Sentivas Round

Bernhard Mitterer

Eine Stadt wie keine andere. Ich hasste sie, diese Stadt. Ich hasste sie, wie keine andere Stadt. Wie auch, ich habe nie eine andere Stadt gesehen. Ich war nie außerhalb dieser Stadt…diesem Gefängnis. Wie auch? Ich habe es versucht, tausende Male habe ich es versucht, aus dieser Stadt zu kommen…und seien es nur ein paar Stunden. Jedes Mal wenn ich es probierte, jedes Mal wenn ich es versuchte, jeder Weg hinaus, das Gleiche. Unerträgliche Schmerzen am ganzen Körper, der Kopf explodiert, ich falle zu Boden. Nicht mal meine Schreie vermögen es mir, Linderung zu verschaffen. Ich hab’s probiert, mit Alkohol, mit Drogen, welcher Art auch immer, nichts, aber auch nichts verhalf mir zur Flucht. „Under the Dome“, eine amerikanische Science Fiction Serie, wo eine unsichtbare Glocke über der Stadt hängt. Keiner kommt rein, keiner kommt raus. Unfug, Unsinn, so etwas gibt es nicht, deshalb heißt es ja Science Fiction. Das ich nicht lache, Science Fiction. Unfug und Science Fiction ist doch alles das Gleiche. Da könnte man ja glauben, es gibt kleine grüne Männchen oder sonst ein Leben auf anderen Planeten.

Apropos, Unfug. Unfug hat bei mir einen bitteren Beigeschmack, Realität. Realität, die schon seit Jahrhunderten in meiner Familie geschieht. Realität, die sich unerbittlich äußert, in Einsamkeit. Und in Geschichten, in Mythen. Und auch diese Geschichten sind einsam, die Mythen sind einsam. Wer kennt sie schon, ich. Und meine Ahnen. Das Credo meiner Familie. Einsamkeit. Zu welchem Preis? Überleben, nicht untersucht zu werden, nicht seziert zu werden, nicht in noch kleineren Gefängnissen leben zu müssen. Sentivas Round ist klein genug. Um auf den Tag zu warten, der die Rückkehr in unsere Heimat verspricht. Auf den Tag zu warten, an dem wir unserem Gefängnis entfliehen und wieder das Leben führen können, welches mit Fug und Recht uns gehört. Nicht diese Realität. Ich habe ein Gefühl, ein gutes Gefühl. Bald ist es soweit. Bald werde ich dort sein, wo ich hingehöre. Ich kann es spüren. Tief in meinem Inneren kann ich es spüren. Aber jetzt bin ich müde, sehr müde.

Auszug aus der Familienchronik der Sentivar´s. Seite 27: „Kapitel 2: Die Hüter des Kontinuums. Hoch geschätzt und tief verehrt, haben die Hüter des Kontinuums nur eine Aufgabe. Die Aufrechterhaltung des Kreislaufes der kosmischen Energie. Fragil und zerbrechlich sind die Knotenpunkte zwischen den Welten. Fällt ein Knotenpunkt, fällt das ganze Universum. So ist es die Aufgabe der Hüter des Kontinuums, diese Knotenpunkte zu erhalten und zu pflegen. In ewiger Dankbarkeit gedenken wir den Hütern. Der Lohn ist freilich groß, die Wahl in der Welt zu leben die sie beschützen bis zum nächsten Durchlauf der kosmischen Energie.“ (Notiz am Rande der Seite: Verdammt sind die Hüter des Kontinuums)

Einige Zeit danach…

Der Lärm und das Getöse flaute ab…es wurde ruhiger um den Platz herum….meine Ohren beruhigten sich, meine Augen spürten nicht mehr den Druck des Windes und auch nicht das gleißende Licht, dass mir, während das Chaos im Gange war, in die Augen stach. Mein Herzschlag verlangsamte sich langsam und ich kam zur Ruhe. Es schien vorbei zu sein. Rounds Point, Mein „Under the Dome“. Keine Kuppel sondern ein Punkt, ein Punkt mitten im Zentrum von Sentivas Round. Meine Bestimmung. Meine Aufgabe. Mein Leben. Bis heute.

Ich hatte mich beeilt Rounds Point zu erreichen. Schließlich ist es meine Aufgabe als Hüter, sich um Rounds Point zu kümmern. Ich habe mich gekümmert, Ich habe mich gesorgt. Und jetzt bin ich zu spät. Die Chronik hat mich darauf vorbereitet und meine Ahnen haben mich dafür trainiert. Und jetzt bin ich zu spät.

