Brief vor sich auf den Tisch gelegt hatte, blickte er in die Runde, bestehend aus seinen fünf politischen Mitstreitern. Aus irgendeinem Grund – man munkelte über Politikverdrossenheit im Allgemeinen und etlichem Ausscheiden aufgrund unschöner Geschichten im Speziellen – konnte sich mit Müh und Not nur noch ein Vertreter je Fraktion finden. In diese traurige Runde blickte er nun ratlos und hob nach längerem Nachdenken mühevoll den großen Staatsmann markierend an: „Das ist nun also die Situation, meine Herren, in die wir uns gegenwärtig sozusagen hinein theatert befinden. Als ersten Schritt habe ich jedoch auch schon quasi eine Begehung unseres schönen Ortes vorgenommen, um einen geeigneten Standort für diesen Kreisverkehr ausfindig zu machen. Wie ihr wahrscheinlich alle wisst, haben wir de facto keine Kreuzung an sich, also eine in solcher Art, die was sich für einen Umbau in diesen geforderten Kreisverkehr eignen würde, geschweige denn könnte. Die mitunter noch am ehesten geeigneten Stelle, die ich nach langer Analyse sozusagen erheben konnte – und ich denke, sie alle werden mir da zustimmen können – ist jener unglücksseliger Ort, wo die Feldwege vom Huber-Bauern auf der einen und vom Hofer-Bauern auf der quasi Gegenüberseite von unserer schönen Hauptstraße abzweigen oder, je nachdem, einmünden. Wir alle können uns noch an den bedauerlichen Unfall unseres lieben Postlers ebendort erinnern, der mit dem Dienstmoped so tragisch unter die Traktorräder des Huber-Bauern gekommen ist“. Gesenkte Blicke und leichtes, bestätigendes Kopfnicken konnte Füllenhals konstatieren, dieser traurige Zwischenfall hatte den Ort vor einigen Jahren erschüttert. Zwar war dem Postler außer einem Riesenschreck nichts zugestoßen, auch das Moped war weitgehend heil geblieben und der Traktor selbstredend gänzlich unversehrt. Aber: auf dieser, nunmehr flugs zur Kreuzung geadelten Stelle waren etliche Ausgaben der BauernZeitung sowie die neuesten Lagerhaus-Flugblätter vom Moped gefallen, im Schneematsch gelandet und somit unleserlich geworden. Die armen Leute von St. Innozenz mussten ohne die neuesten Ferkelpreise und die Termine der Grillhendlstation vorm Lagerhaus im Nachbarort auskommen. Fritz Füllenhals hatte ausnahmsweise richtig kalkuliert, der Schock saß nach wie vor tief, die Erinnerung daran war allen noch sehr gegenwärtig, allen war sofort klar, die Kreuzung musste sicherer werden. Zuzugeben, dass er für die künstlerisch wertvolle Ausgestaltung keine ähnlich brillante Lösung parat hatte war unmöglich, und so fuhr er fort: „Nun wäre mein Vorschlag, dass quasi jede Fraktion ihre Idee zur künstlerisch wertvollen Ausgestaltung vorbringen möge, um darüber abzustimmen und die beste Idee sozusagen per Beschluss zu küren. Wer fangt bitteschön an?“ fragte er zügig in die überrumpelte Runde und fühlte sich vorerst mal aus dem Schneider. Ratlose Blicke kreuzten sich, um danach betreten auf das rot-weiß-karierte Tischtuch oder in je nach Sichtweise halbleere bzw. halbvolle Mostkrügel zu stieren.
