Sowas wie Sternstunden der Menschheit

Stefan Loicht

Historische Miniaturen

Es passiert etwas - ständig. Vieles wird bemerkt, einiges gemerkt, auch berichtet und beschrieben, aber wenig davon brennt sich in das Gedächtnis der Menschheit ein. Wenn dem dann so ist, ragen diese Ereignisse aus dem Gewebe der historischen Struktur hervor wie ein Wimmerl.

Die Bedeutung, die diesen aus dem beständigen Fluss der Geschichte herausstechenden Wegmarken verliehen wird, unterliegt der änderlichen Haltung des Publikums, weswegen so manches in Vergessenheit gerät oder erst viele Generationen später die Würdigung des Besonderen erfährt.

Ich werte nicht, ob der Glanz, der von diesen Stunden der Einzigartigkeit und ihrer Protagonisten herabstrahlt wie der Abendstern, ein falscher ist, ich berichte nur getreulich, was die Ahnen geschaut – ob es Fug oder Unfug ist, darüber mögen andere richten.

Ein Versprechen für die Zukunft, 3. Juli 1982

Die Rolling Stones geben ein Konzert im Wiener Praterstadion. Der sich der Bedeutsamkeit des Ereignisses bewusste Geschichtsprofessor Günter R. freut sich seit Bekanntgabe des Termins auf diese für lokale Verhältnisses epochale Veranstaltung, schließlich haben wir es mit der Anmutung von Anti-Establishment zu tun.

Kurzer Einschub bzw. Exkurs: Rapid oder Austria, das ist keine existentielle Frage, die einen können bisweilen den Kampf der Arbeiterklasse repräsentieren, die anderen manchmal die barocke Schönheit des Spiels. Es verschwimmt zusehends und beides ist in Ordnung, solange Innsbruck gewinnt. Aber die wirkliche Entscheidung zwischen Dödeln und Schöngeistern fällt bei Stones oder Beatles. Peinliche plagiierende Poser oder melodiemächtige musikalische Magier. Der Vergleich Dussel-Donald hinkt, weil der Max und ich den Dussel mögen.

Wie auch immer, Günter Rs. an mit akustischen Gitarren vorgetragene Protestsongs gewohnte Ohren ertragen den Schalldruck nicht, woraufhin er aus irgendeinem Papier Kügelchen formt und sich diese in die Gehörgänge stopft. Das Erwartete passiert, die Pfropfen wandern und Günter R. sieht sich genötigt, die Sanitätsstation aufzusuchen. Die Diensthabende ist eine prachtvolle wie durchgeistigte Erscheinung und dieser Liebe auf den ersten Blick wird die Tochter Michaela entspringen, die die erste realistische Tamponwerbung auf die Bildschirme bringen wird. Keine fröhlich hüpfenden, sondern mieselsüchtige und unberechenbare Kronen der Schöpfung. Wie sie halt so sind.

Der Big Bang, 30. Juni 1908

Der autodidaktische und auch unter nicht gerade herkömmlichen Maßstäben gemessene völlig verrückte sibirische Wissenschaftler Sergej Volkoff hat eine Idee: im Vakuum zweier Magdeburger Halbkugeln einen Sprengsatz detonieren zu lassen. Nur, wie zünden im luftleeren Raum, da es ja bekanntlich Sauerstoff zu sowas braucht? Er beschließt, die Zerfallsenergie eines toten Eichhörnchens zu nutzen, wobei ihm gar nicht bewusst ist, dass das Uran, aus dem seine Kugel geschmiedet ist, spaltbares Material ist. Eine atomare Kettenreaktion ist ihm unbekannt und unter diesen Voraussetzungen auch nicht zu erwarten. Zufällig löst sich von einem gerade vorbeikommenden (und viel später als Tschuri/Tuttle bekannt gewordenen) Kometen ein Stück, tritt in die Erdatmosphäre ein und trifft zielgenau Volkoff und sein wegen seiner ausgeprägten Paranoia ziemlich abgelegenes Labor. Der verbliebene Rest ist unter der dem Stichwort "Tunguska" nachzulesen.

Revolution eines Genres, 14. August 1984

Zweibach ist ein der Geschichte anheimgefallener Sommerfrischeort, keiner aus Stefan Zweigs Welt von vorgestern, wo kultivierte Herren in bizarr anmutenden Beinkleidern mit soignierten Damen Tee zum Tennis nahmen und man sich über den nächsten Lungenkrankheitskurort unterhielt, sondern einer von denen aus der Welt von gestern, in der rostige Schilder mit der Aufschrift "Zweibach liest Kronen Zeitung" von nichts mehr als der schieren Existenz zeugen und eigelbe Strichacht-Mercedesse und orangegelbe VW-Variants vom Ankommen der Kleinstbürger in der Mittelschicht berichten und man es sich zu leisten anfängt, die Familie einen halben Sommer lang loszuwerden.