Ich stehe vor dem Chaos, am Ende dieser Straße, an der ersten Einfahrt zum Kreisverkehr und schaue mir das Chaos an. Abgebrochene Bäume, wie Streichhölzer geknickt. Zu Türmen gehäufte Autos, welche dem Ereignis von eben vorhin nicht standhielten. Die Fassaden der umliegenden Häuser verloren an Farbe, großflächige Anstriche rissen heraus und verschwanden im Rounds Point, dem Zentrum dieser Stadt. Schreiende und verängstige Menschen laufen umher, fuchteln mit ihren Armen, tasten sich ab, ob noch alles an ihnen dran ist. Panikdurchsetzt irren sie zu vermeintlichen Unterschlüpfen, ungewiss was hier passierte und noch passieren würde. Sie versuchen sich zu retten, vor etwas, dass sie in ihren fantastischsten Träumen nicht benennen können. Sie könnten sich beruhigen, es war vorbei. Es würde nichts mehr geschehen, erst wieder in ein paar hundert Jahren, wenn der heutige Tag schon längst vergessen ist, ich weiß es. Warum? Weil die Geschichten und Erzählungen meiner Ahnen kein Unfug und keine Mythen sind, sondern die Wahrheit nicht als die Wahrheit. Sie hatten Recht, sie hatten alle Recht. Mein Vater und dessen Vater und dessen Vater und  alle Väter, die es vor mir gab. Mein Name ist Adam, Adam Sentivar und ich kümmere mich um diese Stadt. Und es ist nicht zu spät.

Die kosmische Energie ist weg, sie zog vorüber und lies diese Welt am Leben. Ich habe meine Aufgabe als Hüter erfüllt, die Welt bleibt am Leben. Das Universum bleibt am Leben. Die Energie ist weg, sie zog vorüber. Aber ein wenig ist geblieben, ein Rest Energie, Nachschwankungen, wie der Schweif eines Kometen. Diesen werde ich nutzen, um meine Aufgabe zu erfüllen, die ich mir selbst stellte. Diesem Unfug zu entfliehen, dieser Realität zu entfliehen und mein rechtmäßiges Leben zu erhalten.

Auszug aus der Familienchronik der Sentivar´s. Seite 268: „Während des Durchlaufes der kosmischen Energie ist es möglich, erneut zwischen den Welten zu wählen. Der Zeitraum, um zu wählen, ist jedoch sehr kurz. Die Dauer der Wahl lässt sich jedoch durch Benutzung des zweiten Tores verdoppeln.

Das zweite Tor. Die Kiste im Keller. Sie ist massiv. Sie wurde nie geöffnet. Ich bin der Erste, der die Möglichkeit bekommt, nachhause zurückzukehren. Ich hole mir das Brecheisen aus der Garage und fange an sie auseinanderzunehmen. Das leichte vibrieren in der Kiste verrät mir, dass das Tor funktioniert. Das Zweite Tor, es liegt frei. Es ist rund und ähnelt verblüffend dem Rounds Point in kleiner Version. Es sieht aus wie Granit, ist pechschwarz. Auch das Zentrum des Steins ist tiefschwarz, verhält sich jedoch wie Rohöl, wabbelt und schimmert in allen Regenbogenfarben. Ich strecke meine Hand hinein und spüre, wie sich die Flüssigkeit darum schmiegt. Und plötzlich sehe ich die andere Seite. Ich bekomme ein merkwürdiges Gefühl, dass was ich sehe, scheint nicht richtig. Vier Wesen. Ich kann sie sehen und ich kann sie spüren. Fast als würde ich sie sein. Aber ich bin müde.

