Mein Hund liest Wittgenstein

Christian Ondrak

Ich habe nicht mehr allzu viel Zeit dies niederzuschreiben und ich glaube auch, dass Sie diesen Brief als das wirre Geschreibsel eines Irren betrachten werden. Trotzdem möchte ich versuchen Ihnen meine Sicht der Geschehnisse darzulegen, die zu meiner jetzigen Lage geführt haben.

Es war kurz nach der Zeugnisverteilung und ich hatte die Tatsache, dass ich diesen miesen kleinen Haufen an ignoranten, desinteressierten, rotzfrechen und präpotenten Schülern die nächsten Wochen nicht mehr sehen und Unterrichten musste ein wenig gefeiert. Ebenso würde Agnes, meine mir Zugemutete, wie gewöhnlich alleine, oder besser gesagt ohne mich, irgendwohin ans Meer verreisen, was ebenfalls ein Grund für eine Feier  war. Ich erhob mich wohl wegen der drückenden Blase und des pochenden Kopfes etwas früher als üblich. Bertrand, mein Hund, der sich sonst Fußende meines Bettes zusammenrollte, war  nicht an seinem gewohnten Platz. Ich entdeckte Ihn in meinem Arbeitszimmer,  die Leselampe eingeschaltet,  augenscheinlich in ein Buch vertieft. Ich traute meinen Augen nicht und dachte an  eine katerinduzierte Halluzination, aber nein, er saß tatsächlich am Schreibtisch und studierte ein Buch. Wittgenstein, wie sich später herausstellen sollte. Bertrand drehte sich um, sah mich ertappt an und sagte „zu früh!“ Dies warf mich, wie Sie vielleicht verstehen werden, buchstäblich um. Mein Hund hatte zu mir gesprochen. Ich erwachte aus einer kurzen Bewusstlosigkeit als Bertram mir das Gesicht leckte. Er  stand vor mir wedelte, sah mich erwartungsvoll an und benahm sich auch sonst absolut hündisch. Keine Spur mehr von dem Buch auf dem Tisch. Ich dachte wirklich, dass mir mein benebelter Verstand einen Streich gespielt hatte. Ich nahm meine  sonntägliche Routine wieder auf, holte die Leine und begab mich mit dem bereits erwartungsvoll an der Tür stehenden Bertrand zum morgendlichen Spaziergang Auf der großen Wiese, nicht unweit meines Hauses plauderte und schäkerte ich, wie immer, mit Grete,  beklagte mich, wie immer, über Kollegen und Schüler und unseren dämlichen Direktor („appellieren Sie an den Intellekt Ihrer Schüler Kollege“) während mein Hund, wie immer,  mit Ihrem über die Wiese tollte. Und wie immer fragte ich mich, ob sie wohl zustimmen würde, wenn ich sie zu einem Kaffee einladen würde und welche Unterwäsche sie trug. Wie immer verabschiedete ich mich anstatt dessen. Heute bereue ich es, nicht gefragt zu haben. Aber ich schweife ab. Ich versorgte mich mit der üblichen gratis Wochenendlektüre  Bereits in die Schlagzeilen vertieft wendete ich meine Schritte meinem Haus zu. „Bleib stehen“ kam es unvermittelt von hinter mir, während mein Hund heftig nach hinten zog. Der keine zehn Zentimeter vorbei schießende Radler rief mir noch ein „Schaßaugertes Oaschloch“ zu, während er sich zügig entfernte. Mein Hund hatte abermals gesprochen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für Gedanken mir durch den Kopf gingen. Ich war wie betäubt. Nach und nach erst konnte ich wieder klare Gedanken fassen und überlegte was ich tun sollte. Ich vereinbarte mit Bertrand zunächst dass er seine Fähigkeit für sich behalten solle. Vor allem gegenüber meiner Frau. Diesen Abend würde ich sie ohnehin zum Flughafen bringen und dann würde Agnes, auch Lehrerein, die nächsten Wochen irgendwo in der Ägäis verbringen. Solange würden wir schon stillhalten können.