Träge fließt der Riesingbach nach der ortsnamensgebenden Einmündung des Kotbachs dahin, es zittern die Eschen im leichten Wind, die Sommerhitze legt sich drückend auf die Kukuruzfelder im Talgrund, als sich vor dem einzigen unbekannten Gast im Dorfwirtshaus (Fremdenzimmer: Klo am Gang inklusive Fliegen, Frühstück: Langsemmel, sehr billige Extrawurst) eine Szenerie mit ungeahnten Folgen zu entfalten beginnt.

Ein Steyr-Pfefferstesser mit Raiffeisen-Rallyestreifen bollert über die Dorfstraße, am Gouvernal ein sichtlich derangierter Simlinger Hans jr., der in der gut gefüllten Gaststube sogleich verkünden wird, dass die Laura Bäumler - die, ähem, Dorfschönheit - verschwunden sei. Mit Hupen wie sie sich ein Traktorist nur wünschen kann, landesüblicher Bildungsferne, gänzlicher Ahnungslosigkeit und mehr oder weniger gesundem Sexualtrieb ausgestattet, ist sie normalerweise die Hauptattraktion des verschlafenen Nests.

Tourismus in Gefahr! Die Einwohner versammeln sich, Mutmaßungen werden an- und Suchtrupps zusammengestellt, Jäger ausgeschickt und alle Götter sowie das Puff in der Bezirkshauptstadt angerufen. In der sich breitmachenden Verzweiflung werden gegenseitige Anschuldigungen erhoben und es offenbart sich ein komplexes Beziehungsgeflecht:

Der Dorfgendarm hat was mit der verwitweten Großbäuerin, deren totgeglaubter Mann ist aber nur abgetaucht, weil er sich mit der Balkanmafia eingelassen hat, der Wirt hatte ein Pantscherl mit der Laura, ihm und seinem Bruder gehört das oben erwähnte Puff, der Trafikant und die Kellnerin, der Hans und die Laura, der Laura ihr Vater – der Baumeister – ist vom Wirt über den Tisch gezogen worden, der Arzt ist ein Spinner, der Postler ist ein Junkie und haut seine Frau, die aber mit dem Sohn vom Bürgermeister und so weiter und so fort. Die aus der Landeshauptstadt herbeigerufen Krimineser interessieren sich hauptsächlich für die Erdäpfelknödel und die Eulen sind nicht was sie scheinen.

Schließlich stellt sich heraus, dass die Laura nur mit ihrer ihr aufs Haar gleichenden Cousine auf einem Volksfest jenseits der Bezirksgrenzen war und die beiden jungen Damen im Anschluss daran bei den Wackel- und vermeintlichen Kraftsteinen ein paar Bauerntölpel verzaht haben.

Der geheimnisvolle und unbekannte Pensionsgast - an sich auf Bildungs- und Kulturreise in einer ihm fremden Gegend - ist entzückt und hinterläßt, obwohl er dank eines in Bayern lebenden Onkels und einem Studienaufenthalt in Salzburg der deutschen Zunge durchaus mächtig ist, im Gästebuch einen englischsprachigen Eintrag: „I had truly creative days in lovely Twin Creeks, thank you everybody, yours sincerely, David Lynch“.

Moment der Erkenntnis, 1. Mai 1911

Es wird in den meisten Fällen ein ungelüftetes Geheimnis bleiben, wann und wie den Dichter die Inspiration ereilt, etwas ins Werk zu setzen, das epochal, das epochemachend und vielleicht auch eine Epoche benennend ist.

Unbenannte Gedanken, unbeschreibbare Gefühle, Ahnungen, die zum Worte drängen, es doch nicht finden, und dann gibt es ein Erlebnis, denn wo die Begriffe fehlen, stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

Auf einer Reise ins südliche Nachbarland wird einem - allerdings als zumindest verschroben zu bezeichnenden - Kulturphilosophen im Frühjahr 1911 eine solche Erweckung zuteil. Dieser Moment, wenn die Dämme der Sprachlosigkeit brechen, wenn sich die Wahrheit der Zeitläufte offenbart, wenn in unmissverständlicher Klarheit vor einem steht, was die Welt im Innersten zusammenhält - oder sie zerbrechen lässt.

Oswald Spengler besucht ein oberösterreichisches Zeltfest und der Untergang des Abendlandes scheint ihm unvermeidlich.

