DER ZIRKUS

Christian Ondrak

Freitag. Feierabend. Freizeit. Heimweg. Offenbar ist ein Zirkus in der Stadt, wie ich am Flugzettel erkenne, den mir ein etwas in die Jahre gekommener Clown in einem ebenso ältlichen Kostüm in die Hand drückt. Und natürlich will sie hin. Warum hab´ ich den Zettel überhaupt behalten? „Was wollen wir dort? Das ist mit Sicherheit irgend so ein alter, heruntergekommener, grindiger Zirkus in dem die Viecher schon seit Jahren auf den Gnadentod warten und die Attraktionen in etwa so sensationell neu sind, wie die Erfindung der Schwerkraft!“ Aber was rede ich, wenn die Anbetungswürdige dort hin will, dann geht´s auch dort hin. Widerstand zwecklos. Wenigstens geht´s anschließend mit ihr ins Kino zum Friday Night Special. Wir zuckeln also abends zu dem Platz, auf dem der Zirkus campiert und ja, das Aussehen und Ambiente übertreffen meine Vorstellung sogar noch. Das einstmals rot, grün, blau bunte Zelt wirkt verschlissen und fadenscheinig, die Abspannung der Masten rostet vor sich hin. Kein Fahrzeug der Schausteller, das nicht schwerst verbraucht aussieht. Die Tiere in altertümlich anmutenden Käfigwägen wirken apathisch. Trostlos, das alles. „Du willst da echt hinein? Mich wundert´s, dass der Betrieb nicht schon längst von Tierschützern oder irgendeinem Amt wegen Einsturzgefahr ge­schlossen wurde!“ Ines will. Allein schon um nicht zugeben zu müssen, dass es ein Fehler war herzukommen. Immerhin sehen die Plakate, die Attraktionen, Sensationen und größte Unterhaltung versprechen, wie frisch gedruckt aus.
„Herrreinspatziert, herrrreinspatziert“ Groß ist das Zelt nicht. Trotz­dem verliert sich das Publikum auf den Rängen. Drei Dutzend? Wenn´s hoch kommt. Es müffelt nach Tiermist, alten Sägespänen und Moder. Das Männlein undefinierbaren Alters in der Mitte der Manege, beleuchtet von einem einzigen Spot, sieht aus wie das Abziehbild eines Zirkusdirektors aus einem Kinderbuch. Nur nicht ganz so strahlend vielleicht. „Willkommen liebes Publikum. Wir freuen uns Ihnen heute, dank unserer großartigen Künstler und Artisten, eine Vorführung präsentieren zu dürfen, die Ihresgleichen sucht. Lassen Sie sich mitreißen und erleben Sie einen unver­gess­lichen Abend! Bitte begrüßen Sie jetzt einen wahren Meister der Jonglage, den Mann mit den Spinnenhänden, denn er fängt alles und verliert nie etwas, den großartigen Kasimir!“ Trommelwirbel, Tusch, verhaltener Applaus aus den Rängen und ein dünner, langer Typ betritt, sein Requisitenwägelchen vor sich herschiebend, die Manege. Kasimir nimmt einige Bälle verschiedener Größe verneigt sich umständlich in vier Richtungen und beginnt zu jonglieren und zugegeben, der Knabe hat wirklich was Spinnenartiges. Immerhin fällt ihm tatsächlich nichts aus der Hand. Aufregend sieht trotzdem anders aus. Danach die Trapetzleute, die lebende Kanonenkugel (Wenigstens muss er in dem Minizelt nicht weit fliegen), die Schlangenfrau, die Dompteuse, wenn ich recht gesehen habe hat der „gefährliche, wilde Löwe“ noch genau einen Fangzahn, Clowns usw. usw. unterbrochen jeweils durch die Ansage des Männleins im Frack mit Zylinder. Nach einem weiteren Dressurakt wird endlich die letzte Nummer und der Höhepunkt der Show angepriesen. Der Zauberer, the phantastic Parnassus. Auch gut, Hauptsache das Ende ist in Sicht. Die Beleuchtung wird gedämpft. Der Illusionist betritt die Szenerie im halbdunkel, sein Gesicht erhellt von dem milchig blauen Licht, das von der etwa halbmetergroßen Kugel ausgeht, die er in seinen Händen hält. Glaskugel? Er wird uns doch wohl nicht die Zukunft voraussagen wollen? „Begleiten Sie mich auf eine Reise durch Raum und Zeit, Leben, Liebe und Tod und fürchten Sie sich nicht, es kann Ihnen nichts geschehen. Er hebt die Kugel über seinen Kopf. Das Leuchten wird