Was soll ich sagen: die nächsten Tage waren wohl die seltsamste Zeit meines Lebens. Bertrand hatte jene Teile meiner Bibliothek gelesen, die er erreichen konnte. Wittgenstein so sagte er, hätte ihn am meisten beindruckt. Und ich begann angesichts dieser Offenbarung ein neues Leben mit Hilfe dieses 8ten Weltwunders zu planen. Keine Schule, keine Schüler und meiner Frau mitsamt ihrem, von ihren Eltern geerbten Haus könnte ich auch endlich den Rücken kehren. Zuerst musste ich aber jemanden finden der mir einen sprechenden Hund überhaupt glaubte. Auf jeden Fall brauchte ich Publicity und würde dann unsere Auftritte meistbietend verkaufen können. Ich probierte zuerst das Fernsehen. Ich kam nicht einmal über den Telefonisten hinaus. Die Presse war wenig geneigt auch nur einen Termin zu vereinbaren. So groß wäre das Sommerloch nun auch wieder nicht. Selbst angefertigte Aufnahmen wurden mir wieder zurückgesandt. Ich sollte die Fakes  im Internet  veröffentlichen. Ein paar Klicks würden schon rausschauen. Insgesamt verlief die Suche nach jemanden der die Story veröffentlichen wollte enttäuschend.

Dies muss auch in etwa der Zeitraum gewesen sein als zwei der Nachbarn Ihre Katzen vermissten, was mir egal war. Zwei Vogelmörder weniger in den Gärten. Auch gut. Allerdings hätte ich das nicht auch genauso einem der ehemaligen Katzenbesitzer sagen sollen. Der anschließende Disput war zeitweilig durchaus untergriffig und bescherte mir den Ruf eines Katzenmörders. Was die Kommerzialisierung von Bertrands speziellen Fähigkeiten anging beschloss ich zu guter Letzt mein Glück bei einer Castingshow für besondere Talente. Die dachten wohl ich hätte eine Bauchrednernummer mit einem dressierten Hund und luden mich zu einer ersten Anhörung ein. Ich fuhr also mit Bertrand zum vereinbarten Termin zu dem Studio. Ich werde Sie jetzt nicht mit den Formalitäten und dem Bericht über eine endlose Warterei mit einem Haufen Talentbefreiter Idioten langweilen, die für Ihre paar Minuten Ruhm bereit waren sich zu den unglaublichsten Peinlichkeiten zu erniedrigen. Wir betraten den Anhörungsraum. Ich begrüßte die anwesende Jury, die über die Aufnahme in das Programm entscheiden würden. Ich legte Bertrand ein mitgebrachtes Buch vor, natürlich Wittgenstein, und sagte zur Jury „Mein Hund liest Wittgenstein“ und zu ihm: „Leg´ los! Lies ihnen was vor!“ Bertrand sah mich an, wedelte zaghaft und sagte: „Wuff!“ Malen Sie sich selbst die Szene aus als ich Bertrand abwechselnd anflehte, bat, drohte während ich die Jury versuchte dazu zu bewegen uns noch ein wenig Zeit zu geben, weil er wohl nur sowas wie Lampenfieber hätte. 5 Minuten später verließen wir, eskortiert von zwei stämmigen Herren der Security das Gebäude. Wieder daheim angekommen fragte ich Bertrand was wohl in Ihn gefahren wäre und warum er mich derartig hintergangen hatte. Unsere Chance auf Ruhm und finanzielle Unabhängigkeit, dahin. Wohl mein Ruhm und meine Unabhängigkeit meinte Bertrand und außerdem wolle er nicht den Pausenclown für mich spielen, das wäre eine Beleidigung für seine Intelligenz, er hätte schließlich auch seine Würde. Nach einem kurzen und lauten Streit über Freundschaft und Loyalität ließ ich das undankbare Vieh im Haus zurück und begab mich zu meinem Stammwirt. Gut sediert kehrte ich Stunden später schließlich nach Hause zurück und begab mich sofort zu Bett.

