72 JUNGFRAUEN

72 JUNGFRAUEN

von Günter Nowak

 

 

Lying on stained, wretched sheets with a bleeding virgin

We could plan a murder

Or start a religion

JIM MORRISON

 

Only mad dogs and englishmen go out in the noon time sun

AUSTRALISCHES SPRICHWORT

 

Was in der Wüste passiert, bleibt in der Wüste

BUGSY SIEGEL oder MEYER LANSKY

 

Nach uns die Sintflut

JEANNE-ANTOINETTE POISSON, DAME LE NORMANT D‘ÉTIOLLES, DUCHESSE DE MENARS, MARQUISE DE POMPADOUR

 

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I.        MYTHOS

Der letzte Schritt zur Ewigkeit: Wie zu Lebzeiten erhofft und herbeigesehnt, fühle ich mich nun zu Wiedergeburt und Unsterblichkeit geleitet. Ein gottgefälliges Leben und Sterben waren notwendige und von mir freudig erfüllte Vorbedingungen gewesen und mit der Sicherheit, die nur ein vollständig vom Glauben erfülltes Dasein bieten kann, erwarte ich meine letzte Prüfung. Ich bin bereit.

 

WER BIST DU? Die Frage scheint wie aus dem Nichts von allen Seiten zu kommen und erfüllt meinen Kopf.

 

Die Krise war allumfassend. Das Wirtschaftssystem drohte zu kollabieren und das Vertrauen in Wohlstand und Sicherheit sank. Separatisten und Fanatiker verbreiteten allen Orts Unsicherheit. Und immer mehr kamen an unsere Grenzen.

 

WER BIST DU? 70 Tage sind nun vergangen, bisher habe allen Gefahren und Bedrohungen getrotzt.

 

War das der Klimawandel? Trockenheit und Dürre wechselten in rasender Folge und zerstörten wertvolles Land. Invasionsartig tauchten fremde Pflanzen und Tiere auf und vermehrten sich explosionsartig. Schädlinge vernichteten ganze Ernten und die Kosten nach Unwetterschäden explodierten. Die ohnedies unmäßigen Agrarförderungen stiegen noch weiter an, ohne die traditionell renitenten Bauern zufriedenzustellen. Obwohl auch die Kosten für Gesundheit und Soziales explodierten, griffen neue Seuchen um sich und längst besiegt geglaubte Krankheiten rafften auch junge Menschen hinweg.

 

WER BIST DU? Die Frage scheint von allen Seiten zu kommen, wird rhythmisch wiederholt, immer lauter, sie schallt zurück von den Wänden, bohrt sich in meinen Kopf. Es ist die letzte Prüfung vor dem Schritt in die Ewigkeit.

 

Kriege griffen auf immer neue Regionen über und schienen zur Normalität zu werden, finanziert aus dunklen Quellen und ohne Lösungschance. Selbst für unsere Spione und Nachrichtendienste waren die unterschiedlichen Interessen und Akteure kaum mehr erkenn- und unterscheidbar. Der Feind stand nicht nur an unseren Grenzen, sondern sandte seine Mörder wie eine Vorhut in unsere Zentren.

 

WER BIST DU? Jetzt geht es darum meine Geschichte in der rechten Weise zu erzählen, die ganze Wahrheit zu enthüllen, ich stehe vor meinem letzten Gericht.

 

Die, die Beschäftigung waren, murrten über die Entwertung ihrer Bezahlung und die Qualität der Arbeit sank. Gewaltige Summen wurden durch Fehlplanungen, Misswirtschaft und Wirtschaftskriminalität vernichtet. Das größte Problem aber war, dass wir große Teile unserer Bevölkerung überhaupt nicht mehr beschäftigen konnten.  

 

WER BIST DU? Nun sehe ich meinen Richter. Er wird entscheiden über ewiges Glück oder Verdammnis.

 

Trotz all unserer Probleme waren wir für Millionen das gelobte Land. Der Strom an Flüchtlingen in eine Region, die Sicherheit, Frieden und Wohlstand versprach, riss nicht ab, sondern nahm noch immer weiter zu. Während wir auf die finale Katastrophe warteten, galten wir im Rest der Welt immer noch als das Land der Verheißung.