intensiver und die Kugel beginnt zu wachsen. Der Magier hat die Kugel nicht mehr in Händen sondern er wird von ihr verschlungen und immer noch wächst die Kugel solange bis ich sie berühren kann. Ich sehe auch Ines eine Hand ausstrecken, die im Licht verschwindet und dann, dann sind wir in der Kugel. Ein kleiner dunkler Punkt stört die makellose Helligkeit. Ein Punkt der immer schneller größer wird, auf den ich zustürze. Eine Landschaft mit Bergen, mit von Flüssen tief eingeschnittenen Tälern beginnt sich zu offenbaren. Ich kann meinen Sturz nicht bremsen. Panik! Mehr Panik! Große Panik! Ich schreie hilflos mit den Armen rudernd. Plötzlich wachsen mir Schwingen. Ich stabilisiere mein hilfloses Trudeln kurz vor dem Aufschlag, strecke meine Flügel aus und gleite nur wenige Meter über dem Boden dahin. Ich fühle die Thermik und lasse mich von ihr nach oben tragen. Ich gleite eine schroffe Felswand entlang bis zu einem mächtigen Wasserfall. Vorbei ist es mit Thermik und entspanntem Gleiten. Die Luftströmung reißt unvermittelt ab und ich fliege mitten in den Wasserschwall der mich sofort nach unten zieht. Wieder schreie ich auf, doch der tosende Lärm des Wassers ver­schluckt meine Stimme mühelos. Nach endlosem Sturz schlage ich auf. Kein Wasser. Schlammiger Boden. Ich sitze in einem Graben und trage eine Uniform, meine rechte umklammert einen Karabiner. Artilleriefeuer. Ein direkter Einschlag. Die Druckwelle schleudert mich durch den Graben, Splitter zerfetzen meine linke Seite. Schmerzen. Ob ich diesmal auch Schreie, weiß ich nicht. Ich kann nichts hören, außer einem konstanten Ton. Gesichter über mir. Zwei Kameraden schleifen, tragen mich zum Lazarett. Der Feldscher beginnt die Uniform aufzuschneiden, versucht die Blutungen zu stoppen. Noch mehr Schmerz und ich verliere das Bewusstsein, erwache wieder mit aufgeregt schlagendem Herz. Hundegebell ganz nah. Blitzschnell verlasse ich den Bau; als Fuchs. Panisch flüchte ich vor der Meute und den Pferden und irgendwie gelingt es mir tatsächlich die Verfolger abzuschütteln. Später schlafe ich erschöpft in einem sicheren Versteck ein. Als ich er­wache ein neues Leben. Von Mal zu Mal ein Wechsel und jedes Mal absurder und trotzdem so real als wäre es echt. Ein Tiefsee­fisch, blind in ewiger Finsternis und Kälte, ein Musiker auf einer Bühne, bejubelt von tausenden Fans, ein Junkie, der sich zitternd vom Entzug eine Nadel in die Vene sticht; als Ines die auf mir sitzt und meinen Orgasmus beobachtet, ein Delinquent vor dem Exekutions­kommando. „Legt an! Feuer!“ ein Mathematikgenie, das nach Jahren der Forschung gerade eben den Fehler in der Riemann´schen Vermutung glasklar erkennt und im selben Moment verrückt wird, viertausend Jahre als Baum, der Generationen vergehen sieht, bis ich endlich morsch zu Boden gehe, ein unbekanntes Wesen in einem Universum voller fremder Sterne als Navigator eines c-beam glitzernd im Dunkeln, nahe des Tannhäuser Tor, auf der Suche nach neuen Welten und dann, der Geruch von modrigen Sägespänen, der Zauberer mit einer nur schwach glimmenden, kleinen Kugel in der Hand, der ein paar verabschiedende Worte sagt. Keine Ahnung ob auch die anderen Artisten sich noch von dem Publikum verab­schieben. Völlig egal, nur raus hier. Betäubt von den Eindrücken hunderter Leben verlassen wir den Zirkus, doch mit jedem Schritt verblasst die Erinnerung stärker, wie ein abgelegter Traum und zwanzig Minuten später stehen wir vor dem Kino. Ich gehe zur Kassa „Zwei Karten für das Friday Night Special bitte“ Die Alte in dem Glaskobel starrt mich kurz über ihren Brillenrand an. „Für nächste Woche?“ „Was? Nein heute! Jetzt für die Vorstellung um acht! Es ist doch erst drei Minuten nach acht!“
„Wüs´t mi vaorschen oder hast was eing´worfen Schatzerl! Heut ist Samstag!“