Jurystimmen

Krachmann 2016, Jurystimmen

von Stephan Eibel Erzberg  (Juryvorsitz), Vitus Weh und Elmar Schübl

 

Eisengraberamt, 15. Oktober 2016. Der Tag war für die Jahreszeit besonders mild, die Sonne schien und wärmte das Gemüt. Niemand ahnte, dass die Jury am Abend streng sein würde. Doch nach Jahren des gefühlten Fortschritts auf allen Ebenen – gemeint sind der moralische Zustand der Welt, die individuelle Herzensbildung und die schriftstellerische Qualität der Textbeiträge – gab es plötzlich die eine oder andere Ermahnung, entgegen den Verlockungen stilistischer Manierismen und gewohnter Wege das hehre Ziel der Poesie nicht aus den Augen zu verlieren.

Im Nachhinein bekennt die Jury, dass sie selbst nicht frei von Floskeln ist. Möglicherweise war auch das diesjährige Thema eine so starke Herausforderung, dass nur das Predigen Rettung versprach. Der 12. Krachmann machte eben das Dutzend voll. Einmal mehr stellte sich die Frage: Wie kommt unser hochverehrter Gastgeber bloß zu den herausfordernden Themen? Ein Mysterium, gewiss, das sich aber beloichten lässt. Eine intuitive Annäherung zur Themenfindung: Sex mal zwölf ergibt 72 Jungfrauen. Ein mathematisches oder gar biologisches Paradoxon? Die Latte lag jedenfalls ganz schön hoch an diesem Oktoberabend, als der 12. Krachmann zum Thema „72 Jungfrauen“ im Waldviertel über die Bühne ging.

 

 

Adalbert Franz Josef Strebl

Vitus: Der kurze Text über einen religiösen Fanatiker ist eine pointierte Einführung in das diesjährige Thema. Der Gedanke, dass die titelgebenden „72 Jungfrauen“ möglicherweise Ekel vor dem Körper eines zerfetzten Selbstmord-Attentäters empfinden könnten, ist naheliegend. Beunruhigend ist vor allem der letzte Satz: „man hatte Recht“.

Elmar: Adalbert Strebl reflektiert in seinem Debütbeitrag einen zentralen Punkt des Generalthemas: den bohrenden Zweifel an der Glückseligkeit, deren uneingeschränkter Genuss uns im Paradies ja möglich sein soll.

Stephan: Automatisch wird angenommen, es handelt sich um „junge“ Jungfrauen. Eine Jungfrau im Himmel allerdings kann auch schon mal 1.000.000.000 Jahre und mehr alt sein.

 

 

Christian Weimann

Vitus: Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er die gestellte Aufgabe für eine streng theoretische Fingerübung genutzt hat.

Sein wissenschaftliches Format nimmt dem Thema gerade genug von seiner Schlüpfrigkeit ohne dabei trocken zu werden.

Kompliment!

Elmar: Ich bewundere Weimanns Souveränität im kreativen Erschließen eines theoretisch so anspruchsvollen Themas. Dieser Text hätte Sir Carl Popper gewiss erfreut. Dem Verfasser dieser Denkschrift ist ein weiteres Doktordiplom sicher.

Stephan: Ja, die Sehnsucht.

 

 

Gottfried Schattovits

Vitus: Der Text spannt einen beunruhigend konfessionsübergreifenden Bogen. Trotz der muslimischen „72 Jungfrauen“ klingt

er wie eine Predigt-Übung aus einem christlichen Priesterseminar. Immer wieder hört man den Jargon des religiösen Ahnens. Ein handgreiflicher Inhalt ist nicht auszumachen, aber man spürt die Tiefe des Gedankens geradezu körperlich. Es ist ein buchstäblich „geistvoller“ Text. Die Kritik am Wahnsinn erfolgt durch eine stilistische Affirmation.

Elmar: Was Unbehagen hervorruft, ist der transzendente Anspruch dieser Predigt. Die Prüfung der These, dass dieser Text eine Nähe zu Heideggers „Schwarzen Heften“ aufweist, wäre ein lohnendes Dissertationsthema an einer theologischen Fakultät in diesem Land.

Stephan: Ich dir Gottfried eine wunderbare Zukunft voraussagen.

 

 

Günther Nowak

Vitus: Der Text ist wahrlich monströs. Was wird da nicht alles hineingewoben, um die zentrale Frage „WER BIST DU?“ zu beantworten! Die hübschen kurzen Songzeilen und Filmzitate am Anfang sind zugleich Motto und Täuschungsmanöver. Vielleicht hätten sie als Textbeitrag schon genügt. Bob Dylan hat sich auch kurz gefasst.

