Rüf, der Berater: Beratung zu 72 Jungfrauen zu Ehren des Krachmanns 2016

Rüf, der Berater: Beratung zu 72 Jungfrauen zu Ehren des Krachmanns 2016

von Michael Drucker

 

Der InterCity 2034 nach Norden-Norddeich hat 15 min Verspätung. Der Consultant steht am Braunschweiger Bahnhof und rechnet nach. In Hannover umsteigen und mit der Schnellbahn zum Flughafen wird knapp. Wenn er den richtigen Anschluss verpasst, muss er mit dem Taxi zum Flughafen fahren. Auch das wird knapp bei dem Abendverkehr in Hannover. Egal, er wird es auf sich zukommen lassen. Nach einer Woche Abhalten von Workshops, Darstellen komplexer Sachverhalte und endloser Diskussionen um sinnentleerte Details erschüttert ihn ein „vielleicht“ verpasster Flug nicht. Der Berater wird das Problem dann lösen wenn es eintritt, nicht schon sobald er es sich ausmalen kann. Er ist müde, nicht einmal rechtschaffen müde, einfach nur leer.

 

Wie jeden Freitagabend schweifen seine Gedanken ab zum Endbahnhof, zum Ziel des Zuges: Norden-Norddeich. Ein Ort den er nie kennenlernen wird. Norden ist ein poetischer Name für eine Stadt. Himmelsrichtung und Landschaft zugleich. Vergessen liegt der alte heruntergekommene Ort in seiner Phantasie am Rand der Nordsee. Nebelschwaden, Wattmeer, vorgelagerte Inseln, Möwen die auf verfallenden Stegen sitzen, alles von Eis überzogen im Winter. Er mustert die anderen Wartenden am Bahnsteig. Wer von ihnen mag wohl aus Norden kommen. Wie sieht ein waschechter Nordener wohl aus? Der Zug kommt aus Magdeburg und die meisten Reisenden spuckt er dann in Hannover oder später in Oldenburg oder Bremen wieder aus. Wer bleibt bis zur Endstation sitzen? Final Destination: Norden...

 

Später im Zug: am Freitagabend teilen sich die Fahrgäste – mehr als sonst – auf in zweierlei Gruppen, die einen fahren nach Hause, die anderen fort ins Wochenende, die Einen tippen noch die letzten Emails, die Anderen schwelgen schon in Erwartung. Die sozialen Klassen lösen sich auf, der Krawatten-tragende Managertyp bestellt beim Bordkellner gleich zwei Bier auf einmal, der, der aussieht wie ein Asozialer, überlässt einer gebrechliche Alten den Sitzplatz, alle wirken zufrieden, der Berater ringt mit dem Schlaf...

 

…Rufus Stampante Vendicator – genannt “Der Consultus” – wartet immer noch auf dass man ihn am Hafen abholen möge und das richtige Schiff zuweise, dass ihn dann zu seinem nächsten Einsatzort bringen würde. Wir schreiben das Jahr 622 AD.

 

Die Westgoten waren aus dem Osten gekommen und im Westen gelandet, die Ostgoten machten am halben Weg Halt und blieben wo sie waren, die Hunnen waren wieder im Osten, da waren aber auch die Awaren. Während die Franken sich im Nordwesten breitgemacht hatten und das Aufkommen der Burgunder verhindern wollten blieb in Rom südlich des eben erst entstandenen Langobardenreiches die christliche Kirche verankert. Zeitgleich versuchten die Ost-Römer von Konstantinopel aus die Antike über ihre Zeit hinaus zu erhalten. Königshäuser etablierten sich, kamen und gingen, der Einfluss der Kirche manifestierte sich als verbliebener Rest des West-römischen Denkens in Europa. Am sich abzeichnenden Ende dieser finsteren Zeit der Ränke und Machtspiele benötigten die Herrscher und Kirchenfürsten, die Kriegsherrn und Intrigenspinner nichts mehr als Beratung zu den wirklich wichtigen nächsten Schritten im Spiel der Politik. Diese Art Beratung machten sich die Kybernetes – die Steuermänner – zu Eigen und pflegten gut davon zu Leben. Das Einzige was sie anzubieten hatten war Wissen – allgemeines Wissen über die Geschichte und über das Wesen der Gesellschaften und Systeme und deren Regeln, nach denen sie kamen und gingen. Sie verkehrten in den Häusern der Mächtigen, von denen sie so sehr geschätzt wurden, wie sie von ihren Höflingen gehasst wurden. Die Consultii – Die Berater wurden sie genannt, verkauften was eigentlich alle wussten, aber niemand sonst ungestraft benennen durfte, nämlich Hausverstand und naheliegendes Wissen. Natürlich war nicht jedermann in der Lage diese Arbeit zu tun. Wer von einem Mitglied der Gesellschaft erkoren wurde, begann als Novicus, reicher an Erfahrung wurde er dann zum Adepten und später zum Consultus Junior – zumindest wenn man das bis dahin überlebte, denn ein falscher Rat konnte einem rasch den Kopf kosten – im wahrsten Sinn des Wortes.