Nur wenige Stunden später holte mich die Polizei unsanft aus selbigem wieder heraus-und nahm mich umgehend wegen Ermordung meiner Frau fest.“Für den Unfug, wern´s mit Fug und Recht verknackt“ beschied mir einer der Bullen. Wohl eine Lieblingsphrase von ihm, denn er verwendete diesen Euphemismus gern und oft. Desorientiert und noch halb betrunken verstand ich erst einmal gar nichts. 8 Mann schoben und zerrten mich ins Freie. Der Weg durch das Haus Richtung Streifenwagen offenbarte die Spuren eines Kampfes. Umgestürzte Möbel, Bücher, lagen verstreut im verwüsteten Wohnzimmer durcheinander. Im Vorgarten lag der Kadaver der verschollenen Nachbarkatze. Der Nachbar selbst, der am Gartenzaun stand und sich eben  mit dem neunten Polizisten unterhalten hatte schrie: „Des is der Mörder!“  Ob er mich des Mordes an seiner Katze, meiner Frau oder doch beider bezichtigte blieb offen. Das Blut an meinen Händen bemerkte ich erst im Verhörraum des Kommissariats. Das Verhör offenbarte mir einmal, dass ich Agnes gestrige Rückkehr vergessen hatte des Weiteren, dass sie offenbar eine Scheidung vorbereitet hatte. Entsprechende Dokumente hatte die Polizei im Haus entdeckt. Hinreichend Motiv für einen Totschlag. Ursprünglich wollten sie eigentlich einen Fall von Tierquälerei überprüfen, der angezeigt worden war  Warum ein halbes Dutzend tiefgefrorener Katzen im Tiefkühler lagen wollten sie wissen und warum ich die eine in den Vorgarten geworfen hatte sowieso. Ich hatte keine Ahnung. Spätestens als ich Ihnen sagte sie sollten doch meinen Hund fragen, war Ihnen noch bevor sie von dem Debakel bei der Talentshow hörten, klar, dass sie es mit einem Verrückten zu tun hatten. Der hinzugezogene Psychologe brauchte nicht allzu lange um einen starken Verdacht für eine schwere Psychose zu attestieren. Er empfahl dringend bereits während der U-Haft entsprechende psychologische Betreuung.

In meiner Zelle sitze ich nun die zweite Nacht, während ich dies niederschreibe. Eigentlich hat man mir sämtliche spitzen Gegenstände und wegen Suizidgefahr auch Gürtel und Schuhbänder abgenommen. Sie werden sich fragen wie ich an einen Stift und Papier gekommen bin. Vor einigen Stunden öffnete sich die Essensklappe und Bertrand blickte zu mir hinein. „Hilf mir hier raus, sag ihnen was geschehen ist!“  Bat ich. „Sicher nicht. Dann wäre doch die ganze Mühe umsonst gewesen!“ antwortete er. „Du warst das? Warum?“ „Du kennst doch noch Gretes Hundemädchen? Die kleine Hübsche.Wir trafen sie vor drei Jahren das erste Mal auf der Wiese. Ihre Anmut, das Gesicht, diese Läufe und erst ihr hinreißender Duft! Ich war sofort verliebt! Ich wartete Wochen darauf, dass sie in Hitze kam und ich konnte das bevorstehende Ereignis schon riechen! Nur noch ein paar Tage! Und was geschah dann? Du Arsch lässt mich kastrieren! Ich lasse Dir die Wahl und etwas zu schreiben. Viele Leute wollen noch etwas schreiben bevor sie gehen habe ich gehört! Gehab Dich wohl!

Die Luke fiel zu nachdem er einige Bogen Papier und sein Halsband mit Leine durchgeschoben hatte. Einige Zeit überlegte ich noch, dann wählte ich. Viel Zeit habe ich nicht mehr bis die Wärter ihren Rundgang beginnen. Den Anknüpfpunkt für die Leine habe ich gefunden, sie ist gut befestigt. Ich hoffe sie hält. Das ist das Ende!


Aktennotiz: Der psychotische Häftling in Zelle drei wurde heute Morgen den 27.07.2013 um 05 Uhr.45 Uhr beim morgendlichen Rundgang des Wachhabenden stranguliert aufgefunden. Wiederbelebungsmaßnahmen blieben erfolglos. Ein, vom Häftling wohl vor dem Suizid angefertigtes, Schriftstück  wurde gefunden. Wie der Gefangene an Papier, Stift und das Hundehalsband kam wird durch eine interne Untersuchung geklärt werden müssen, zumal nichts dafür spricht, dass er jemals einen Hund hatte.