Am roten Platz oder die Laus im Bart Thors

Am roten Platz oder die Laus im Bart Thors[1]

von Bernhard Schausberger, September 2017

 

Prolog

 

„Unsere Stämme wohnen seit Generationen an schwarzen, blonden und roten Orten. Erzählen will ich Euch heute vom Wirken eines Stammes an einem roten Platz. Dies geschah in alter Zeit. Der Stamm war nach turbulenten Epochen im wärmsten Teil des roten Dickichts an dessen äußersten Rand gezogen. Zu oft hatten früher süße klebrige Fluten zahlreiche Angehörige in den Tod gerissen, zu nah und heiß war der Odem jener vom anderen Geschlecht gekommen, zu laut war das Gebrüll im Kampfeslärm und das Schnarchen zur Mondzeit. So hatten die Stammesältesten einst den Umzug beschlossen. Die Erlebnisse dieses Stammes würde Bände füllen, aber das Bemerkenswerte ist der Anteil, den unsere Ahnen am Wirken und Werden der Großen jener Zeit hatten.“

 

Der Lehrer hub die Stimme an und begann zu erzählen.

 

 

Das Erlebnis

 

Es ist eine Geschichte von einer Gottheit im Hohen Norden, Thor oder auch Donnergott genannt, welchselbiger zu Beginn der Menschheitsgeschichte lebte und wirkte. Sein Leben war durchaus einfach und geprägt von vielerlei Formen der Jagd: jene der Riesen, jene der Trolle und Ungeheuer, jene der Schürzen und des Bodens großer Wein- und Metfässer. Dies war eingebettet in den Tagesablauf der Vornehmen im Hohen Norden, welcher nebst zahlreichen Scharmützeln vor allem aus dem Dreigestirn von Gelage, Beratung und Gericht bestand. Erwähnt sei noch, dass er sich ungern langewährenden Beratungen hingab: sein Gebot der Lösung war rasch zur Hand: Weg, Ziel und Ergebnis waren praktisch eins.

 

Kurzum, wir erzählen von einem gestandenen Mannesgott und jener war – dank dem Wirken der Götter – für lange Zeit in den besten Jahren. Wo sein mächtiger rotblonder Schopf, sein Bart, der Gürtel und die eiserne Hand mit dem Hammer erschienen, da spürten alle die ihm innewohnende Kraft und des Götterlebens pralle Fülle. Es galt: wo Thor hinschlug, da barst der Felsen und der Kopf des Riesen. Zahlreiche Fjorde, Felsabbrüche und Klammen aber auch zahlreiche Nachkommenschaft mit Namen wie Thorsson oder Thorsten zeugen noch heute von der regen Tätigkeit seines Hammers.

 

Allein, bereits in dieser Vorzeit wurden auch jener Götterstamm, genannt die Asen, von allerlei Ungeziefer geplagt, so auch der Donnergott. Manchmal war das Jucken dergestalt, dass es dem Angriff einer Hundertschaft bissiger Schlangen glich. Jedoch, ein Götterleben ist geprägt von wenig Zeit für die unbedeutenden Verrichtungen des Daseins, wie die morgendlichen oder abendlichen Rituale des Waschens oder gar der Bartpflege. Nie fand er die Zeit und die Muse sich nach durchstandener Liebesnacht von einer Schönen, gleich der Freyja, gründlich lausen zu lassen. Allzu sehr drängte es ihn zu neuen Taten, den Gürtel anzulegen, den eisernen Handschuh überzustreifen und Mjölnir, seinen Hammer zu ergreifen. Sich immer von neuem in sein Götterleben – geprägt von Kampf, Trunk und Mannestum – zu stürzen.

 

Man sollte denken, rasender Juckreiz wäre dabei ein zumindest merkliches Ärgernis – dem war beileibe nicht so. Im Gegenteil – mit der Erfahrung und dem Alter lernte Thor die Läuse im Bart zu schätzen und just davon will ich Euch Kunde zutragen. Ich will dabei nicht näher auf jenen Tag eingehen, an dem Thor – nach maßlos durchzechter Nacht – nahe daran war, seinen Harn an Yggdrasil, der Weltesche abzuschlagen. Ja, es ist wie ich erzähle: just an jener Esche, deren eine der drei Wurzeln gen Himmel ragt und den Urdbrunnen birgt. Dort, wo die Götter ihre Gerichtsstätte haben.