 

WER BIST DU? Die Worte mussten nun wohl gewählt sein und die geheimen Zauberformeln in korrekter Weise gesprochen werden. Aber ich hatte schon bisher mächtige Wegbegleiter und Unterstützer gehabt,

 

 

die mir auch bei meiner letzten Prüfung zur Seite stehen würden und daher zögere ich nicht länger. Der Preis ist meine körperliche Wiedergeburt und die Ewigkeit.

 

Obwohl unser System bereits seit gefühlten Ewigkeiten nur mehr durch eine weitgehend ohne Realwerte gedeckte Finanzpolitik am Laufen gehalten werden konnte, funktionierte es erstaunlicherweise immer noch. Aber nur solange alle daran glaubten. Erst als dieser Glaube ins Wanken geriet, drohte es zu kollabieren.

 

WER BIST DU? Die Waagschalen des letzten Gerichts heben und senken sich und der göttliche Richter blickt tief in meine Seele. Meine treuen Begleiter geben mir Halt und Stärke. Meine Seele muss meinen Körper finden.

 

Als der Moment des allgemeinen Zusammenbruchs gekommen war, mussten wir reagieren. Wir machten, was in einer solchen Situation seit Anfang der Geschichte alle anderen auch gemacht hatten: Zuerst beteten wir und opferten den Göttern. Als das nichts nützte, zogen wir in den Krieg.

 

WER BIST DU? Ich wende einen letzten Blick auf meinen Begleiter und Anubis stärkt mich; und so künde ich nun in der rituellen Weise vor Osiris, dem Richter der Unterwelt: „Ich bin Ramses II., der Sohn von Pharao Sethos und dessen Frau Tuja. Bereits als Kind wurde ich im Kriegshandwerk unterrichtet und im Alter von zehn Jahren erhielt ich den Titel „Oberkommandierender des Heeres“. Ich begleitete meinen Vater in den Kriegen gegen die Libyer im Westen und die Hethiter im Norden. Nach dem Tod meines Vaters bestieg ich mit 25 Jahren den Thron beider Reiche, wurde Pharao von Ober- und Unterägypten und lebender Gott. Ich zwang alle unsere Feinde nieder und führte unser Land zu nie gekanntem Ruhm und Wohlstand. Ich errichtete unzählige Monumente zu Ehren der Götter und ließ eine neue Hauptstadt des Reiches errichten. Ich wurde fast 90 Jahre alt, hatte neun königliche Ehefrauen und erhöhte in meinem langen Leben 3.000 Frauen, die mir fast 100 Söhne und Töchter gebaren.“

 

Wir zogen in den Krieg und wir verloren den Krieg, wurden fast vernichtet. Aber wir kehrten die Niederlage in einen propagandistischen Sieg und wurden mächtiger als alle vor oder nach uns.

 

II.       GÖTTLICHES GERICHT

WER BIST DU? „Ich bin Ramses II. und war der größte und mächtigste Pharao in der dreitausendjährigen Geschichte unseres Reiches. So verkünden es die Schriften in den zahllosen Tempeln, die ich in allen Ländern zu meiner und der Ehre der anderen Götter errichten ließ und so werden auch die Legenden der Nachwelt berichten.”

Und noch während ich spreche hebt sich die Waagschale des letzten Gerichts; und als ich ausgesprochen habe weist sie zum Himmel. Osiris nickt gefällig und meine Seele kann sich nun mit meinem Körper vereinigen. Ich bin jetzt wiedergeboren und werde ab nun und in alle Ewigkeit an der Seite meiner göttlichen Brüder und Schwestern als Fixstern am Himmel leuchten.