Schließlich fasste der erste allen Mut zusammen, Sepp Schneckenreiter, Fuhrwerksunternehmer und Steinbruchbesitzer, Vertreter einer persönlich abgetrennten Splitterfraktion und seiner Meinung nach so etwas wie wirtschaftsliberal. „Ich könnte z.B. anbieten, ein paar der schönsten Steinblöcke meines Steinbruchs zur Verfügung stellen, für Transport wäre auch gesorgt, eine entsprechende Rückvergütung wäre doch sicher ausverhandelbar“. Fritz Füllenhals, der die Wirtschaftskompetenz nicht ohne weiteres abgeben wollte – auch wenn sein Fokus nur auf Land- und Gastwirtschaft lag – wimmelte schnell ab und rief den Jungspund in der Runde direkt auf: Peter Wappl-Dinklmair, Gründer der besonders skeptisch beäugten grünen Fraktion im Ort, hauptberuflich aber Aussteiger und Ideenhaber, gegenwärtig etwa rieb er sich in aussichtslosen Verhandlungen mit der Firma Carrera auf, der er mithilfe irgendwelcher Antidiskriminierungsrichtlinien seine Idee einer ferngesteuerten Radrennbahn für FahrradfahrerInnenkinder aufzuzwingen versuchte. Enthusiastisch hob er an: „Man könnte endlich den fossilen Energien absagen und auf dem Kreisverkehr eine zukunftsweisende Photovoltaik-Anlage errichten, mit der sämtliche Verkehrslichtsignalanlagen und sogar die Straßenbeleuchtung im Ort betrieben werden könnte…“ „Geh, hea ma do auf mit dem neimodeanan Glumpat, Du Ökospinna“ fuhr ihm Hans Jürgen Kreuzler ins Wort, seines Zeichens nicht nur stolzer Junglandwirt und Großgrunderbe, sondern auch Vertreter der heimat- und freiheitsliebenden Fraktion. „Des brauch ma do ois net, des rrrentiert si jo in tausnd Joah net. Wos mia zum Beispü vuaschwebt is oafocha, boudnständiga, eahlicha: a scheens, natialichs, blitzblau-strrrohlendes Föödl aus fesche Koanbleampln in da Mittn vo dem Kroasvakeah, meah brauch ma net!“. Nun war auch Fredl Guggenbichler angespornt, feist gewordener, aber jung gebliebener Eisenbahner in Frühpension, der nebenbei seine Pension auffrisierte, indem er die Wirtshäuser der Gegend mit den neuesten Glücksspielautomaten versorgte – er kannte da in der Partei jemanden, der wieder jemanden kannte. Natürlich vertrat er nach wie vor die Partei der Arbeit, obwohl ihm von allen anderen in der Runde diese Disziplin am fremdesten geworden war, sei´s drum, was konnte er schon für die nostalgische Namensgebung seines überholten Vereins. „In Aunbetrocht der groußen Historie von St. Innozenz ois Industriestaundort und bedeutendster Koupfbahnhouf im gaunzen Toi schlage ich hingegen ein stolzes Denkmoi der Oaweiter- und Eisenbaunerschoft unseres schönen Ortes vor. Am aufglossanen Baunhof steht gnua oids Graffl herum, der Schneckenreither kaunn vo mia aus a ausgmustertes Vehikl oder an oidn Bagga spenden, hüfts nix, schods net, und fertig ist der Gedenkort der Industriekuitur mittn am Kraasvakeah. Wos de Piefke im Ruhrpott zaummbringa, schoffm mia wui scho laung, wos?!“ bellte er in die Runde, gefolgt von schallend gehässigem Gelächter. Nachdem er sein schmalziges Doppelkinn im Mostglas versenkt hatte, ergriff Franz Hafersack das Wort, an und für sich gebürtiger St. Innozenzer, irgendwann ausgewandert und heute angeblich erfolgreicher Tankstellenpächter im Nachbarort. Vor kurzem hat er im Heimatort die Liste FRAUNZ gegründet, wie das eigentlich formell möglich war, wusste nach wie vor keiner so genau. Hauptziel der Liste war es eigentlich, mit selbiger seine ehemaligen Schulkamerden zu ärgern. Süffisant legte er nun los: „Oiso des gaunze Foamat von an Kraasvakeah is jo a Kaaas. Do schreibt so a Groußkoupfata an Briaf und olle hupfm auf wia die g´ratztn Hendln. Wenn üwahaupt ana gmocht wean sui, suit wos Aunständiges hinkumman, sowos wia mei Tankstöö im Nochba-Oat, nocha hätt ma wenigstns aa bis zwaa Oaweitsplätze g´schoffm!“ Bevor ein zustimmendes Raunen in der Runde aufbranden konnte, ergriff nun Fritz Füllenhals höchst selbst das Wort, mittlerweile war ihm nach all dem Schmarrn seiner Mitstreiter und vor allem der Idee des bladen Roten doch noch etwas eingefallen, sogar noch inklusive Plan B, für alle Fälle. „Meine Herren, Dankeschön für die kreativen Beiträge, aber der Vorschlag meiner Person steht laastbatnotliest noch aus: In Anbetracht der großen Historie von St. Innozenz als Wallfahrtsort und bedeutendstes Pilgerziel im ganzen Tal schlage ich ein stolzes Denkmal des Schutzheiligen unseres schönen Ortes, unseres lieben Innozenz, vor.“ Das Augenrollen und gelangweilte Stöhnen des ungläubigen Packs ihm gegenüber bemerkend schoss er zügig seine Alternative hinterher: „Natürlich ist auch ein prächtiges Standbild unseres geliebten Landesvaters denkbar, schließlich ist der Kreisverkehr ja sozusagen auf seinen… Wunsch… gewachsen.“ Die Runde beruhigte sich wieder – was sollte man dazu oder dagegen schon sagen – und versank aufgrund der sich ganz offensichtlich spießenden Vielfalt der vorgebrachten Ideen in ein langes, dumpfes Brüten.