Elmar: Als Doors-Fan habe ich mit dem vorangestellten Morrison-Zitat Freude. Als Historiker merke ich an, die ägyptische Geschichte ist sehr lang.

Stephan: Für mich ist festzustellen, wird es differenzierter, wird es automatisch länger und monströser.

 

 

Gregor Zentner

Vitus: Der Autor verknüpft in seinen „Gedanken an den Orient“

zwei unterschiedliche Perspektiven zu einem ausdrucksstarken Gedicht: den touristischen Blick, der die Bazare und Riten des

Orients exotisch findet, und die Angst, dass dieser Orient in Form von Migration in den eigenen Alltag drängt. Dass am Schluss des vorgetragenen Textes noch 72 Jungfrauen erwähnt worden sind,

ist meiner Meinung nach nicht nötig. Sie sind tatsächlich überflüssig [und vom Krachmannpreisträger 2016 dankenswerterweise aus dem hier abgedruckten Text gestrichen worden].

Elmar: Dem Autor ist mit wenigen Worten geglückt einen bleibenden Eindruck vom so weiten Spektrum des heurigen Themas zu vermitteln. Beeindruckend war auch der Vortrag; Gregor Zentner

ist es gelungen, einen orientalischen Hauch in die Waldviertler

Stube zu zaubern.

Stephan: Sehr, sehr guter Text!

 

 

Reinhard Mechtler

Vitus: Ein sehr guter Text! Er zeichnet sich durch Exaktheit und einen unaufgeregten Takt aus. Inhaltlich kommt er unterhaltsam daher, aber unter der biederen Oberfläche der Hauptperson ist eine enorm explosive Kraft zu spüren! Auch der Vortrag hat davon viel spüren lassen.

Elmar: Es ist die ausgeprägte Liebe zum Detail und die Fähigkeit, im Alltäglichen das Tiefgründige zu erkennen, das mich an diesem Text fasziniert. Reinhard Mechtler zeichnet aus, dass er die Dinge zu Ende denkt.

Stephan: Ja, stimmt.

 

 

Bernhard Mitterer

Vitus: Der Text versucht auf wenigen Seiten eine magische Welt

mit zahlreichen Figuren und Details entstehen zu lassen. Das ist natürlich ein schwieriges Unterfangen. Auch Profis wie Cornelia Funke (s. „Tintentod“) oder Astrid Lindgren (s. „Gebrüder Löwenherz“) brauchen dazu viel Zeit und Raum, also ein ganzes Buch. Der vorgetragene Text hat – trotz seiner Länge – diese nötigen Zutaten nicht bekommen und bleibt daher ganz flach. Ein magisches „Flachland“ sozusagen. Zudem strotzt der Text vor esoterischen Klischees, dass mir das Herz stehenblieb.

Elmar: Bernhard Mitterer erleidet in diesem Jahr ein typisches Krachmannschicksal, das so mancher bereits überstanden hat. Im Unterschied zu vergangenen Jahren hat diesmal sein episch-langatmiger Text enttäuscht.

 

Stephan: „Glanz, Licht, Fackeln, Höhlen, Stille, Schatten, entschlüsseln, endlos, Angst, unsichtbar, nie wieder, vergessene“ sind Wörter der emotionalen Rhetorik, sind Wörter, die oft in Gedichten vorkommen...

 

 

Stefan Wurst

Vitus: Ein etwas schizophrener Text, der in der Mitte in zwei Stücke zerbricht: zunächst wird ein Nachwuchsterrorist beschrieben, der in einem Umzugswagen auf seinen finalen Sprengstoff-Einsatz wartend an das versprochene Paradies denkt, und dann kommt eine reiche Erblasserin zu Wort, die einen Rechtsanwalt – namensgleich mit dem Autor – schriftlich um die Verteilung ihres Krimskrams bittet. Die einzige Verbindung dieser zwei Gestalten ist, dass sie sich beide Gedanken um ihr Nachleben machen. Statt der Kaprize über die blasierte Erblasserin hätte ich mir gewünscht, mehr aus dem Leben des Nachwuchsterroristen zu hören.

Elmar: Eine Reihe ganz außergewöhnlicher Geschenkideen, von welchen unser Gastgeber höchstwahrscheinlich die eine oder andere aufgreifen wird, verdanken wir heuer Stefan Wurst. Einblicke in die letzte Stunde des Nachwuchsterroristen, geboten von diesem Großmeister der Erzählkunst, hätten mich brennend interessiert.