 

 

III.      VERFAHREN

Selbstverständlich bestand ich das letzte Gericht nach meinem Tod mit eben solcher Bravour, wie ich zu Lebzeiten der Inbegriff von Macht und Herrlichkeit gewesen war. Daran hatte auch niemals Zweifel bestanden, aber man musste schließlich den Schein wahren und das Verfahren einhalten. Als lebender Gott hatte man natürlich auch vor dem letzten Gericht manche Vorteile, beginnend bei der bestmöglichen Rechtsvertretung bis hin zu gewissen verwandtschaftlichen Verbindungen mit der Richterschaft. Und mein Lebenswerk war ebenso wie mein Plädoyer vor Gericht ohne Fehl und Tadel gewesen. Die offizielle Geschichtsschreibung ist dafür mein Zeuge.

 

 

IV.      REALPOLITIK

Aber die Geschichte erzählt immer nur eine Geschichte. Tatsächlich wäre ich mit unserem Heer in der großen Schlacht von Kadesch von den Hethitern fast vollständig vernichtet worden. Ich und meine Priester kamen allerdings schnell zu der Einsicht, dass von diesem Detail zu Hause eigentlich niemand zu erfahren brauchte und daher inszenierten wir eine triumphale Heimkehr. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, zeigten und bezeugten Tausende an neuen Tempelinschriften meinen großen Sieg über den Feind und Herolde verkündeten im In- und Ausland unseren Triumph. Darauf ließ sich aufbauen. Doch davon später.

Bereits der Krieg gegen die Hethiter war nur eine Ablenkungsstrategie vor der gewaltigen Krise, die mein Reich erfasst hatte, gewesen. Alles war zusammengekommen und eskaliert: Klimakatastrophe, Kriege in allen Ländern der Region, Heerscharen von Migranten und Flüchtlingen an unseren Grenzen und eine zerrüttete Wirtschaft. Das Reich war auf Grund der exorbitanten Kosten für Bautätigkeit, Religion und Militär schon seit Ewigkeiten in extremen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Lange Zeit hatten wir unsere Wirtschaft nur durch Inflation finanzieren können:

Dazu muss man wissen, dass wir unsere Bauarbeiter hauptsächlich mit Bier bezahlten. Daher hoben wir zuerst die Bindung des Umfangs an Bierproduktion an unseren Staatsschatz auf, dann verwässerten wir es ganz einfach und bezeichneten das als notwendigen Anpassungsprozess. Wir nannten dieses Programm “Auf Sand gebaut” und unsere Priester segneten die Inflation als einzig heilsames Mittel für ein unverzichtbares Wirtschaftswachstum. Viel später sollte das volkswirtschaftlich horrible Gegenmodell einer Deflation entwickelt werden, wobei hier das Prinzip der “Bier-Verwässerung”, in eine “Wasser-in-Wein”-Transformation pervertiert wurde, doch das ist eine andere Geschichte. Wir brauchten ungeheure Mittel um unsere Bevölkerung zu beschäftigen und zu ernähren, aber gleichzeitig drängten sich immer mehr Menschen an unseren riesigen und unkontrollierbaren Außengrenzen. Alle wollten nur eines: Zu uns nach Ägypten, ins gelobte Land. Vor langer Zeit hatten wir ja noch große Hoffnungen in diese jungen Zuwanderer gesetzt. So gut wie alle die da kamen, sollten hochqualifiziert und arbeitswillig sein. Aber wir hätten von Babylon und seiner Willkommenskultur gewarnt sein müssen, denn kaum einer dieser Migranten war bereit, freiwillig Hieroglyphen lesen zu lernen. Und was die Berufskenntnisse dieser vermeintlich hoch qualifizierten Fachkräfte angeht: Warum wohl hatte man im Alten Reich in Sakkara diese häßlichen Stufen in die Pyramide von Pharao Djoser einbauen müssen? Die Antwort: Unsere Priester behaupteten damals, dass man keinen Generalunternehmer brauche würde und dann ließ man syrische Bautechniker und numibische Maurer auf ägyptischem Sandboden bauen. Statiker war ein Jude; und die Bauaufsicht teilten sich ein korrupter Libyer mit einem intriganten Libanesen!