No Way, 29. April 1945

Auf einem grobkörnigen, unscharfen Foto, das an diesem Tag entstanden ist, sieht man im Vordergrund amerikanische Soldaten, im Hintergrund tote, vermutlich verletzte und auch stehende, sich ergebende Männer. Einer der GIs schießt mit seiner Pistole in die Luft und macht dazu eine stoppende Handbewegung. Dieser Mann ist der 28 Jahre alte Colonel Felix Sparks, kommandierender Offizier des 3. Bataillons des 157. Regiments der 45. US-Infanteriedivision, den Thunderbirds.

Sparks wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, schlug sich in der großen Depression als Wanderarbeiter durch, ging dann zur Army, die ihm den Collegebesuch ermöglichte. Er landete im Juli 1943 auf Sizilien, war im September 1943 an der Landung bei Salerno beteiligt, gehörte zu denen, die im Jänner 1944 bei Anzio im Rahmen der Operation Shingle die zweite Front eröffneten, um die deutsche Winterlinie zu durchbrechen, überstand dies als einziger seines Bataillons unbeschadet, zog im Juni in Rom ein, um schließlich im August in Südfrankreich an Land zu gehen.

Nach heftigen Kämpfen in den Vogesen und bei Hagenau überquerte die Division am 21. März 1945 den Rhein, gewann die Schlacht um Aschaffenburg, nahm Nürnberg, setzte am 27. April über die Donau und befreite am 29. April das Konzentrationslager Dachau.

Keine Ausbildung, keine Erfahrung aus noch so vielen Gefechten konnte die Amerikaner auf das vorbereiten, was sie in Dachau erwartete. 32 000 Gefangene, die meisten mehr tot als lebendig. Noch bevor sie das eigentliche Lager betraten, stießen sie auf 39 Güterwaggons voll mit ausgemergelten Leichen, davor liegend erst vor kurzem Erschlagene. Überall der Gestank nicht nur von Verwesung. Im Lager selbst Gaskammern, in denen Tote bis unter die Decke gestapelt waren.

Mehrere hundert SS-Wachen ergaben sich teilweise lächelnd, sei es weil nicht die Russen zuerst da waren, sei es, weil sie die Thunderbirds nicht ernst nahmen. Diese, hysterisch, weinend , kotzend, ungläubig, katatonisch, konnten all das nicht fassen. Und bei der ersten Zuckung eines SS-lers eröffnete der zur Bewachung eingeteilte MG-Schütze das Feuer.

Der erste Feuerstoß ist vorbei, Colonel Felix Sparks betritt den offenen Hof und schießt in die Luft, um seine Männer davon abzuhalten, mehr Rache zu nehmen. Nichts würde ihn dazu bringen, sich auf das barbarische Niveau der Deutschen zu begeben, sie würden ihn nicht so weit bringen, das wofür er kämpft, zu verraten.

Er ist der Befreier, er ist nicht der Henker.

Nach dem Krieg wurde er Jurist und Staatsanwalt, er kandidierte für die Demokraten, wurde Kommandeur der Nationalgarde und startete eine Initiative zur Einschränkung von privatem Waffenbesitz. Er war das, was Stephen E. Ambrose einen „Citizen Soldier“ nannte und damit meinte, dass die Verfasstheit einer demokratischen Überzeugung in ihrer moralischen Überlegenheit immer über das Böse triumphieren wird.

Der erste echte Kontakt, 7. September 2014

Herr Bert und Herr Rufus absolvieren ihren zweiten Wertungslauf beim Oldtimer-Grand Prix Mariazell. Rauchend, spotzend und schlingernd gibt mitten in der dritten Runde – genau in der uneinsehbaren Bergabwaldpassage mit der tückischen Dreifachkurve – das Gefährt den Geist auf.

Das wäre nicht weiter verwunderlich, handelt es sich doch bei dem Fahrzeug um ein Triumph-Renngespann Baujahr 1961, dessen eingeschränkte Funktionsfähigkeit fast schon gewollt scheint und bei den Piloten um mit der Materie in nur rudimentärer Form bewanderte Amateure.

Was die beiden nicht wissen, ist, dass „Geist aufgeben“ im Prinzip wörtlich nehmen zu ist: als der frühere britische Besitzer des Gespanns an einem Rennen am irischen Mondello Park Circuit teilnahm, beschloss, angezogen von der Farbe (dunkles Grün) und dem trollig klingenden Namen des Rahmenherstellers (Fiddaman), ein Kobold im Luftfilterkasten Quartier zu nehmen. Er fühlte sich wohl, kam herum und vergalt es mit unsichtbarer Wartung der fehleranfälligen Technik. 