Stephan: Schöne Sprache und hervorragend vorgetragen.

 

 

Stefan Loicht

Elmar: Der Text „Das wirklich wahre Leben von Mohammed“ vereint alle Vorzüge, die wir von Stefan Loichts schriftstellerischem Talent kennen. Wissenschaftlich Fundiertes aus Geschichten unterschiedlicher Kulturen und Epochen, Fiktionales und Zeitdiagnostisches fügen sich zu einem Text, in dem sich mehrere Ebenen verschränken. Lyrische Anflüge, die an Rainer Maria Rilke erinnern, und geniale Wortschöpfungen – „ Datteldodeln“ ist mein Favorit – verströmen orientalischen Charme.

Vitus: Der Text erscheint mir als perfektes Drehbuch für den nächsten Monty-Python-Film. Damit würde noch klarer, dass es sich beim Monotheismus um eine Art Wüsten-Soap-Opera handelt, also um eine wüste Geschichte in drei Folgen.

Stephan: Für mich ein in sich geschlossener, klarer Text. Deutlich zeigt er den Irrsinn, der zu jeder Stunde auftreten kann und auch auftritt. Der Text zeigt, was Joe Berger mir immer sagte: Du brauchst nix recherchieren, du hast alles im Kopf, im Notfall erfinds einfach. Gratuliere!

 

 

Sabina Loicht

Vitus: Der Text von Sabina ist was ganz besonderes. Die anfängliche Skizze einer realen Ehe hat mich beeindruckt. Ihre forcierte Pragmatik hat eine unheimliche Wucht. Später wird der Text leider schwächer. Das Zusammentragen der 72 Jungfrauen aus diversen Quellen ist eine Fleißaufgabe. Mehr und mehr breiten sich zudem typische Krachmann-Lustigkeiten aus. Ich würd mich freuen, wenn dieser Text nochmals überarbeitet würde. Die anfängliche Pragmatik hat formal ein hohes Potenzial.

Elmar: Ich hätte mir nicht gedacht, dass Vitus zu predigen beginnt. – Der Auftakt dieses Textes ist einfach fulminant. Das ist große Literatur, die starke Bilder evoziert. Besser könnte auch ein Meisterwerk Ingmar Bergmans nicht beginnen.

Stephan: Ja, der Text ist besonders. Danke!

Michael Drucker

Elmar: Das ist eine abenteuerliche Geschichte, die Elemente des historischen Romans integriert und sich zum Teil auch an die klassische Dialogform anlehnt. Aber gewisse Pointen dieses Textes, wie zum Beispiel jene am Schluss, gehen leider nicht so recht auf.

Vitus: Anders gesagt: du hast literarisch hohe Kapazität. Den Bruch am Ende fand ich daher bedauerlich. Ich hatte Hoffnung auf etwas anderes, kein so stilistisches Mauseloch wie das Aufwachen aus einem Traum.

Stephan: Was literarische Kapazität betrifft, stimme ich Vitus zu.

Du hast eine sehr hohe und sie auch für uns hörbar vorgetragen.

 

 

Christian Ondrak

Vitus: „72 Jungfrauen“ lautet in diesem Text die Adresse eines Etablissements in Wien. Obwohl es sich stilistisch um ein Gespräch handelt, hört man nur eine Stimme. Sie ist anfangs larmoyant, am Ende bösartig. Das Reduzierte Deiner Form passt gut zum inhaltlichen Abgrund der geschilderten Fantasie.

Elmar: Du hast Dich im Laufe der Jahre zu einem großen Geschichtenerzähler entwickelt. Dein heuriger Beitrag erinnert mich stark an Helmut Qualtingers „Der Herr Karl“ – Respekt und herzlichen Dank!

Stephan: Schon auch ein Meister.

 

 

Wolfgang Weißensteiner

Vitus: „Was für ein Scheiß“ ist kein guter Textbeginn. Warum solch ein Kraftausdruck? Warum muss die himmlische Vision des Hauptteils überhaupt eingebettet werden in einen saloppen Auftakt und eine abschließende Entzauberung? Das „Aufwachen aus einem Traum“ als Schluss für eine Story ist schon ziemlich verschlissen.

Elmar: Dass dieser Leseabend mit diesem recht klassisch anmutenden Krachmann-Text seinen Abschluss findet, erscheint mir stimmig. Der Traum ist zweifellos eine Dimension unserer Realität; ihre Vielschichtigkeit wird uns hier nochmals vor Augen geführt.

Stephan: Danke.