„Ich hätte da vielleicht noch eine Idee“, meldete sich irgendwann Peter Wappl-Dinklmair zu Wort. „Mein Cousin arbeitet an der Akademie, vielleicht könnte da eine Kooperation die Ideenfindung vorantreiben?“ Kreuzler konterte sogleich: „A so a Bleedsinn, wia suin denn a poa Offisiersaunwäata aus Neistodt denn an Kroasvakeah zaummbringa?“ Der Grüne, die Augen abschätzig gegen den Holzplafond des Extrazimmers drehend: „Ich spreche von der Akademie der Bildenden Künste zu Wien und nicht von der Militärakademie in Wiener Neustadt, Herr Kreuzler. Wir könnten dort unsere Aufgabenstellung und unsere Ideensammlung bekannt geben und dann die Studierenden weiterführende Vorschläge ausarbeiten lassen. Uns würd´s nix kosten und die Studierenden lernen einmal eine praxisnahe Anwendung in ihrer Kunstausbildung.“ Mehrere „Aha´s“ und „Ah so´s“ machten die Runde, der Großteil konnte sich nichts darunter vorstellen, Einzelne fanden das Ganze zumindest interessant, und da keine besseren Ideen in Aussicht waren stimmte man dem Vorschlag (mit Ausnahme der Liste FRAUNZ, denn Politik interessierte Hafersack wirklich nicht) zu und ließ den Grünen ausnahmsweise einmal alles weitere veranlassen. Nach zähen Wochen und Monaten des bangen Wartens war dann schließlich der Tag gekommen, an dem die Studierenden ihre Arbeiten im Ort vorstellen sollten.
Endlich war es so weit, die Sache mit dem Kreisverkehr nahm Formen an: alles war bestens organisiert worden, viel neugierig´ Volk fand sich auf dem eigens gesperrten Parkplatz vor Füllenhals´ Wirtshaus ein, der Gemeinderat war in voller Pracht vertreten, die Musikkapelle hatte auf den Stiegen zur Wirtshaustür Aufstellung genommen, Vertreter des Bezirks wie auch Gesandte des Landesvaters, Bezirkspresse und das Landesstudio warteten neugierig auf die Präsentation. Schließlich fuhr langsam, fast zögerlich ein Bus vor und spuckte ein schwarz gewandetes, verhuschtes Männlein aus – zweifelsohne des Grünen Cousin – dem dürre, blasse junge Menschen mit langen Stirnfransen oder Frisuren wie Kanalratzen, zu engen und zu bunten Gewändern und viel zu großen Brillengestellen in den bleichen, ängstlichen Gesichtern folgten, bei denen das Landvolk große Mühe hatte, die Buben von den Mädchen zu unterscheiden – zweifelsohne die so genannten Studierenden. Sie bauten umständlich und unbeholfen ihre mitgebrachten Schautafeln und Modelle auf – je eine Kleingruppe hatte je eine der, wie sie es in weiterer Folge nannten: „Ideenskizzen“ der Fraktionen bearbeitet. Der zerzauste Professor fasste nochmal die Aufgabenstellung und die einzelnen so genannten Ideenskizzen zusammen, lobte pauschal den kreativen, gesellschaftskritischen Zugang seiner Schützlinge sowie die ironischen Brüche und Metaphern in einem noch so jungen Werk, das jetzt schon Großes erahnen ließ und übergab nach einer pathetischen Pause, in der er noch einmal prüfend und kopfnickend die sechs Beiträge abschritt, seinen Studiernenden das Wort. Dann ging alles sehr schnell:
Projekt 1 griff die Idee von Sepp Schneckenreiter auf und eröffnete mit einer Verlesung von Schriftverkehr und diversen Listen, die eindeutig zuerst die dubiose Aneignung des Fuhrwerksbetriebs im 39er-Jahr und kurz darauf die Anforderung von vorsichtig formuliert unfreiwilligen Arbeitskräften für den Steinbruch belegten. Der Entwurf griff zwar Schneckenreiters Idee auf, unter den riesenhaft hin gewürfelten Steinblöcken waren jedoch zerquetschte und zerschmetterte Menschenleiber in gestreifter Kleidung zu erkennen. Nach Ende der Präsentation wechselte Schneckenreiters Gesicht in einem fort von kreidebleich auf puterrot wie das Blinklicht an einem Bahnübergang. Erbost stapfte er davon, er hatte von dieser linken Bagage genug gehört und gesehen.
Projekt 2 hatte den Öko-Vorschlag aufgegriffen und begann mit der Feststellung, dass dieser in der Theorie gut klingen mag, es in St. Innozenz aber weder Ampeln noch Straßenbeleuchtung gab, die man mit selbst erzeugtem Strom speisen konnte, bei genauerer Betrachtung war der Ort nämlich nächstens durch Füllenhals ´ Wirtshausbeleuchtung und das Fernsehflimmern aus den Wohnzimmerfenstern ausreichend ausgeleuchtet. Alternativ dazu wurde ein riesiger, gemeinschaftlicher Komposthaufen inmitten des Kreisverkehrs vorgeschlagen mit dem Argument, das hier wenigstens etwas Nützliches entstand, wenn oben Unnötiges Zeug träge herumlag und unten sich die Basis zersetzte und auflöste. Wappl-Dinklmair verstand im Gegensatz zu den anderen die Botschaft sofort und kochte zur Abwechslung statt Bio-Puh-Erh-Tee innerlich vor Wut.
Projekt 3 hatte den Vorschlag mit dem Kornblumenfeld weitergesponnen, in subtiler Weise sollten in das blaue Blütenmeer Samen von Pflanzen aus der ganzen Welt und einzelne Schädlinge eingestreut werden, mit Hilfe von Botanikern sollten vor allem solche ausgesucht werden, die bei den Kornblumen Abwehrreaktionen bis hin zu aggressiven Mutationen hervorrufen. Inmitten dieses natürlichen Kampfes würden die Studierenden dann aktionistisch alles zertrampeln, die Fläche mit mehreren Hektolitern Wasser fluten und als Ergebnis einen alles verschlingenden, braunen Sumpf hinterlassen. Empörung machte sich breit, denn ausgerechnet diese Idylle von einer Idee konnte im Ort mittlerweile etliche Anhänger vorweisen.
Projekt 4 hatte zwar Arbeiter und Eisenbahn thematisiert, aber nicht unbedingt in Guggenbichlers Sinn. Auf geborstenen Schienen war ein alter, ausrangierter Waggon zu sehen, in dem vereinzelte Skelette in den Sitzen hingen, soviel zur Lage der Bahn. Vor den verschlossenen Toren einer Industrieruine standen ein paar dürre Männlein verloren herum, offenbar Beschäftigungslose, soviel zur Lage der Arbeiter. All das spielte sich hinter dem monströsen Rücken einer aufgeblähten Figur im Anzug ab, die großkotzig auf einem Chefsessel lümmelte. Ihren Entwurf nannte die Gruppe „Genosse Potemkin“, Guggenbichlers Gesichts- glich sich allmählich seiner Parteifarbe an, einzelne Ex-Eisenbahner schlossen sich aus mit Solidarität verwechseltem Kadavergehorsam seinem Zorn an. Die Stimmung wurde insgesamt immer ungemütlicher.