Die Nachfahren dieser Migranten bildeten noch nach Generationen ganze Enklaven von fremden Kulturen, mit wenig Bereitschaft zur Integration; und immer neue fremde Völker drängten in unser Reich. Und dazu kam ein kaum mehr zu leugnender Klimawandel, der nicht nur unsere Ernährungssicherheit gefährdete, sondern auch unseren Glauben erschütterte. Hatten sich die Götter von uns abgewandt? Phasen extremer Trockenheit wechselten in rasender Folge mit Unwettern und Überflutungen. Nicht einmal unsere ausgeklügelten Regulierungs- und Bewässerungssysteme konnten diese Extreme beherrschen; Rotalgen wucherten in allen Kanälen und verbreiteten höllischen Gestank. Durch Heuschrecken- und andere Insektenplagen wurden unsere Ernten zusätzlich bedroht, alte Seuchen und unbekannte Krankheiten tauchten in allen Regionen des Reichs auf. Unser gesamtes Ernährungs- und Gesundheitssystem drohte zu kollabieren und bereits jetzt kam es zu erhöhter Kindersterblichkeit. Unsere internen und auswertigen Gegner nutzten natürlich jede unserer Schwächen und ihre Propaganda machte aus unseren Problemen sogenannte “biblische Plagen”. Manche dieser Querulanten mussten wir sogar samt ihrer Meschpoche des Landes verweisen, aber das beflügelte die feindliche Propaganda nur noch mehr. Diese Deportationen brachten zwar kaum Beruhigung, aber auf diese Weise fanden nicht nur viele unserer Erfindungen, sondern auch Teile unserer Religion und Mythen den Weg in unsere Nachbarländer und von dort hinaus in die ganze Welt: Ideen, wie die einer körperlichen Wiedergeburt, von Himmel und Unterwelt, Paradies und Verdammnis, ja sogar der von uns längst überwundene armselige Aberglaube an nur einen Gott konnten so bei einigen der Barbarenvölker überleben.

 

So also präsentierte sich mir die Situation nur wenige Jahre nach meiner Thronbesteigung: Renitente Völkergruppen, Auflösungserscheinungen im ganzen Reich, Klimakatastrophe, Verlust der traditionellen Werte, Fanatiker, vor allem aber eine nicht enden wollende Völkerwanderung würden uns solange vor sich hertreiben, bis wir irgendwann vor lauter Erschöpfung nicht mehr reagieren könnten. Und dann kam es, ohne besonderen Anlass, zum Zusammenbruch: Der Glaube an die Wirksamkeit unserer Religion erlahmte nach neuerlichen Unwettern und Missernten und die lange befürchtete Hyperinflation trat ein: Das Mischungsverhältnis zwischen Bier und Wasser war unseren Arbeitern zu dünn geworden und Bürgerkrieg drohte. Unsere Priester beteten und opferten ohne Unterlass, aber ohne jeden Erfolg. Und so einigten wir uns, mangels eines besseren Plans, auf ein traditionelles und vielfach erprobtes Mittel: Wir zogen in den Krieg – die Hethiter boten sich dafür geradezu an – und verloren. Und dann passierte etwas Seltsames: Obwohl wir nach der Niederlage im Prinzip weitermachten wie bisher, wandelte sich nun alles, was bisher als Krise erlebt worden war, zu einem einzigartigen Erfolgsmodell.