Jörg Mauthe phantasierte einst in der „Großen Hitze“ vom Zwergenreich im Ötscherland und so unrecht dürfte er nicht gehabt haben, denn der Triumph-Leprechaun entdeckte am Straßenrand eine alte Bekannte. Eine Austauschzwergin aus Schulzeiten, in die er sich damals unsterblich (wieder wörtlich) verliebte und die er aus den Augen verlor. Jetzt aber, im Moment des Wiedersehens warf er alle Vorsicht über Bord (wörtlich, was sonst), hielt das Werkl an und stürzte auf sie zu. Die Freude war ganz auf ihrer Seite und sie führten vor den verwirrten und staunenden Motorradfahrern einen langen Tanz auf. Herr Bert und Herr Rufus werden die ersten leibhaftigen Zeugen der Existenz eines bis dato nur sagenumwobenen Volkes und aus tief empfundener Dankbarkeit, dafür dass sie ihn hierher brachten, beschenkt sie der Kobold mit dem geheimen Wissen über die Lenkkopflagereinstellungsmöglichkeiten.

Manifestation des Physischen, 12. November 1973

Horst Pivonka betritt den Brandineser seines Vertrauens und begrüßt den Servierkörper mit dem üblichen blöden Standardspruch, den keiner mehr hören kann: „Wenn hier kein Stroh rum liegt, nehm ich halt an Stroh Rum!“ Der Schnapsjockey des Narkosestübchens grunzt und bringt das gewünschte Getränk an den Stammtisch, wo sich der Horst zu dem schon im fortgeschrittenen Stadium befindlichen Ferdinand Homolek, genannt der schöne Ferdi – ein begnadeter Heiratsschwindler und Vaginalschleimer – gesellt hat.

„Na, was machen deine international anerkannten Luder? Kampfkeifen wie immer?“ eröffnet der mit den sozialen Kernkompetenzen Sexismus und Vorurteile von der Vorsehung bedachte Horst die Konversation. „Gusch, König der Geisterbahn. Schaust aus wie ein frittiertes Frettchen in deiner Caritas-Couture für ganz Arme. Häng dir doch gleich ein Schild mit `Das Ende ist nah´ um.“

„Ferdi, es wird eine Zeit kommen, in der es alkoholfreies Bier, koffeinfreien Kaffee, zuckerfreie Limonade, fleischlose Würschtln und asexuelle Frauen geben wird. Mögest du sie erleben!“ „Besser so als ein Leben mit deiner alten Qaida, der Terrortante.“ „Da fällt mir ein: weißt, was eine Schrulla ist? Na, Schrulle, Trulla und Schlampe in einem.“ So geht es eine Zeitlang dahin, während Gert Steffens (dessen letztes Engagement erst kürzlich mit der Wiedervereinigung der Diskothek Saustall mit dem Hadersdorfer Sportkeller - samt halbautomatischer Kegelbahn - zu Ende ging) mit seiner Elektronenorgel nationale Evergreens zum Besten gibt.

Andere Gäste kommen und gehen, bis sich schließlich der Pfarrer Bischof mit Begleitung zu ihnen setzt. Um Missverständnissen vorzubeugen: der Geistliche heißt so. Den Zechkumpanen kommt das gerade recht. „Servas Doktor Fistus, na simma wieder beim spätberufenen Religionsstiften?“ Und mit Blick auf das trachtentragende Beiwagerl: „Und wer ist der schluchtenscheissende Halali-Lama an deiner Seite?“ Darauf der Priester mit den Segelohren: „Dies, meine verlorenen Schäflein, ist mein Vetter und Herz-Jesu-Tiroler Much.“

Es entspinnt sich eine angeregte Diskussion mit den Schwerpunkten Provinzialismus, Wasserkopf („S´sch gchibt mea Weana ols Tirola, obar dar Chchineser isch no mehr“) und leiblichen Aspekten, in Zuge derer der Horst vom Westösterreicher so etwas wie der situationselastischen Heteronormativität („I moan du Beidl bisch a Woama, wennst nit Tschuschnweiba schnaxlst.“) geziehen wird, was dieser mit der Bemerkung kontert, dass in des Muchs Herkunftsregion Liebe machen meistens mit der Zuneigung zu Paarhufern oder Familienmitgliedern konnotiert würde.

Das war wohl ein Wort zu viel – mit einer vom Heuwenden nahezu roboterhaft eingeübten Handbewegung reißt das grobschlächtige Egger-Lienz-Modell seinem Kontrahenten eine Mächtige an: und so entdeckt Horst Pivonka an diesem denkwürdigen Tag die Faustwatsche. Auch wenn dereinst sein Konterfei am Sieben-Euro-Schein prangen wird, kann man aber mit Fug und Recht behaupten, dass das Unfug ist.