 

Hatte man im Orden der Kybernetes einmal den Rang eines Consultus Principal oder höher so war man in der Lage offener zu sprechen ohne gleich um sein Leben zu fürchten zu müssen, denn die Machthaber brauchten verlässlichen unabhängigen Rat in vielen Situationen und fürchteten von den Ihren betrogen oder gar selbst kopflos gemacht zu werden. Da die Consultii der Kybernetes selbst immer nur im Hintergrund agierten und keinerlei Machtanspruch stellten, waren sie für alle die – wenn manchmal auch unangenehme – aber doch bessere Alternative. Deshalb konnten die Consultii von ihrer Tätigkeit auch mehr als gut leben.

 

Rufus Stampante Vendicator – “Der Consultus” ist auf seinem Schiff angekommen und blickt gegen Südosten, wo ihn seine Reise hinführen wird. Papst Bonfatius V selbst hat ihn damit beauftragt, den neuen, selbsternannten Propheten, der sich selbst Mahummid nennt in Medina aufzusuchen und mehr über seine Intentionen und das Risiko, dass er für den Rest der frühmittelalterlichen Welt darstellt, herauszufinden, getarnt als Einstiegsberatungspacket für den großen Propheten Muhammid (oder Beratungseinstiegsgeschenk? Wie auch immer…). Das Prophetentum war außerdem die höchste Entwicklungsstufe die ein Mann im ehrenwerten Orden der Kybernetes erlangen konnte, es stellte letztendlich den Übergang vom Consultus – also dem Berater – zum eigenständigen Führer und somit zum Consultus Alumni dar. Somit lag es auch im Eigeninteresse des Ordens zu erfahren, was es mit diesem Mahummid auf sich hatte und welche Konkurrenz ihm aus seinem Wirken entstehen könnte, gleichwohl wie es von Bedeutung war, welche Auswirkung auf des Spiel und Gleichgewicht der gesellschaftlichen Mächte in Europa zu erwarten war, denn das Wissen darüber stellte schließlich die Haupteinnahmequelle des Ordens dar.

 

Nach ein paar Tagen auf See und ein paar weiteren Tagen auf Kamelen zu Land durch trockene heiße Wüste erreicht der Consultus den Stadtrand von Medina, wo Mahummid mit seinen getreuen Anhängern in Beduinenzelten kampiert. Mahummid empfängt ihn persönlich vor seinem großen Zelt in der Mitte des Lagers, der Consultus ward ihm bereits angekündigt worden. Im Lager riecht es erbärmlich nach Kameldung und Schafen. Die Abendsonne heizt noch unerbittlich, als ob sie den Hitzerekord des Tages noch zu überbieten hätte. Der Consultus nutzt das Begrüßungsritual um sich sein Bild von den herrschenden Umgebungsvariabeln zu machen. Wer ist hier von Bedeutung, was im Hintergrund ist wichtig und beeinflusst die Dinge maßgeblich?

 

Mahummid aber ist ein Mann der Tat, der nicht lange zögerlich um den heißen Brei herum redet: “Theologische Fragen zu diskutieren interessiert mich nicht, die Wahrheit in dieser Hinsicht wurde mir ohnehin offenbart und damit Ende der Diskussion. Ich erwarte strategische Beratung in Hinsicht Mobilisierung humaner Kapazitäten zur Umsetzung der nächsten taktischen Schritte“.

