Krachmann 2016

Krachmann 2016

von Reinhard Mechtler

 

Josef P. öffnete die Türe zu seinem Büro pünktlich um 07:29 Uhr und nachdem er sich ein Glas Wasser eingeschenkt hatte, setzte er sich an seinen Arbeitsplatz, um den Computer zu starten. Heute Freitag würde der Tagesverlauf wie üblich sein: um 12:30 Uhr würde er in die Kantine gehen, gebackener Kabeljau mit Kartoffelsalat als Hauptspeise verzehren und die Wahlmöglichkeit Suppe oder Nachspeise würde heute zugunsten der Nachspeise, wahrscheinlich Apfelkuchen, ausgehen. Um exakt 14:32 würde er das Büro verlassen und 40 Stunden und 7 Minuten Arbeitszeit in dieser Woche, wie in den letzten Monaten auch, abgedient haben.

 

In seiner Dienstakte, wenn eine existieren würde, würde stehen: „Exaktheit, Akribie, teilweise fantasievolle Form von Buchungstexten, menschlich farblos, unaufgeregt – ein idealer Mitarbeiter“.

 

Dieses Tagewerk wurde nur während des Jahres zum Zeitpunkt vor der Bilanzerstellung unterbrochen. Dies geschah durch Amalie Z., der Bilanzbuchhalterin – eine unausstehliche Person – schlecht gekleidet und mit hoher Stimme, die Erklärungen zu seinen Buchungen haben wollte. Wie jedes Jahr führte Josef P. eine interne Stricherlliste, wo Antworten, die bestätigten, dass er richtig gehandelt hatte, ein Plus auf seiner Seite und wenn Amalie Z. Recht hatte, ein Stricherl auf der anderen Seite ergab.

 

Auch im letzten Jahr war ein Überhang von neun Gutpunkten zugunsten Josef P. gegeben, was ihn dazu veranlasste, am Nachhauseweg ein kleines Bier zu trinken. Für seine Lebensphilosophie eine Sensation.

 

Auch seine private Situation war unaufgeregt. Vor Jahren hatte er eine Freundin, mit der er sogar zwei Jahre zusammengelebt hatte, danach erklärte Sie „sie hätte mit ihm keine Aufregung in ihrem Leben  und nun würde sich jetzt mehr ihrer Freundin zuwenden“, was bedeutete, dass sie von einem Tag auf den anderen die gemeinsame Wohnung verließ. Seither wollte sich Josef P. kein zusätzliches Problem zufolge zwischenmenschlicher Kontaktnahme einhandeln. Seine Essensbedürfnisse konnte er mit Konserven und Fertiggerichten leicht decken.

 

Das Tagwerk wurde plötzlich am heutigen Tag durch den Eintritt von Herbert Z., dem obersten Chef der Firma unterbrochen. Dieser trat ein, gratulierte ihm zu seinem 20. Jahrestag bei dieser Firma, was, wie Josef P. innerlich feststellte, nicht exakt war (es waren nur 19 Jahre 11 Monate und 2 Wochen), bedankte sich für sein Engagement, seine tolle Mitarbeit und er solle doch das Leben genießen und endlich ein Abenteuer wagen. Nach weiteren allgemeinen Floskeln verabschiedete sich Herbert Z. und Josef P. war etwas verwirrt.

 

Erstaunlicherweise hatte heute Josef P. in der U-Bahn von Wien Mitte Richtung Heiligenstadt am Wg zu seiner Wohnung einen Sitzplatz und eine der Gratiszeitungen lag auf seinem Nebensitz. Diese nahm er zur Hand und ein Artikel in der Zeitung stach ihm ins Auge, der lautete „Sind Dschihadisten Abenteurer oder religiöse Fanatiker?“. Auf Grund des vormittäglichen Gespräches mit seinem Chef, bewirkte das Wort Abenteuer, dass Josef P. den Artikel las, in dem intensiv beschrieben wurde, dass man reichen Lohn im Himmel erwarten würde, wenn man den Willen des Propheten erfüllte, einen Irrglaubenden bzw. einen Feind des Islam tötete und dies als gute Tat angerechnet würde. Dieser Gedanke ging Josef P. das ganze Wochenende nicht aus dem Kopf.

 

Die religiöse Motivation des Josef P. war eine Geringe. Er konnte als typischer Wiener „Alibichrist“ bezeichnet werden. Einmal im Jahr, zu Ostern oder vielleicht auch zu Weihnachten in die Kirche gehen, eine Kerze anzünden, ein Kreuzzeichen machen, eine größere Motivation und innere Bindung zur katholischen Kirche hatte er nicht. Noch weniger konnte er mit der Argumentation des Islam etwas anfangen.

 

Mit dem Begriff „gute Tat“ konnte er schon mehr anfangen. War die Beseitigung der Bilanzbuchhalterin Amalie Z. – welch irrwitziger Gedanke – eine gute Tat? Nachweislich ging diese Person allen Leuten auf die Nerven und alle Büromitarbeiter litten seit vier Jahre unter ihrem herrischen Gehabe. Einen Zusammenhang mit dem Islam im Sinne der Beleidigung des Propheten konnte es jedoch nicht erkennen.