Der vage Vorschlag der Liste FRAUNZ wurde nicht weiter behandelt, Hafersack verweigerte dieses Format der Ideenfindung und war an einer Umsetzung ohnehin nicht interessiert.
Projekt 5 schließlich griff dafür beide Ideen des Herrn Bürgermeister auf, doch anstatt des Standbildes des Landesvaters hat die Gruppe das offenbar einzige identitätsstiftende Merkmal seiner Person seziert und den Kreisverkehr mit einer rosigen, braun gesprenkelten Kuppel überwölbt, um deren Basis herum dichte, schwarz-graue Borsten in die Fahrbahn ragten, es handelte sich um den Entwurf „Unter des Landesvaters Fleischhaube“. Das Dorfvolk wurde immer lauter, Buhrufe waren zu hören, auch Worte wie „Frechheit“, „G´sindl“, „Gfrasta“ waren zu vernehmen. Die Gruppe ließ sich mit Müh und Not ermutigen, den letzten Entwurf zu Füllenhals erster Idee zu präsentieren und hatte es schwer, die Gegenstimmen zu übertönen. Sie enthüllten eine entstellte Skulpturengruppe, die eine Handvoll blödsinnig grinsende, verrenkte Figuren mit gefalteten Händen im Gänsemarsch zeigte, auffällig waren Details wie ein Hydrocephalus, vereinzelte Glupschaugen sowie viel Sabber und Geifer, der Gruppe folgte eine äußerst expressiv gestaltete Figur offensichtlich im Veitstanz. Ein Raunen ging durch die Menge, das Bildnis wirkte auf die Menge wie ein böser Verkehrsunfall – hässlich und abstoßend, dennoch mussten alle hinsehen. Der Tumult brach los, ohne dass die verängstigen Studierenden noch erklären mussten, was sie zur Geschichte der Wallfahrt im Ort herausgefunden hatten: nämlich für welche in abgelegenen Seitentälern früher nicht selten vorkommende Sünde hier lange Zeit Buße getan wurde. Die Wahl des hl. Innozenz für die unschuldig Leidtragenden, die Tatsache, dass auch das Kaiserhaus justament nicht an der Auflösung der Wallfahrt interessiert gewesen sein musste sowie ein Blick in das bis zum Ausbau der Verkehrswege insgesamt nur drei Familiennamen aufweisende Gemeinderegister sprachen Bände. Das versammelte Dorfvolk explodierte vor Wut, zertrat die Tafeln und Modelle und fiel über die angehenden Künstler her, sie mit den massiveren Teilen ihres eigenen Machwerks und zweckentfremdeten Blechblasinstrumenten handgreiflich konfrontierend. Füllenhals, außer sich vor Scham und Wut gleichermaßen, versuchte zu retten, was zu retten war, doch angesichts des Blutrausches seiner bis in Mark beleidigten und von zahmen Schäfchen zu reißenden Wölfen mutierten Mitbürger war er machtlos. Ein Gesandter des Landesvaters zog den geschundenen Bürgermeister aus der aufeinander eindreschenden Menge und wuchtete ihn in mit den Worten: „Wir bringen Sie außer Landes in Sicherheit!“ in ein bereitstehendes und hernach quietschend davonrasendes Fahrzeug. In seiner Not tat sich ein Lichtblick für den gefallenen Bürgermeister auf, offenbar verschaffte ihm die Partei nun ruhiges Exil, womöglich bei politischen Freunden im Ausland – Toskana oder Plattensee, notfalls auch Bayrischer Wald.
Es war dann doch ziemlich ernüchternd, dass es sich nur um jene Geisterbahn im Prater handelte, die einem Parteikollegen gehörte und an deren Geländer er nunmehr als Herr Fritz rauchend die Pausen von seinem Dienst als dritter Geist von links verbringen durfte. Aber er musste zugeben, dass am Argument, nichts sei – bis sich die Sache mit dem Kreisverkehr wieder beruhigt hatte – ein dermaßen unauffälliges Versteck wie erstens eine Geisterbahn und zweitens die vor sich hinsiechende Wiener Stadtpartei, was dran war. Und das Beste an allem war zweifelsohne: die Geisterbahn kam ganz wunderbar ohne Kreisverkehr aus!