FUG UND UNFUG

Christian Weimann

„Die Liebe ist eine Himmelsmacht, die selten jemand glücklich macht“. Lothar hat die weisen Worte seines routinierten Scheidungsanwaltes noch gut im Ohr, als er einen – weiteren -  Schluck des wunderbaren Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve zu sich nimmt. Was sonst macht aus grundsätzlich vernunftbegabten Wesen in kürzester Zeit schnurstracks triebgesteuerte, ins Verderben laufende Idioten? Definiert man, weisen Männern folgend, Glück als Abwesenheit von Leid,  so gilt’s wohl, der Liebe auf ewig zu entsagen!

40 Jahre alt, bis vor drei Monaten noch als erfolgreich geltend, sitzt der frisch Geschiedene, um Haus, Auto, Ehre, Geld, die halbe Bierdeckelsammlung und zwei Kinder Betrogene in inniger Zweisamkeit mit der zweiten Flasche dieses im ehelichen Aufteilungsverfahren geretteten Weines. Eine Situation, die jeden Helden in sentimentalen Rückblick fallen ließe, fatal jedoch für einen leicht versoffenen Romantiker wie Lothar! Soweit er zurückdenken kann, war doch zumeist die Liebe die Triebfeder seines Lebens!

Schon im zarten Alter von zwölf Jahren hatte es ihn erstmals so richtig aus der Bahn geworfen. Manuela F. hieß das Ziel der Sehnsucht – Begierde wäre noch verfrüht gewesen. Jeden Mittwoch hatte sie Unterricht im gleichen Tennisklub, zur selben Zeit wie er, sie auf Platz vier, er, in jeder Hinsicht leicht daneben, auf Platz drei. Gott, war sie entzückend, gleich alt, gleiche Interessen (Tennis), überdies gleicher Schulweg, und sogar - beider Väter fuhren Opel. Alles schien perfekt, er musste bloß irgendwie dafür sorgen, von ihr auch bemerkt zu werden.

Stressreich war es freilich, während der gesamten Trainingsstunde durch tief aufgeblasene Brust nicht vorhandene Muskulatur vorzutäuschen und dennoch bei Atem zu bleiben. Doch schien die Mühe sich zu lohnen, hin und wieder schien es ihm, als lächle sie ihm zu – oder war es eher ein Grinsen? Jedenfalls ging es bald bergauf – hatte sie in den ersten Wochen auf seine vor Spielbeginn stets liebevoll vorgetragene Frage: „Wie geht es Dir“ noch alternierend mit „Lass mich in Ruh“ oder „Schleich Dich“ geantwortet, so konnte er nunmehr ein „Danke, aber das geht Dich nichts an, lass mich in Ruh und schleich Dich“ vernehmen.

„Danke“ - Die Fortschritte im mühevollen Eroberungskrieg waren unübersehbar. Lothars inbrünstige Gebete zum lieben Gott, seinem Schutzengel und auch seinem Namenspatron – damals war er tiefgläubig – waren offensichtlich erhört worden. Frisch ermutigt und gerade dreizehn geworden, sollte er wohl zum Sturmangriff übergehen.

Praktisch jeden Morgen bot sich eine fantastische Gelegenheit. Manuela und er besuchten benachbarte Schulen und  nutzten täglich denselben Bus – das heißt, er stieg nur ein, wenn er Manuela bereits drinnen wusste. Die letzten dreihundert Fahrten schien sie ihn zwar nicht bemerkt zu haben, aber er hielt sich auch immer gut fünf Meter entfernt von ihr. So konnte er sie, ebenso unauffällig wie schwitzend beobachten. Die heftige Transpiration war nicht allein der Aufregung, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass er zur Verschleierung seiner schmächtigen Statur zumindest drei Pullis unter dem Hemd trug, auf dass etwas vom Terminator auf ihn abfärbe.

Nach einigen gescheiterten Versuchen – oft war er, zierlich gewachsen, von anderen Passagieren abgedrängt worden – gelang es endlich, zur Angebeteten vorzudringen. Diese schien in ein intensives Gespräch mit zwei Freundinnen vertieft, als er sein hundertfach studiertes und vorm Spiegel geprobtes – nichts sollte dem Zufall überlassen werden – „Hallo Manuela, wie geht’s dir“ vernehmen ließ.