Um sich mit dem Thema weiter auseinanderzusetzen, öffnete Josef P. das Internet von seinem Heimcomputer und nach langen Studien der einschlägigen Literatur bzw. der Informationen, wurde für ihn klar, dass er im Zuge der möglichen Tat „Allah sei groß“ zu rufen habe, womit er ein Bekenntnis zum Islam ablegen würde und somit automatisch als Anhänger des Islam und unter der Annahme, dass er eine gute Tat durchführen würde, als Märtyrer eingestuft wird.

Die sonstigen moralischen Konsequenzen beachtete Josef P. einmal nicht und er schrieb akribisch in seiner bekannten Art eine Erledigungsliste, die wie folgt lautete:

  • Finden eines Zieles für einen Anschlag
  • Umsetzung der Tat
  • Sicherstellung, dass auch alle eindeutig „Allah ist groß“ während der Tat hören
  • Vorbereitung auf das Jenseits

 

Sehr bald stellte Josef P. fest, dass die Auswahl eines Zieles und möglicherweise der Verlust seines eigenen Lebens im Zuge dieser Tat, nicht so einfach umzusetzen war. Die Ideallösung z. B. einen Zug zum Entgleisen zu bringen und sich gleichzeitig vor den Zug zu werfen, scheiterte an der dritten Forderung, dass zufolge des Lärmes des Zuges die Wortspende „Allah ist groß“ nicht gehört und möglicherweise eine solche Tat nicht als gute Tat anerkannt wird.

Nach einer Nachdenkphase hatte er den Gedankenblitz zu einem würdigen Opfer. Max M. – aus Datenschutzgründen schrieb Josef P. nicht den richtigen Namen, es könnte dieses Schriftstück überwacht werden – ein regelmäßiger Teilnehmer des jährlichen Erntedankfestes der Wohnhausanlage, in der Josef P. wohnte, hatte bei dem letzten Fest zwei Frauen, die mit Kopftuch zu diesem Fest gekommen waren, wild beschimpft und Ihnen unmissverständlich im Wiener Dialekt mitgeteilt, dass Sie zu den Ziegen in der Wüste zurückkehren und Ihm Ihren Anblickt ersparen sollten.

Da das nächste Erntedankfest demnächst auf der im 6. Stock liegende Terrasse in der Wohnhausanlage stattfinden sollte, war der Plan ein einfacher. Josef P. würde Herrn Max M. zu dem Geländer begleiten und unter lautem Rufen „Allah ist groß„ sich mit dem Opfer hinunterstürzen. Zur Sicherheit der Umsetzung der Tat plante Josef P. dem Opfer  im Sinne der doppelten Buchhaltung ein Messer in den Bauch zu rammen. Nach Durchsicht seiner spärlichen Küchenutensilien stellte Josef P. fest, dass das einzige vorhandene große Brotmesser für die Umsetzung ungeeignet erschien und somit ein neues Messer – aus Vorsichtgründen nicht aus dem Internet – bei nächster Gelegenheit zu besorgen wäre.

 

In seiner Art, die scheinbar einfachen Dinge zuerst zu lösen, wendete er sich dann dem vierten Punkt zu. Nicht uninteressant fand er den Ansatz, im Jenseits 72 Jungfrauen zu begegnen, wobei er nicht begreifen konnte, wie 72 Jungfrauen für tausende Märtyrer zeitgleich im Jenseits vorhanden sein sollten. Allein die Vorstellung, dass Amalie Z., die sicher noch Jungfrau war, weil kein Mann sich an dieser Person vergreifen würde, ihm im Jenseits gegenüberstand, ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen.

Nach einer Nachdenkpause ergriffen Josef P. ernsthafte Bedenken. Seine geringe sexuelle Erfahrung und seine Vorstellungskraft über seine Fähigkeiten als MANN stellten Ihn vor einige Fragen. Was wäre, wenn er jeden Tag sich einer der Jungfrauen nähern müsste? Einmal am Tag und das 72 Tage hintereinander? Was wäre, wenn die Damen nicht warten wollen und er vielleicht zweimal am Tage seine Verpflichtung erfüllen sollte. Unvorstellbar, wenn er einmal versagen würde. Das würde sicher zu einem „Informationsaustausch“ zwischen den Damen führen. Diesem Dilemma müsste man begegnen.

Aus Gerüchten wusste Herr Josef P., dass blaue Pillen die Ungewissheit des Manndaseins wesentlich verbessern konnte. Kurzentschlossen bestellte sich Herr Josef P. eine Großpackung im Internet.

Das Problem war noch nicht endgültig gelöst. Wie sollte das Päckchen der blauen Pillen mit den sterblichen Überresten von Josef P. gleichzeitig in die nächste Dimension gelangen.

Am Beispiel der Zugsentgleisung würde eventuell der Inhalt der Taschen von Josef P. verstreut werden und somit der „Transfer“ nicht gesichert sein. Auch eine testamentarische Verfügung, dass die Pillen in das Grab von Josef P. zu legen wäre, garantierte keine Sicherheit, dass das, durch die Hinterbliebenen auch umgesetzt würde. Auch ein Grabräuber konnte möglicherweise Ihm diesen Schatz entwenden.

Auch eine stundenlange intensive Recherche über die Möglichkeiten, irdische Güter in das Jenseits zur eigenen Absicherung zu transferieren, führten zu keinem befriedigenden Ergebnis.

Diese im Endeffekt einzig ungelöste Frage, führte dazu, dass Josef P. am Ende des Wochenendes beschloss, kein Dschihadist zu werden und somit kein Abenteuer zu wagen.