72 Jungsfrauen

72 Jungfrauen

von Stefan Wurst

 

So ein kleiner, pickeliger Nachwuchsterrorist aus – sagen wir – dem Nordirak beobachtet die Terrasse vor dem gemütlichen Studentencafé und fingert nervös an seiner Kalaschnikow. Aus dem Laderaum des Kleintransporters, dessen unauffällige Beschriftung „Ünal Üzbük, Übersiedlungen, Entrümpelungen für Übersee und zurück“ ihm einen hervorragenden Ausblick auf die harmonische Szenerie bietet, da sämtliche Ü-Punkte im Text in Wirklichkeit Gucklöcher sind, fallen ihm besonders die hübschen Mädchen auf, die hier im frühsommerlichen Europa erheblich weniger bekleidet sind, als seine Urgroßmütter, Großmütter, Tanten, Schwestern, Cousinen und Nichten zu Hause, wenn sie auch, wie er zu seiner Enttäuschung feststellen muss, doch immer noch weit mehr anhaben, als all die jungen Frauen, die er aus den Pornofilmen im Internet kennt. So richtig genießen kann er mit seinen sechszehneinhalb Jahren aber seine immerhin erste, und ja! gleichzeitig auch letzte Auslandsreise nicht. Die 72 Zehnkilo-Pakete Plastiksprengstoff, zwischen denen er mehr oder weniger eingezwängt sitzt, würde er zünden, sobald er via Handy den Befehl dazu erhielte.

Mangels anderer Beschäftigung schweifen seine Gedanken in Richtung seiner Vorhaben bezüglich jener 72 Jungfrauen ab, die ihn in Kürze im Paradies erwarten würden.

 

Aufgrund der Vorhersehbarkeit dieser meiner Erzählung – Blutvergießen hier, Blutvergießen im Jenseits – halte ich aber nun inne und überlasse die Vervollständigung des weiteren Fortgangs dieser Geschichte der Fantasie meiner Zuhörer …

 

Stattdessen verlese ich einen zum Thema bestens passenden Brief, der mich kürzlich von einer vornehmen Dame erreicht hat:

Schon der Briefkopf, der die eleganten Bögen aus handgeschöpftem, gerissenem Bütten zierte, ist erwähnenswert. In wunderschönen Stahldrucklettern war der Name meiner Klientin „Prunilla von Prustenpach“ eingeprägt, ebenso wie die darunter angeführte Adresse, die sich auf die Ortsangabe „Schloss Prustenpach“ beschränkte. Indes war diese zweite Zeile mit einem eleganten Bogen aus einer unzweifelhaft kostbaren Füllfeder durchgestrichen und in einer gestochenen, geradezu ziselierten, Handschrift folgende Adresse hinzugefügt:

„Damenstift für seelische Gesundheit, Wahnfriedpark 1, 7272 Irrsee“. Der nachfolgende Text nun barg einen interessanten Auftrag für meine Anwaltskanzlei.

 

„Lieber Doktor Wurst!

 

Ich danke für Ihren freundlichen Besuch vom 13.10. d.J. betreffend Abfassung meines letzten Willens, welche Aufgabe Sie nach dem Abgang unseres langjährigen Familienanwalts Dr. Felix Instein nun übernommen haben.

Wie ich Ihnen angekündigt habe, füge ich eine Liste meiner zahlreichen Kinder, Enkel, Urenkel, Nichten, Neffen etc bei und überlasse es ganz Ihnen, die im nachfolgenden angeführten Vermögensgegenstände unter diesen möglichst gerecht aufzuteilen.

 

Zuvor erwarte ich aber, dass Sie – wie versprochen – den für das Selbstverständnis unseres Hauses so wichtigen Anspruch auf die Krone des Sultanats beider Sansibar sowie auch den damit verbundenen Titel „Majestät“ durchsetzen. Ebenso wird es für Sie wohl auch keine große Herausforderung darstellen, die Besitzrechte über beide Sardinien (oder waren es beide Sizilien?) für unsere Familie zu sichern.

 

Darüber hinaus habe ich eine Anzahl von Bergen und Tälern zu vermachen, daneben Burgen, Stifte, Dörfer, eine Ballonpudeldame namens „Lady Loicht“, einen Siegelring mit dem Wappen der Grafen von Monte Carlo (oder war es Monte Christo?), zwei Zuchtkapaune, eine aufblasbare Porzellanpuppe, eine Schatulle, vermutlich aus Elfenbein-Imitat, noch vom Großpapa, mit der Aufschrift „Extase-Box“, eine unberührte Leinwand aus dem Nachlass Picassos oder Rembrandts, einen Teilzeitvampir, eine Sturmameise sowie ein durch Hochwasser leicht beschädigtes Memoirenfragment der Heiligen Notburga, einige Briefpoularden, einen Reliquienschrein mit Krachmann-Trostpreisen, den Entwurf einer Grabrede für Heinz Conrads, eine Reisekrone, Görz, Brixen, ein Dampfbügeleisen, ein ehemaliges Brilliantcollier, einen Schminktisch mit eingebautem Plumpsklo, einen Adventkalender, etliche Gläser Eingemachtes, eine Taschenorgel mit 72 Zungenpfeifen, eine mechanische Kaffeemühle aus Muranoglas, eine Wanderdüne, einen Rosenkranz aus Menschenknochen, 72,- Schilling Bargeld, eine Ginsengwurzel, ein Foto von Joseph II mit Widmung und zwei Paläste in Wuppertal.

 

Vergessen habe ich bei dieser Aufzählung noch die Familiengruft im Jemen, ein Devotionaliengeschäft in St. Petersburg, zwei Mumien, einen Samowar aus Bangladesch, die Burgruine Spreizenstein samt Titel der Edlen von Reifenklau, ein Zahnstocheretui aus japanischem Reispapier, ein Frontkurbelveloziped mit Aufstiegshilfe, eine weibliche Wanderpfeifgans, die, vermutlich weil geschlechtlich desorientiert, auf den Namen Rasputin hört, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich war dabei – Bundespräsidentenwahl 2016-2019“, eine Trafik in Mariazell, einen Gedichtband des weltberühmten Autors Stephan Eibel Erzberg mit dem Titel „unter einem himmel.“, gebunden mit Lesebändchen und persönlicher Widmung des Verfassers „für anonyme milliardäre“, ein englisches Kochbuch aus Lourdes, einen sprechenden Papagei mit Zitaten aus Mein Kampf, die Mongolei, einen 72er Karton Feuerwerkskörper mit der Aufschrift „Bio-Bombetten-Bukett-Böller“, eine kunstvoll geschnitzte Tiara aus peruanischer Scheinzypresse mit der Widmung „Den Mitgliedern der katholischen Jugend St. Pölten für ihre Teilnahme an der Altglassammlung Herzogenburg 1972“, die Steiermark, eine Schachtel Aspirin und aus dem Nachlass meines verblichenen Gemahls Nikodemus dessen Autobiographie mit dem verheißungsvollen Titel: 72 Jungfrauen.“