 

Was ihn rettete? Allein das teuflische Jucken in Bart und Haupthaar – denn, so wie man nicht Niesen und Atmen in einem Zug kann, so kann das Kratzen des Bartes und das Harnlassen des Mannes nicht Hand in Hand gehen. Und gnädig war die starke Hand des Freundes, welche den Trunkenen heim an sein Lager zerrte. Angesichts von Donner und Erdbeben im Gefolge geringerer göttlicher Umtriebe, wollen wir uns nicht ausmalen, was auch nur ein einziges, verlorenes Tröpfchen an diesem durchaus denkwürdigen Tage hätte bewirken können. Nein, das war noch nicht der Wendepunkt im Leben Thors, denn in seinem Zustande wusste er von alldem nichts mehr, als er Tage später davon diskret Kunde erhielt.

 

Nein, es ist eine ganz andere Episode aus seinem Leben. Es ist im Wortsinn die Geschichte von Thors Enttäuschung. Es begab sich, dass Thor und seine Gefährten an eine Riesenburg kamen und dort herausgefordert wurden. Nein – nicht zum Kampfe, sondern zu Kräftemessen der verschiedensten Art. Utgard-Loki, der Burgherr hatte Thor geschmäht, an seiner Größe, seiner Kraft, seiner Bedeutung gezweifelt und ihn dann zuerst geheißen, ein Trinkhorn zu leeren. Ein erster gewaltiger Zug, das Horn blieb voll, ein zweiter noch gewaltigerer Zug – allein das Horn blieb voll. Da setzte ein gewaltiges Jucken im Bart ein, allein das Trinkhorn verlangte aufgrund seiner Größe die Kraft beider Hände, an ein Kratzen war nicht zu denken … Der Donnergott nahm einen dritten Zug, der ihn zu sprengen schien und ja, nun sah man, dass ein Schluck aus dem Horn getan war, zwar kein großer, aber doch ein merklicher Schluck. Die zweite Aufforderung: eine Katze vom Boden zu heben – dieses unbedeutende graue Tier – er würde es nehmen und vor den Augen des Burgherrn in die Lüfte schnellen lassen. Doch er nahm das Tier und der Katzenbuckel wuchs und wuchs – das juckende Inferno in seinem Bart ließ ihn all seine Muskeln und Sehnen spannen, aber mehr als ein vom Boden gehobener Fuß der Katze war nicht zu vermögen. Und zu guter Letzt der Ringkampf. Der Burgherr hatte ihm – gleichsam als Gipfel der Verhöhnung – eine alte Frau als Gegnerin zugeteilt. Ungern aber doch, so dachte er, würde er sie nun vor aller Augen in eine verrenktes Häufchen am Boden verwandeln, ja, sie vielleicht sogar mit seinen Händen ein wenig in den steinernen Boden der Burg eindrücken. Doch nach kurzem Ringen begannen die Zweifel – die Alte bestand wohl aus Fels und Eisen und hatte die Gewandtheit eines Flusses und die Biegsamkeit einer jungen Birke. Das Kampfesgeschick war im Begriff sich zu drehen und zu wenden und drohte ihm zu entgleiten. Er spürte die runzlige Haut der Alten im Nacken und wie sie ihn scheinbar unbeugsam zu Boden drückte. All seine Muskeln, seine Sehnen und Adern waren zum Bersten gespannt und er schien die ganze Welt zu tragen und – ja der Schweiß im Barte machte das Jucken zur fast lustvollen Qual und der Widerstreit all dessen – der Zweifel, die nahende Niederlage und das teuflische Jucken im Bart machten seinen Körper gleichsam zu Stein. Nur eines der beiden Knie des Donnergottes berührte den Boden und mehr vermochte auch die Alte nicht zu erreichen. Nach scheinbar stundenlangem Stillstand – die beiden Kämpfenden glichen ineinander verwachsenen Bäumen –war der Wettstreit für beendet erklärt worden.