Frank öffnete die Augen, seine Glieder schmerzten und er wunderte sich, warum es auf einmal so ruhig war. Die letzten Minuten waren so anstrengend für seinen Körper, sich festzuhalten wo es nur ging, nicht hinabgezogen zu werden, in dieses gleisende Loch. Sein Kopf tat weh, etwas dürfte ihn, beim Versuch aus dieser Situation zu entkommen, am Kopf gestreift haben. Ein Stein, zumindest irgendetwas Hartes. Dies hatte ihn auch seine Kräfte verlieren lassen, es dunkel vor den Augen werden lassen und letztendlich die Kraft weg genommen haben, nicht in dieses Loch gezogen zu werden. Und obwohl ihm der Schädel brummte, als würde er gleich in tausend Stücke zerspringen, sammelte er sich schnell. Er blickte sich um und entdeckte, dass er nicht allein war. Andere Personen lagen, wie er, auf ungewöhnlich schimmernden Liegen. Eine Frau im Brautkleid, wobei Brautkleid nicht mehr ganz so stimmte, wohl eher ein braungrauer Fetzen Stoff, gerade noch von ein paar Fäden zusammengehalten. Sie war noch bewusstlos. Daneben ein Mann, schwarz gekleidet, eine Uniform, militärisch. Es war der Mann von der Regierung, Peter Draken, der ihm schon seit einiger Zeit auf den Fersen war. Frank war überrascht, dachte er doch, sein Kumpel Rick hätte ihn schon vor Tagen zur Strecke gebracht. Dem war nicht so gewesen sein. Mit Rick würde er noch ein paar Worte sprechen müssen, den Lügen die frank aufgetischt wurden, konnte er beim Tod nicht ausstehen, besonders nicht, wenn es um einen Mann ging, der Frank töten wollte. Auf der anderen Seite, stand ein riesiges Gebilde aus Glas. Es war rund, etwa vier Meter im Durchmesser. Im Glas, dass mit Wasser gefüllt war, schwamm ein Fisch, ein Haifisch. Er war gerade so groß, dass er ein wenig im Kreis schwimmen konnte und sich so positionieren konnte, dass er jeden Punkt im Raum erspähen konnte. Frank dreht sich um, um sich das genauer anzusehen. Wann konnte man sich schon sowas sonst anschauen als jetzt. Gerade als er sich drehte, bemerkte dies der Fisch und wandte sich blitzschnell zu Frank um und starrte ihn überraschend an. „Hey Frank, was ist hier passiert? Weißt du, was hier los ist? Die Anderen sind alle noch bewusstlos, ich hoffe ihnen ist nichts passiert!“.

Nichts passiert? Nichts passiert? Verdammt, es ist mir scheiss egal, was den anderen passiert ist, was aber es ist mir nicht scheiss egal, wenn ein Fisch mit mir redet! Und zum Teufel nochmal, woher weiß er meinen Namen? Das waren die Gedanken, die Frank gerade im Kopf herumgeisterten.

Frank wehrte sich gegen das aufkommende Schwindelgefühl, wollte aufstehen, um zu verschwinden. Es klappte jedoch nicht. Er kam nicht mal soweit, die Beine auf den Boden zu stellen, weil er es nicht mal schaffte, vom Bett runter zu kommen. Eine unsichtbare Barriere hielt ihn auf dem Bett. Das trug nicht im Geringsten dazu bei, sich zu beruhigen, aber Frank wusste, dass Panik eine Situation nur noch mehr verschlimmern würde. Also blieb ihm nicht anders übrig, als liegen zu bleiben und zu warten. „lass mich in Ruhe, du…du…Fisch!“. Ich heiße „Nebu“, sagte der Fisch. Unfug.

Benommen versuche ich die Hand aus dem Öl zu ziehen, diese Eindrücke tun mir weh. Vergebens. Ich kann mich nicht befreien und beobachte weiter was passiert. Ich bin so müde.

Peter erwachte mit einem dröhnendem Schädel, was vermutlich von den Schlägen auf dem Fels herrührte, als er mit Frank in das Loch gezogen wurde. Die unbändige kraft und das helle Licht, ließen ihm in wenigen Augenblicken das Bewusstsein verlieren. Sein Kopf wurde klarer und er versuchte sich zu orientieren. Die Personen, die um ihn lagen, kamen ihm bekannt vor, auch sie wurden durch das Loch hierher gebracht. Auch den Haifisch im Goldfischglas sah er vor seiner Bewusstlosigkeit an ihm "vorbeifliegen“.  Der Raum in dem er sich befand, war oval. Das war zumindest etwas, von dem er sagen konnte, dass es definitiv war. Alles andere konnte er nur vermuten, den der Raum in seinen Farben, Boden und Decke, sogar die Liegen, worauf sie alle lagen, erlebten sich so ungewöhnlich, dass es fast schon unangenehm wurde. Alles verfloss ineinander und bildete ein Ganzes.

Außer den Personen und dem Fisch lagen noch einige Teile im Raum herum, von denen er sagen konnte, dass sie ihm vor dem Loch um den Kopf wirbelten. Auch sein Gewehrkoffer war hier, lag nahe der Person, die sein Auftrag war. Frank Sutoni, ein widerlicher Krimineller, zu allem bereit. Es machte ihn schon nervös, den Frank musste wissen, dass er ihn verfolgte. Obwohl ihm der Zufall vor etwa zwei Wochen eine gute Gelegenheit gab, Frank glauben zu lassen, dass er tot war. Tja, diesen Vorteil konnte Peter nun vergessen.  Frank beugte sich vor, als wollte er zum Koffer greifen, Peter wurde nervös und spannte einen Körper an, um schnell zu reagieren. Doch Frank griff nicht zum Koffer sondern klopfte mit seinen Knöcheln in die Luft. Man konnte es auch hören, so als würde man auf Glas klopfen. Aber man sah nichts, kein Glas. Aber Irgendwas musste da sein, sonst würde man nichts hören. Unfug, so etwas kann es nicht geben.