 

„Mit Verlaub, darf ich annehmen, dass die nächsten taktischen Schritte nicht Inhalt unseres Beratungsgespräches sein werden, sondern ausschließlich die Mobilisierung menschlicher Ressourcen zur Umsetzung derselben?“ antwortet der Consultus um einerseits den Kontext von seinem eigentlichen Wirken abzugrenzen und andererseits natürlich das Gesetz der fragenden Gesprächsführung zu achten: Lass den Klienten reden und bilde zwischenzeitlich deine Hypothesen.

 

„Völlig richtig“ antwortet Mahummid, „ich werde zunächst die Heiden in Mekka bekehren, die mich einfach hinausgeworfen haben, nur habe ich keine schlagkräftige Truppe zur Verfügung, um die Stadt zurückzuerobern. Ich brauche also zahlenmäßig mehr und motivierte Anhänger“.

 

Consultus: „Welcher Art ist eure Lehre?“

 

Mahummid: „Mir wurde geoffenbart dem einen Gott zu dienen“

 

Consultus: „Beste Vorrausetzungen! Die monotheistische Variante lässt sich ohnehin leichter steuern, im Polytheismus bildet sich nur die unterschiedliche Interpretation von Wirklichkeit ab. Lust und Enthaltsamkeit haben verschiedene Götter und demnach unterschiedliche Priester und Anhänger. So lässt sich ein Volk, eine Anhängerschaft kaum steuern. Alles was Spaß macht bitte ins Jenseits verschieben, ein Heilsversprechen „später“ sozusagen. Wir haben in Europa ein absolutes Erfolgsmodell als Beispiel zu bieten. Gegenbewegungen sind einfach zu dämonisieren. Der Erzengel Luzifer hat sich mit dem einfachen Ausspruch „Non Serviam“ – „Ich diene nicht“ aus dem zulässigen Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung verabschiedet und seine Tat wird noch viele Jahre als plakativer Grund für Hinrichtungen dienen. Das Modell ist nutzbar in weltlicher wie geistlicher Hinsicht!“

 

Mahummid: „Ich sagte doch schon: keine Theologie! Wie bekomme ich einen müden Haufen Anhänger dazu, eine Stadt zu erobern? Noch dazu eine Stadt, deren Hauptattraktion, der Schwarze Stein, eher heidnischer Natur ist?“

 

Consultus: „Heidnisches könnt Ihr einfach in die Lehre integrieren und zu eigenen Rituale machen, klappt im Christentum zum Beispiel bei Weihnachts- und Osterfest ganz vorzüglich, erleichtert den Umstieg für die Bekehrten ganz enorm, eure Leute müssten nichts bekämpfen, was ihnen einst heilig war und eure Gegner nichts beschützen, da sich ohnehin kaum etwas ändert“

 

Mahummid (er ist sichtlich angetan von den weisen Worten des Consultus und ist begierig mehr zu erfahren, zugleich versucht er die Gelassenheit eines von Gott erwählten Propheten zu wahren): „Und was fange ich mit diesen Weisheiten nun an? Wie soll ich damit eine Stadt erobern“

 

Consultus: Nun, es wird dort an Beute für Alle nicht mangeln?

 

Mahummid (ein wenig verlegen): „Ich,…äh, ich denke dabei eher an Genugtuung, Reichtum und Frauen für mich, nicht für meine Leute…)

 

Consultus: „Ihr müsst wahrlich ein Gesandter Gottes sein, denn aus Euch spricht unermessliche Weisheit! Natürlich darf dein Volk nicht reich an Kriegsbeute werden. Sie würden sonst an Hörigkeit verlieren und eigenen Gedanken nachgehen anstatt Euch, äh…, ich meine Gott zu dienen. Nein, nach ein wenig Plündern und Vergewaltigen, gebietet ihr Einhalt im Namen Gottes, ein wenig Kollateralschaden schadet nicht, darf aber nicht die Funktion der Stadt selbst gefährden. Die Beute verwaltet ihr im Namen des Allmächtigen, teilt mit denen aus Mekka die zu Euch überlaufen, gewinnt neue Anhänger dort, alles wird größer, wird wachsen, Ihr werdet zum größten Propheten aller Zeiten, Gott ist groß…