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Wer je die einem pubertierendem Knaben stressbedingt wegbrechende Stimme vernommen hat, wem derartiges gar selbst widerfahren ist, dem klingt auch das Lothars Kiekser folgende brüllende Gelächter der drei Mädchen vertraut im Ohr. „Ach, Du bist das! Hätt Dich fast nicht erkannt!“ Manuela konnte sich kaum halten. „Schaust ja voll peinlich aus, wie viele Pullis trägst denn unter dem Hemd?! Bei 31 Grad draussen!!“ Das Lachen nahm kein Ende. „Sei so nett und - schleich dich!“

„Sei so nett“  - das hatte sie gesagt! Er schwebte auf Wolke sieben. Sie mochte ihn, das  war unverkennbar, er musste alsbaldigst den nächsten Schritt wagen. Bloß – welchen?

Ein wenig Träumerei und Überlegung ließ Zeit verstreichen. Inzwischen war er vierzehn und zwanzig Zentimeter größer – bei gleicher Schulterbreite – geworden. Eigentümlich sah er aus, schmal und hoch. Sie hingegen war erblüht, mit weiblichen Attributen ausgestattet und sogar recht nett geworden. Zweimal hatten sie bereits – wegen Ausfall ihres Trainers – gemeinsam Tennis gespielt, man grüßte einander und tat ebenso auf cool wie erwachsen. Also allen Mut zusammengenommen und eine Einladung ausgesprochen: „Gehst du mit ins Kino? ‚King Kong gegen Godzilla’ im Flotten-Center?“

Immerhin lag Mitleid in ihren Augen, die Antwort jedoch war brutal: „Leider nicht möglich, ich schau mir heut mit Fred ‚Melody in Love’ an. Wir gehen in Baden ins Beethoven-Kino, da sind nur wenig Leut“ (!!)

Natürlich kannte er diesen Softporno mit Sascha Hehn in einer Hauptrolle, viermal hatte er den Film mit Freunden zwecks Fortbildung bereits gesehen! Nie hätte er aber gewagt, seine Angebetete in solch eine Vorstellung zu bitten! Der ekelhafte Fred! Was konnte ihr schon an diesem gutaussehenden achtzehnjährigem muskulösem Sohn reicher Eltern liegen, diesem schmähreichen Angeber mit seinem Golf GTI, den im Leben kein mannhafter Kampf, sondern lediglich eine Millionenerbschaft erwartete? Der – abgesehen von seinem Job als Model – Arbeit zu scheuen schien? Soll doch einer die Frauen verstehen! Nicht genug, dass dieser Mistkerl laufend die Meisterschaften im Tennisklub gewann, musste er sich auch noch seine große Liebe krallen?

Er dachte erstmals kurzfristig darüber nach, seinem Traum zu entsagen, beschloss aber dann doch, die Badner-Bahn zu nehmen und seinen Beobachtungsposten in der letzten Reihe des Beethoven-Kinos zu beziehen. Als er nach der dritten Vorstellung hoffnungsvoll aufgeben wollte, erschienen die beiden, und nahmen – sich unbeobachtet fühlend – schräg vor ihm Platz. Was er dann zu sehen bekam, raubte ihm Sinne und Fassung. Tränen in den Augen sprang er auf und rannte aus dem Saal! „Was machst Du hier?!“. Ihr erschrockenes Rufen hörte er nicht mehr.

Lothar öffnet eine zweite Flasche Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve. Die Erinnerung nimmt ihn etwas mit, er schenkt nach.

Nach dem schrecklichen Erlebnis im Kino beschloss er, Priester zu werden. Im Tennisklub hielt sie sich nur selten auf, es vergingen gut zwei Jahre, bis er Manuela wieder traf. Beide waren inzwischen sechzehn geworden, er etwas breiter und recht adrett geworden, sie ein Pin-Up und nun durchaus daran interessiert, die moralische Widerstandskraft des angehenden Geistlichen auszutesten. Je mehr er sich zierte, desto stärker legte sie sich ins Zeug. Vergeblich! Er hatte das Interesse an ihr völlig verloren und schrieb dies neben der erlebten Enttäuschung seiner religiösen Berufung zu. Von dieser wurde er allerdings durch intensivere Auseinandersetzung mit den Lehren der heiligen Mutter Kirche allmählich geheilt, was sich ganz gut traf, da nun jeden Mittwoch um sechzehn Uhr die wundervolle Landesmeisterin Anna auf dem Platz nebenan trainierte. Ein Traum in blond!

Lothar schenkt den Rest der Flasche in sein Glas und schmunzelt, wenngleich etwas melancholisch. Diese Anna! Drei Jahre älter als er, damals eine Göttin, ebenso perfekt wie scheinbar unerreichbar!