In der Schlacht von Kadesh waren wir nur knapp der totalen Vernichtung durch die Hethiter entgangen, aber wir hatten unsere propagandistische Lektion gelernt und verkündeten zu Hause einen triumphalen Sieg. Wir konnten die Hethiter – durch die Zusicherung sie in Zukunft in ihrem Konflikt mit ihren nordöstlichen Nachbarn, den Assyrern, durch Lieferungen unserer modernsten Waffentechnologien zu unterstützen (wir hatten damals die Streitwagen geradezu revolutioniert) – davon überzeugen, dass ein Stillhalteabkommen über den tatsächlichen Ausgang der Schlacht für beide Seiten nur Vorteile brächte und schafften sogar einen Friedensvertrag mit unseren traditionellen Todfeinden. In parallellaufenden Geheimverhandlungen brachten wir die Assyrer nicht nur dazu, keine weiteren Flüchtlinge mehr durchzulassen, sondern auch die Hethiter nachhaltig militärisch zu binden. Wir bestachen dafür beide Seiten und natürlich verkauften wir auch an die Assyrer unsere Waffen. Der vermeintliche Sieg über unseren Erzfeind und die Aussicht auf dauerhaften Frieden verschaffte uns, ungeachtet unserer nach wie vor desaströsen wirtschaftlichen Situation, sofort bei allen Geldgebern jede Form von Kredit. Mit diesen gewaltigen Fremdmitteln investierten wir uns aus der Krise und finanzierten unsere Bauprojekte, errichteten mit Pi-Ramesse eine neue Hauptstadt des Reiches, bauten und erweiterten Tempel wie Karnak, Luxor, Abydos und Abu Simbel. Die Priester, die davon unmittelbaren Nutzen hatten, unterstützten uns naturgemäß ideologisch mit allen Kräften. Unsere Waffenproduktion diente ebenso der Binnenwirtschaft wie unserer sog. „Friedenspolitik“. An entfernte Kriegsschauplätze verschickten wir eine große Zahl der Migranten gleich direkt aus unserem zentralen Aufnahmelager auf der Freiheitsinsel im oberen Niltal, je nach Bedarf, entweder als „Friedenswächter“ oder als „Söldner“. Mit dem Wetter hatten wir in diesen Jahren offensichtlich ganz einfach Glück oder die Gebete und Opfer nutzten nun doch was – aber wer weiß das schon.

Aber immer noch gärte es im Reich angesichts von Jugendlichen, die oftmals ohne Ausbildung, Brutstätte für Fanatismus und Extremismus waren. Innere Ruhe kehrte erst ein als wir auch dafür eine Lösung fanden: Wir schickten diese aufmüpfigen jungen Leute einfach in die Wüste, gaben ihnen – neben unseren Segenswünschen – ein sog. „start-up-Paket“, bestehend aus ein bisschen Salz, Brot und Wasser sowie Rauchzeug für Opfergaben (das aber oftmals missbräuchlich verwendet wurde), mit. Es kamen zwar nur wenige zurück, die aber oft mit neuen Einsichten. Die besten davon integrierten wir in unsere traditionelle Religion; unsere Götterwelt wurde auf diese Weise noch vielfältiger und unsere Tempelwirtschaft florierte.

Dann aber geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Die Wüste wurde zum Kult. Alle wollten in die Wüste gehen und an manchen Orten wurde der Platz vor lauter Einsiedlern, Eremiten und Propheten bereits knapp. Besondere Fanatiker beließen es nicht bei den Anforderungen durch Hitze und Durst, sondern kletterten auf Berggipfel oder Säulen, um besondere Herausforderungen unter der Wüstensonne zu suchen. Die die zurückkamen berichteten von den absonderlichsten Erlebnissen und bereiteten den Boden für jede Form von Aberglauben. Man erzählte von Feuerzungen, brennenden Dornbüschen, Erscheinungen wie Engel oder Teufel. Und offenbar hörten alle Stimmen, hatten Gesichter. Erweckungserlebnisse, Wunderheilungen, Jungfernzeugungen, Wiederauferstandene – schier alles schien möglich. Keiner wusste genau, was in der Wüste wirklich passierte – und genau das war der Reiz daran.

 

In den folgenden Jahrhunderten sollten noch ganze Heerscharen von selbstberufenen Propheten, Heilsbringern jeder Art, religiösen Erneuerern und sonstigen Fanatikern in die Wüste gehen. Viele starben, manche blieben dort, aber etliche kamen auch wieder zurück. In der Wüste vermischten sich offensichtlich Geschichte, Religion und Mythos mit eigenen Phantasien und Wünschen und diese Mischung aus Plagiaten, Wunschträumen und Psychosen wurde oft genug als göttliche Offenbarung in die Welt hinausgeschrien. Aber damit hatten dann unsere Nachfahren umzu-gehen, erst lange nach meiner glorreichen Regentschaft.