 

Am nächsten Morgen drängte es Thor und seine Gefährten die Stätte der Niederlage so rasch als möglich zu verlassen. Utgard-Loki, der Riese hatte sich als Meister der Täuschung erwiesen: das Trinkhorn hatte er mit dem unendlichen Meer verbunden und mit Thors letztem Schluck war die Ebbe und damit die Gezeiten entstanden. Die Katze war die weltumspannende Midgardschlange gewesen, und er hatte sie so hoch gehoben, dass sie fast den Himmel berührte und nur mehr Kopf und Ende der Schlange auf der Erde blieben und damit das Weltgefüge ins Wanken zu geraten drohte. Und die alte Frau? So wisset – zuvor und danach gab es kaum jemanden, den das Alter selbst nicht zu Fall brachte. Doch er hatte widerstanden. Nach diesen Ausführungen und dem Wunsch, dass es nie ein Wiedersehen geben möge, war Utgard–Loki – gleich dem Blitz – vom Erdboden verschwunden, schneller als Thors Hände nach dem Hammer langen konnten.

 

Mit einem gewaltigen Lachen hatte sich Thor seinen Gefährten zugewandt, doch im Inneren des Donnergottes war da eine Wirrnis an Gefühlen, aufs erste nicht zu durchschauen und kaum zu durchmessen, gleich einem dornigen Dickicht in der nahenden Dämmerung. Er konnte es zuerst nicht ausmachen, denn in seinem bisherigen Leben hatte es kaum Fährnisse gegeben, die nicht in greifbarer Zeit mit der Eisenhand und dem Hammer gelöst worden waren. Erst allmählich begannen sich die Erlebnisse und Gefühle zu lichten. Nun, wäre da nicht wieder das Jucken im Bart, so hätte er wohl gedacht, dass das gesamte Erleben ein Traum, ein trunkenes Trugbild gewesen war. Er war der Täuschung erlegen, schlussendlich aber blieb seine Ehre unbefleckt: seine gewaltigen Kräfte hatten den Riesen das Fürchten gelehrt und doch – er musste sich eingestehen – ohne die juckende Hundertschaft im Bart, hätte er all dies nicht vermocht. Und er mochte sich gar nicht ausdenken, was geschähe, sollte er je diese geballten Kräfte gegen sich richten.

 

Und ja, das Gefühl der Niederlage war irgendwie auch wundersam gewesen. Sein ganzes bisheriges Leben war ein Tanz mit dem Hammer gewesen, zwischen Riesen, Trollen, Frauenschößen, weiten Teils trunken von Met und Wein. Mit dieser Täuschung und der folgenden Enttäuschung ergab sich ein Bruch in diesem lange Weile währenden Leben. Gleichsam ein gallbitterer Tropfen im zuvor unendlichen Strom süßen Mets. Was ist wohl der Effekt eines solchen schwarzen Tropfens? Danach vermag man die goldene Süße des Mets wieder deutlich zu schmecken und erfährt ungeahnte, bereits verloren geglaubte Freude am Leben und Wirken. Ihr seht: das Erlebnis hatte den Donnergott im tiefsten Inneren erfrischt, ihm aber auch vor Augen geführt, dass man oftmals über den wahren Grund seiner Stärke besser schweigt.

 

 

***

 

 

Und der Lehrer schloss die Erzählung: „Auch den mächtigsten Händen fehlt oft der Verstand zu begreifen, welch‘ kleine Wesenheiten ihr Geschick lenken. Und darum erinnern wir uns jede Woche …“

 

„Donnerstag“ schallte es wie aus einem Mund. Der Lehrer strahlte: „darum erinnern wir uns jeden Donnerstag an unsere Ahnen im rotgoldenen Barte Thors.“ Mit diesen Worten endete der Lehrer seine Erzählung.

 

 

Epilog

 

„Jedes Jahr zu Schulbeginn das Gleiche …“ dachte sie bei sich. Ihr Sohn Jeremy hatte wieder Läuse. Täglich das Bettzeug waschen, die Stofftiere in der Kühltruhe einwintern, dem widerspenstigen Jungen täglich zweimal die Haare waschen, mit dem feinen Kamm die Nissen auskämmen. So kleines, unnötiges Getier und so viel Aufwand … Und das noch dazu heute, am Donnerstag, wo im Abendprogramm eine ihrer Lieblingsendungen lief. Aber es musste sein – der Junge kratzte sich ohne Unterlass. Sie seufzte und rief: „Jeremy, komm‘ jetzt endlich – wir müssen Haare waschen!“

 

Dies rief sie, unwissend, in welch‘ künftigen Geschicke sie mit der Vernichtung einer ganzen Sippschaft womöglich eingriff.

 


[1] Die Geschichte ist aus der Prosaversion der Edda entlehnt; ob es sich um eine korrekte Wiedergabe handelt? Da müsst Ihr die Läuse fragen!