 

Mahummid unterbricht den Redefluss des Consultants: „Alles schön und gut, aber noch habe ich den Krieg um Mekka nicht gewonnen. Wie soll ich aus dem faulen Pack meiner Anhänger hier Krieger Gottes machen, die sind doch durch nichts zu bewegen einen Lagerplatz aufzugeben, es sein denn die Wasserquellen versiegen.“

 

Der Consultus muss kurz überlegen um gleich darauf die richtige Frage zu stellen: “Woran mangelt es euren Leuten wohl am meisten? Es scheint nicht an Wasser, aber vielleicht an Wein oder anderem Luxus? Dürstet ihnen nach ihren Familien und Kindern?“

 

Mahummid (setzt ein abfälliges Gesicht auf): „Diese einfachen Männer sind glücklich wenn ihnen nicht der Sandsturm ins Gesicht weht. Wein lasse ich nicht zu, der fördert nur Ungehorsam. Familie und Kinder – nein! Die Freiheit zu Pferde oder am Kamel, dass reicht ihnen, und wenn die Lust sie übermannt, dann taugt ein Kamel so wie eine Frau! Nein, es mangelt an nichts hier“

 

Consultus: „Wie viele Frauen habt ihr denn hier im Lager?“

 

Mahummid: „Es müssen wohl so um die Siebzig sein Zweiundsiebzig vielleicht. Aber rechnet nicht herum damit, die Hälfte sind meine Frauen und die andere Hälfte ist hässlich und behaart wie ein Kamel und riecht auch so. Wir verhüllen sie alle deswegen.“

 

Consultus: „Na eben, da liegt er ja der Mangel. Und nicht im Diesseits, im Jenseits soll er behoben werden. Wäre es nicht möglich, das der Engel euch diktiert hat, dass jedem braven Diener und Krieger Gottes,…äh sagen wir gleich 72 wunderschöne Jungfrauen im Paradies erwarten? Das sollte doch für ausreichend Motivation sorgen für das Erste. Das Konzept Belohnung erst später – also eine Art Bonussystem im Paradies – bewährt sich überall prächtig!“ (vgl. ca. 1350 Jahre später erfährt dieses System eine Renaissance als BSC – Business Score Card).

 

Die beiden unterhalten sich lange und ausführlich, bis spät in die Nacht, schmieden an Plänen für die Umsetzung der Strategie. Später, alleine in seinem Zelt, liegt der Consultus noch auf seiner Decke und überlegt ein paar Statements für Papst Bonifatius V und die Bruderschaft. Endlich am Einschlafen hört er die Schreie eines Kamels und versucht das eben in seinem Kopf entstehende Bild wieder verschwinden zu lassen. Das Kamel schreit weiter, und schreit und schreit…

 

„…dieser Zug endet hier“. Der Berater im Intercity 2034 schreckt hoch. Was für ein dämlicher Traum war das denn? Als ob man sich dafür schämen müsste, mit Binsenweisheiten Geld zu verdienen oder gar Jahre später Verantwortung für irgendein blödes entworfenes Geschäftsmodell hätte. Als ob man hier…

 

„…endet hier?“, ruft er sich in Erinnerung, „verdammt, Norden-Norddeich!“ Hannover hat er verpasst! So genau wollte er ja die Stadt Norden gar nicht erfahren. Schon gar nicht so! Jetzt nicht nervös werden, es wird mühsam genug noch nach Hause zu kommen! Er braucht etwas zur Beruhigung, er hat sicher etwas dabei, beginnt in seiner Tasche zu kramen. Da ist zuerst sein Sandwich vom Hinflug: „ohne Gluten“ liest er auf der Packung. Die Salbe gegen den Fußpilz, den er sich in einem der Hotels geholt hat heißt Canesten. Dann die Kopfwehtabletten – Ibuprofen, er hat aber kein Kopfweh. Verdammt, warum ist bloß alles, was man akut braucht immer ganz unten in der Tasche… Endlich! Die Glücklichmacher! Jungfrauen, OP 72 Stück, nicht alle auf einmal nehmen….