Mein Arm ist schon fast ganz im Öl verschwunden, meine Kräfte schwinden. Der Schwindel macht es schwer sich darauf zu konzentrieren, sich zu befreien. Also beobachte ich weiter, was auf der anderen Seite passiert. Ich bin müde, so müde.

Auch Lucy erwachte langsam, sie stöhnte. Sie hatte zwar keine Schmerzen, aber dennoch war ihr Körper müde, so als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Sie erinnerte sich sofort an den Tumult, den LKW und den ohrenbetäubenden Lärm. Und auch an die Flugstunde, die sie unfreiwillig bekam, geradewegs in dieses gleißende Licht. Müsste sie nicht jetzt in Panik verfallen oder laut schreien, um aufzuwachen, damit der böse Traum ein Ende findet? Sie fühlte sich nicht danach, in Panik zu geraten, wohl doch etwas nervös, aber nicht panisch. Mit neugieriger Miene setzte sich auf und beobachtete, was um sich herum geschah. Zwei Männer lagen auf den gleichen Liegen, auf der auch sie lag, Frank und Peter. Sie kannte ihre Namen, spannend. Woher kannte sie ihre Namen? Sie hatte die beiden noch nie zuvor gesehen, spannend. Noch spannender war aber der Haifisch Nebu. Irritiert blickte sie zu Nebu und fragte sich, was zum Teufel hier los war und woher sie wusste, wie der Fisch hies. Abgesehen davon, dass Tiere überhaupt Namen haben. Nebu sagte "Lucy, Du bist wach, geht es dir gut?" Größer hätten Lucys Augen nicht sein können. Was fur ein Unfug geschieht hier bloß, es ist doch nicht rechtens, dass ein Fisch mit mir spricht.

Ich habe keine Kraft mehr, mich dagegen zu wehren. Der Sog wird stetig stärker, eine Befreiung ist nicht mehr möglich. Ich wollte doch hinüber, auf die andere Seite, weg von der Realität, weg von dem Unfug, hin zu meinem richtigen Leben. Doch ich wehre mich, ich wehre mich so sehr. Es ist nicht rechtens, dass sie vor mir dort waren. Ich allein, an ihrer statt dort sein. Etwas stimmt nicht und ich möchte weg, sofort. Es gelingt nicht und ich werde hineingezogen in den öligen Regenbogen. Es wird schwarz.

Dunkelheit. In völliger Dunkelheit schwebe ich umher, kein Licht und kein Ziel. Kein Ausweg aus der Dunkelheit, kein Ausweg aus der Hölle des Ungewissen. Weglos treibe ich dahin ohne zu wissen, was Recht und was Unrecht ist, was Fug und was Unfug ist, was Sinn und was Unsinn ist. Die Zeit verschwimmt, ist es Tag oder ist es Nacht. In weiter Ferne erscheint ein Licht. Ich treibe ihm entgegen und das Licht wird größer. Schemenhaft erkenne ich Bewegung. Je größer das Licht wird, desto klarer erkenne ich, was dahinter ist. Und allmählich höre ich auch Stimmen, Stimmen die zu mir sprechen. Erst unklar und unverständlich, aber mit zunehmender Nähe verstehe ich, was ich höre.

Adam, Adam, wachen sie auf. Adam. Kommen sie zu sich. Adam, wachen sie auf! Verdammt, Peter, Sie wussten doch wie er auf das Fernsehen reagiert. Wie konnten sie nur? Gerade in der jetzigen Umstellung können wir es uns nicht leisten, Adam wieder zu verlieren. Adam? Schön, sie machen die Augen auf, das gefällt mir. Erkennen sie mich? Sie wissen doch, ich bin´s Frank, Frank Sutoni, ihr Psychiater. Neben mir ist Peter, ihr Pfleger, erkennen sie ihn. Er hat sie vorhin gefunden. Sie haben sich ein wenig aufgeregt. Was haben sie sich angesehen? „Under the Dome?“ Ich danke das war nicht gut für sie. Sie haben sich ein wenig aufgeregt und sind dann umgekippt. Es scheint als ginge es ihnen jetzt wieder etwas besser. Sie sind in Sicherheit.

In Sicherheit? Unfug.