Aufgrund meines hohen Alters und meiner vielfach bewiesenen Manneskraft munkelte man schon, dass ich bereits zu Lebzeiten die Unsterblichkeit erreicht hätte, als ein ewiger, lebendiger Gott auf Erden. Alle unsere Nachbarn neideten unseren augenscheinlichen Erfolg, aber keiner von ihnen wagte die offene Konfrontation. Im Gegenteil, aus purem Opportunismus überboten sie einander an Gefälligkeiten und wetteiferten geradezu um unsere Gunst. Dementsprechend groß war die Zahl an Delegationen, die anlässlich meines 60. Thronjubiläums Glück- und Segenswünsche sowie Unmengen an Geschenken von ihren Regierungen überbrachte. In einer schier nicht Enden wollenden Prozession machte mir die ganze Welt ihre Aufwartung. Als schließlich die Reihe an ihnen war, überreichten nun auch unsere südlichen Nachbarn die üblichen Geschenke aus Gold, Lapislazuli und Elfenbein. Die nubische Delegation trug die traditionellen Glück- und Segenswünsche vor und wir nahmen huldvoll deren Geschenke entgegegen. Doch bevor die Priester das Rauchwerk für die abschließenden gemeinsamen Opfergaben entzünden und die Nubier entlassen werden konnten, nahm die Delegation nochmals die traditionell vorgeschriebene Haltung ein, die für die Übergabe von Opfergaben an Götter vorgesehen war. Und unter lauter Musikbegleitung betraten 72 nubische Jungfrauen meinen Thronsaal. Alle gesalbt und gecremt, prall glänzend und schwarz wie Ebenholz, bekleidet mit nur einer weißen Lotusblüte an ihrer Scham und einem Kranz von Jasmin in ihrem Haar wurden sie mir als Gemahlinnen zugeführt. Ihr Duft erfüllte den Thronsaal. Sogar meine Eunuchen leckten sich die Lippen. Meine aktuellen Ehefrauen wirkten plötzlich beunruhigt, der gesamte Hof war erregt.

 

 

V.       TRIUMPH UND ABGESANG

Das Geschenk war natürlich ein perfider Trick der Nubier, deren Gier auf die Länder oberhalb des ersten Nilkatarakts uns wohl bekannt war: Sie und alle unsere Feinde spekulierten nun auf meine absehbare Verausgabung und – daraus resultierend – baldiges Ableben. Doch nein, oh ihr Kleinmütigen: ICH WAR EIN GOTT! Meine göttlichen Geschwister Isis und Osiris gaben mir schier endlose Kraft. Die verbleibenden Erdentage bis zu meiner Verewigung waren das sprichwörtliche Paradies auf Erden. Mein Ruhm wuchs ins Grenzenlose und ich wurde endgültig zu einer Legende. In einer noch fernen Zukunft würde sich einer dieser seltsamen Wüstenpropheten in einem schwülen Delirium an göttliche Manneskraft und 72 Jungfrauen erinnern und daraus ein feuchtes Paradies für Fanatikerphantasien machen.

Wir aber hatten die Nubier unterschätzt, sie konnten uns dennoch überlisten: Alle meine 72 neuen Gemahlinnen bestanden plötzlich darauf, in aller Eile eigene Königinnengräber zu bekommen. Kein Tal war ihnen dafür groß genug, kein Aufwand zu hoch. Unser ohnedies nur fremd finanziertes Wirtschaftssystem wurde nochmals auf das Äußerste angestrengt. Wir bauten und bauten und bauten. Ich hinterließ ein Reich voll von Palästen und Tempenl

und auch 72 prunkvollen neuen Gräbern. Auf mich wartete nun die Ewigkeit an der Seite meiner göttlichen Geschwister. Ich bin Ramses II., Sohn von Sethos, Gott und Pharao von Ober- und Unterägypten, der größte und mächtigste Pharao in der dreitausendjährigen Geschichte unseres Reiches. Nach mir war das Reich ruiniert und unsere Feinde wagten sich wieder aus ihrer Deckung, aber was …