Zwei Jahre hatte er genutzt, um ihr Vertrauter zu werden. Zuerst freundlich zögernd, dann offener, saß sie gerne plaudernd mit dem inzwischen Achtzehnjährigem im Klub beisammen. Sie war damals unsterblich in den nunmehrigen Trainer Fred verliebt, ihm geradezu hörig, obgleich dieser – schamlos unverborgen – drei Beziehungen zeitgleich führte; neben Anna mit einer alte Schachtel, die bereits unvorstellbare 32 Jahre zählte, aber auch – immer wieder - mit Lothars verblichenem Traum Manuela. Sohin fand sich genug Gesprächsstoff, Anna klagte ihm ihr Leid. Er begann, Tag und Nacht und alle sonstige Zeit, an sie zu denken und von ihr zu träumen. Nie zuvor – nicht einmal in der heißesten Anbetungsphase gegenüber Manuela – hatte er so intensiv geliebt. Mit jeder Faser seines Körpers verzehrte er sich nach ihr, all sein Sinnen drehte sich  bloß um sie. Treffen im Tennisclub folgten gemeinsame Lokalbesuche, bis Anna – sich selbst einladend – ihn endlich in seiner zwischenzeitig bezogenen Studentenwohnung besuchte. Zeit hatte sie ja, da ihr Liebster gerade bei seiner 32-jährigen Mumie weilte – oder sich mit Manuela vergnügte.

Nach vorerst ein wenig und dann reichlichem Alkohol teilte sie ihm unverblümt mit, dass sie
1.    ihn ganz nett fände
2.    ihr Freund bei einer anderen weile
3.    sie deshalb sofort mit ihm schlafen wolle

Nun, einerseits schien ein Traum in Erfüllung zu gehen, anderseits war er nicht ganz vorbereitet auf diese Prüfung. Die Situation erschien ebenso chanchen- wie risikoreich, auch mit der Gefahr des Scheiterns bedroht. Der Besuch diverser Erwachsenenfilme hatte ihm zwar gezeigt, wie diese Herausforderung technisch zu bewältigen wäre, aber etwas mehr Romantik zuvor oder doch zumindest eine kursorische Abstimmung, wie viele gemeinsame Kinder sie mit ihm haben wolle, hatte er doch erhofft. Wie auch immer, diese Gelegenheit konnte er nicht verstreichen lassen und willigte – scheinbar cool – ein.

Lothar öffnet die dritte Flasche des wunderbaren Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve und erinnert sich schmunzelnd des seinerzeitigen Desasters.

Anna – nicht ahnend, dass sie ein ius primae noctis ausübte - wollte sich an Fred rächend richtig bös durchziehen lassen, während Klein-Lothar von seiner in Tagträumen ansonsten stets zuverlässigen Manneskraft schmählich im Stich gelassen wurde. Ihr: „Na ja, das soll manchen Männern – selbst jungen – ja passieren (Fred aber nie)“, verbunden mit sofortigem Verlassen seiner Wohnung, erschien ihm nur wenig tröstlich.

In den folgenden Wochen und Monaten musste er  feststellen, dass er Anna immer weniger verfallen war, während er gleichzeitig Nachhilfeunterricht bei der – geradezu greisenhaft alten, aber sehr einfühlsamen – achtundzwanzigjährigen Roswitha genoss. Er gewann an erworbenen Fertigkeiten ebenso wie er lernte, in bestimmten Situationen zu vertrauen. Man(n) wird offenbar nicht gebissen, eine Urangst, die abgelegt zu haben höchste Wonnen beschert.

Lothar schenkt sein Glas erneut voll. Ja, damals lag die Welt ausgebreitet vor ihm!

Als Mann angelernt, nunmehr Anfang zwanzig, gut gewachsener Student mit glänzenden Zukunftsaussichten, stiegen seine Aktien. Durch die Affäre mit Roswitha interessant geworden, buhlten die von Fred gleichzeitig – wegen Roswitha – verlassenen Grazien Manuela und Anna wetteifernd um seine Gunst. Nur bedingt konnte er davon Gebrauch machen, zunehmend wurden seine Gefühle von der entzückenden Monika vereinnahmt. Seit kurzem im Tennisklub, etwas jünger als er, keck, fesch, lustig, eine Augenweide! Binnen kurzer Zeit war Anna ebenso wie Manuela emotional vergessen.

Zwei oder drei Kinobesuche, einige gemeinsame Partybesuche – schon waren sie ein Paar. Monika himmelte ihn an, las ihm Wünsche von den Augen ab und hätte dies wohl noch lange getan - so er sie bloß nicht geheiratet hätte.

Lothar leert die Flasche Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve und öffnet die vierte. Er kann sich nicht mehr entsinnen, wann er das Interesse an Monika verlor – oder sie an ihm.

