Beitrag zum Krachmann-Literaturwettbewerb am 15.10.2016

Beitrag zum Krachmann-Literaturwettbewerb am 15.10.2016

von Gottfried Schattovits

 

Die 72 Jungfrauen? Es soll hier nicht um die Epoche gehen, in der sie mit einem hölzernen Boot über das Meer gekommen sind und auch nicht um den Ort, an dem sie unser Land betreten haben. Schon gar nicht soll es darum gehen, wer sie waren, welche Mission jede von ihnen hatte oder um das Verstehen, warum sie überhaupt gekommen sind. Und wenn uns normalerweise, das versucht man uns ja gerade hier vordergründig und beständig weiszumachen, nur Worte zur Verfügung stehen, soll es dem zum Trotz vielmehr darum gehen, ein über Worte und Bilder hinausreichendes, tiefes seelisches Verstehen für ihr Erscheinen zu erlangen, einen Ort, an dem Worte sich erübrigen und ihr Dasein jenseits von Zeit und Raum seine eigene Logik und Rechtfertigung entfalten kann.

 

Würde man hingegen versuchen, die Symbolik der Jungfräulichkeit an sich zu analysieren, sofort wären wir in unseren Denkmustern gefangen und der Erkenntnis wären unsichtbare pädagogische, religiöse, erotische oder gar medizinische Fallstricke gespannt. Wollte man alles nur aus der Sicht des Pragmatikers deuten, ohne Verzug ergäben sich aus der immanenten demographischen Verschiebung natürlicherweise soziale und familiäre Spannungsfelder.

 

Und dennoch – ihre Ankunft hat das Leben all derer verändert, die sich auf ihre Botschaft eingelassen haben. Die Botschaft der Liebe – der transzendenten Liebe, die Ihren Sinn in der Überwindung der eigenen Begrenztheit erfährt. Das was sich uns in der fleischlichen Materie der 72 Jungfrauen offenbart hat, lädt uns ein, die Grenzen des Menschseins zu verschieben, den eigenen Raum auszuweiten. Wir finden in Ihrer Ankunft den eindeutigen Beweis, dass die geweitete Seele einen ungleich größeren Handlungs- und Erlebensspielraum ihr eigen nennt, während sie die oft unerlösten, irdischen Möglichkeiten ganz selbstverständlich, gleichsam mühelos nutzt und lebt, als Grundlage und Nahrung für die ihr vorbestimmte, in ihr seit Anbeginn angelegte Expansion. Diese Erkenntnis soll den Kraft- und Lustgewinn der an der Lebensbasis angesiedelten Energien keinesfalls schmälern oder geringschätzen, dennoch laden uns die Jungfrauen ein, über ebendiesen Tellerrand zu blicken.

 

Würde jemand angesichts der 72 Jungfrauen die Frage nach dem männlichen Anteil der transformativen Energien stellen, auch ihm wäre die Antwort in deren Erscheinen schon vorweggenommen: Wir sprechen hier nämlich nicht von Unberührtheit, weiblich – anreizender Anziehung oder gar rituellen Konzepten, nicht vom patriarchalen Kampf der Geschlechter und schon gar nicht von Entsagung oder einer Vergeistigung unseres Daseins. Nein, vielmehr nimmt das Erscheinen der Jungfrau an sich, potenziert in der Fülle der heiligen Zahl 72, die dual männlich-weibliche Denkweise hinweg und lehrt uns damit sowohl die eigene Begrenztheit zu akzeptieren, wie auch die Auflösung der eigenen Grenzen im universalen Raum anzunähern.

 

Und spätestens jetzt wird es ganz deutlich: Die 72 Jungfrauen laden uns ein, ja sind selbst die Einladung, sie ohne Zögern zu nehmen und uns in die beschriebenen Weiten zu kopulotieren. Und wer bisher aufmerksam mitgedacht hat weiß, dass es dabei keine Rolle spielt, ob es sich tatsächlich um eine ebendieser 72 Jungfrauen handelt oder eine beliebige andere Person, und ob die Jungfrauen oder auch wir selbst rein körperlich gesehen nun Männer oder Frauen sind. Und er weiß dass sich die Wesenheit der Jungfräulichkeit nicht abnützen oder gar verbrauchen kann: Im Gegenteil, sie nimmt, gleich dem aufsteigenden Mond, dabei noch zu an Qualität und Energie, sie vermehrt sich, genauso, wie sich die ursprünglich tatsächlich nur (wenn man der Überlieferung Glauben schenkt) 72 Jungfrauen unter uns vermehrt haben.

 

Das alles ist gewiss nicht leicht zu verstehen, werden doch die Schranken unserer Üblichkeit durchbrochen, und ohne Zweifel ist es dem im besten Fall mit der Geschwindigkeit der Nervenleitfähigkeit limitierten Geist nicht möglich sofort das zu durchdringen, was die Seele schon vor tausenden Jahren längst begriffen hat. Hier stoßen wir letztlich auch an die Grenzen der geschriebenen Worte, die über die Pforte des Geistes in uns eindringen, wenn wir, gleich den Jungfrauen, dafür empfänglich sind. Und diese Metapher begleitet uns bis zu der ernüchternden Erkenntnis, dass hier wie dort nur in seltenen besonderen Fällen die empfangene Energie bis in die Nähe unseres inneren Vulkans vordringen und uns erwärmen und erleuchten kann – um ihrerseits auch selbst dort Wärme und Licht aufzunehmen. Wer aber dieses Glück der geteilten inneren Wärme und des inneren Lichtes schon bewusst erfahren durfte, wer in Konsequenz dessen bereits dem Hauch einer Ahnung des Eins-Sein mit dem Himmel und der Erde nahe gewesen ist, der mag vielleicht darin den Ruf der ihm selbst innewohnenden Jungfrau schon gespürt haben.

 

Ich darf schließlich hoffen und vermuten, dass die oder der eine oder andere mittlerweile auch im trägen Geiste ermessen kann, welch reiche Gnade die 72 Jungfrauen über unser Land und deren Bewohner gebracht haben. Und dass sie oder er letztlich auch die einleitenden Sätze durchdringt, warum nicht die personale Dimension der Jungfrauen entscheidet, sondern einzig und alleine der Zugang zu den Möglichkeiten, die uns seit Ihrem Erscheinen offen stehen, wenn wir uns – gleich ihnen – der jungfräulichen Qualität der Hingabe an das Leben zuwenden.

 

Und ganz egal ob es bald darum geht, im Büro gute Miene zum bösen Spiel zu machen, in ungewohnter Umgebung einen kleinen Tod zu sterben oder zum vierten Mal in Serie einen Präsidenten zu wählen: Die von den 72 Jungfrauen in unserer Welt erschlossene transzendente Dimension kann und wird uns hoffnungsvoll und wahrhaftig dabei begleiten. Und je nach unserem eigenen Maß an Jungfräulichkeit, dem eigenen Maße dessen, was wir aus der jungfräulichen Qualität oder auch der Qualität so mancher Jungfrau in unser irdisches Dasein mitnehmen konnten, werden wir die Fülle dieser Dimension auch erleben und leben können.