Während er seine Steuerberatungskanzlei aufbaute, Tag und Nacht arbeitete, blieb Monika daheim und kümmerte sich um die beiden gemeinsamen Kinder. Eine schöne Wohnung in Wiener Bestlage mit reichlich Terrasse, Mitgliedschaft im noblen Golfklub auch für die Kinder, shoppen in  New York, Schwimmen auf den Malediven, als Ausgleich ihr esoterisches Töpfern und seine Teilnahme an einem völlig verrücktem Literaturwettbewerb im Waldviertel – Substanz genug, um glücklich zu sein, hievon war er überzeugt – meistens.

Lothar nimmt noch einen Schluck. Warum war das alles schiefgegangen?

Wie die meisten Frauen bewunderte Monika jeden erfolgreichen Mann, es sei denn, es wäre der eigene, an diesem war sie zunehmend weniger interessiert. Er hingegen war stets bereit, sich ausschließlich Monika zu widmen, Tag und Nacht ihre Wünsche zu erahnen und zu erfüllen – so ihm Beruf, Kinder und Hobbys sowie Rapid Wien hiefür Zeit ließen, und dies kam sicherlich mehrmals jährlich vor. Zumindest in den ungeraden Jahren, also jedenfalls hin und wieder oder auch ab und zu.

Nun gut, er hatte bereits gelernt, dass Liebe sterben kann, die nun vollzogene Scheidung war bloß das logische Ende dieser Entwicklung.

Die vierte Flasche neigt sich dem Ende zu. Lothar fühlt sich frei von Sehnsucht, Ruhe befällt ihn. Hierin muss das von großen Philosophen beschriebene Glück liegen! Nie mehr einer Frau verfallen, nie mehr lieben. Einfach und zufrieden leben! Vergiss Nietzsche, verzichte auf Frau und spare die mühsame Anwendung der Peitsche!

Diese Erkenntnis durchdringt ihn tief. Dieses Gefühl muss ausgekostet werden, sohin öffnet er die fünfte Flasche Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve. Keine Frauen mehr, nie wieder! Ganz allein wird er sein Leben fürderhin bestreiten, ganz bestimmt - meistens jedenfalls. Höchstens ab und zu mit der seit einigen Jahren in seinem Unternehmen beschäftigten, ausnehmend klugen, ebenso schönen wie vorerst unnahbaren Aurelia ausgehen. Man könnte unauffällig einige berufliche Abendtermine privat ausklingen lassen, seriöse Vorschläge wie Theater- und Opernbesuche folgen lassen etc., ohne die eben gewonnene Freiheit zu gefährden.

Seltsam eigentlich, dass Aurelia noch frei ist. Schön, gescheit, fleißig, lustig, sportlich, vielleicht etwas hantig und selbst ihm – ihrem Chef – gegenüber launisch, aber doch stets loyal.

Ein weiteres Glas wird gefüllt. Schön, dass er das mit den Frauen hinter sich hat. Allerdings bringt der Gedanke an Aurelia seine frisch erworbene Zufriedenheit doch in gewisse Unruhe, Hormone beginnen zu zirkulieren und nehmen den Kampf gegen die intellektuelle Erkenntnis dieser – bloß - zufriedenen Lebensweise auf. Schließlich ist er gerade mal vierzig Jahre alt, überdies kerngesund. Eigentlich – er schenkt ein weiteres Glas voll – ist Aurelia außergewöhnlich, seine vormaligen Lieben weit überragend. Dieses entzückende Geschöpf weiß nicht um ihre Ausstrahlung, völlig natürlich verhält sie sich, jede Koketterie liegt ihr fern. Dennoch – der Gefahr, zu lieben, wird er sich nicht mehr aussetzen. Also sicher nicht.

Lothar zwingt sich zu reinem philosophischem Denken, welches Zufriedenheit und folglich Glück verheißt – und versucht, die hormonbedingt frisch herbeigezauberten Bilder der völlig unbekleideten Aurelia zu verdrängen. Nachdem dies nicht gelingen will, leert er die Flasche und begibt sich – träumend – zu Bett.


Jahre später erinnert sich der nun schon lange mit Aurelia glücklich verheiratete Lothar an überwundene Gedanken! Wie konnte er nur je in Erwägung ziehen, Verzicht auf Liebe wäre der Weg zum Glück! Vergiss die Philosophen, lies Poeten!! Er öffnet eine Flasche Chateaux Cuvee Barrique Extraordinaire Reserve. Die Wärme des Weines durchströmt ihn wohlig. Welch Glück, Aurelia lebenslang lieben zu dürfen, so wie sie es auch ihm versprochen hat! Geliebt zu werden! Wieder vertrauen zu können! Bis dass der Tod uns scheide! Sogar seine Lieblingsmusik hat sie spielen lassen zur Hochzeit, Klänge aus Lehars Meisteroperette:
„Die lustige Witwe“!!