Rote Plätze? Rote Plätze!

Rote Plätze? Rote Plätze!

von Matthias Karrer

 

Die Mehrheit der werten Zuhörer des Krachmannpreises werden beim Hören der Wörter Rote Plätze wahrscheinlich eine völlig andere Assoziation haben als ich. Wahrscheinlich hätte ich diese Geschichte auch nie erzählt, aber mein lieber Freund Stefan hat mich doch sehr motiviert, diese autobiographischen Gedanken zu Papier zu bringen. Die Begrifflichkeit „Rote Plätze“ hat etwas, dass mich mein ganzes Leben geprägt hat. Aber dazu später.

 

Begonnen hatte alles im Jahr 1993. Ich wurde zum Zivildienst einberufen. Da ich zu einer Zeit einrückte, wo es noch notwendig war, sein Gewissen vor einer Kommission darzulegen, war die Anzahl der Zivildiener dementsprechend niedrig. Das hatte zum Vorteil, dass Rettungsdienste und andere Einrichtungen um Zivildiener heftig buhlten. Ich entschloss mich für das Rote Kreuz, in der Hoffnung mit dem harmlosen herumkutschieren von Pensionisten, Kranken und Anderen eine ruhige Kugel zu schieben.

Doch es kam ganz anders. Ich wurde zum Roten Kreuz in Tulln eingeteilt. Das war eine große Rettungsstation mit angeschlossenem Notarztstützpunkt.

Mein erster Tag im Juni 93 war auch gleich der erste Moment, wo ich am liebsten meine Entscheidung zum Zivildienst revidiert hätte. Mein Gott, das Bundesheer ist vielleicht nicht der Ort wo über intellektuelle Literatur gesprochen wird, aber die 8 Monate hätte ich doch relativ leicht überstanden.

Hier im Vorraum des RK Tullns wurde ich zwar freundlich begrüßt, aber der erste Satz schockte mich doch etwas. „Kannst Du nächste Woche bereits Dienst am Notarztwagen machen?“ rief mir der Dienstellenleiter entgegen. Die Wurstsemmel, die ich am Bahnhof gerade noch genüsslich verschlungen hatte, kam mir gleich wieder hoch. Besonders als ich den zweiten Satz hörte: „Wirst schon nicht auf einen der roten Plätze fahren“. Was war das mit diesen roten Plätzen? Ich wollte lieber nicht nachfragen, denn so wie das klang, war das nichts Erbauendes.

Die Tage vergingen und ich durfte einige Male als dritter Sani mit dem Notarztwagen mitfahren. Die Einsätze waren harmlos, und so wechselte meine Angst zunehmend in Neugier und Interesse.

Im August 93 war es nun endlich soweit, ich durfte oder besser, ich musste den ersten Dienst am Notarztwagen machen. Nur diesmal war ich neben einem völlig teilnahmslosen Fahrer, der nur höchst ungern die Fahrerkabine verließ, der Einzige der dem Notarzt assistieren konnte.

Es war einer dieser sehr heißen Augusttage. Das Thermometer zeigte 37 Grad bei strahlendem Sonnenschein. Die drückend heiße Luft stand im Aufenthaltsraum, als der Notruf läutete. „Schwerer Verkehrsunfall auf der B3 zwischen Stockerau und Tulln mit zwei PKWs“ lautete die Meldung. Die B3 war damals eine zweispurige Schnellstraße, die berüchtigt war für sehr schwere Verkehrsunfälle. Heute ist sie eine Autobahn und glücklicherweise nur mehr selten in den Schlagzeilen.

Bei der Hinfahrt fragte ich mich, wie zwei Fahrzeuge auf einer schnurgeraden Straße, am helllichten Tag und bei trockenen Bedingungen zusammenstoßen konnten. Als wir dort eintrafen war mir gar nicht klar, wo die beiden Unfallautos standen. Auf den ersten Blick erkannte ich neben diversen Blaulichtfahrzeugen keine Unfallautos. Erst bei näherer Betrachtung sah ich in einer Entfernung von zirka 20 Meter zwei völlig zertrümmerte Fahrzeuge. Diese mussten mit einer sehr hohen Geschwindigkeit kollidiert sein, da sie in einem doch beachtlichen Abstand zueinander standen. In diesem Zustand war es auch völlig unmöglich, eine Automarke zu erkennen, die Farben der beiden Fahrzeuge waren das einzige Erkennungsmerkmal. Als unser NAW stoppte, riss ich unsere Koffer aus dem Seitenfach und rannte mit unserem Notarzt zu einem der PKWs. Der Fahrer des weißen Irgendetwas war völlig blass und regungslos, das Blut tropfte von der Nasenspitze über den seitlichen Airbag am Rahmen entlang und dann weiter auf den Fahrbahnbelag. Ich wusste nicht warum, aber anstatt mich auf den Patienten zu konzentrieren war ich im völligen Bann dieses einen Bluttropfens. Der Weg dieses Bluttropfens hatte eine unglaubliche Anziehung für mich. Mir fiel auch auf, dass die Farbe des roten Blutes fast schon ins Braune ging. Der Notarzt versuchte, den Puls zu tasten und machte eine schüttelnde Bewegung mit dem Kopf und deutete mir an, ihm zu folgen. Es fiel mir schwer, meine Aufmerksamkeit auf das neue Szenario zu lenken, denn mittlerweile tropfte immer mehr Blut vom Kopf des Unfallopfers auf die Hand und weiter auf einen Außenspiegel, der scheinbar grundlos am Boden lag, auf den ausgebleichten Beton. Eigentlich hatte dieser blutgetränkte Spiegel fast künstlerische Züge. Für Bruchteile von Sekunden erfassten meine Augen die kleinen Blutspritzer auf dem verchromten Spiegel. Völlig losgelöst fuhr ich hoch, als der Notarzt schrie: „Was ist mir Dir! Der ist tot, vergiss es“. Ich sprang auf und lief zu dem völlig devastierten dunkelblauen Autowrack. Der Anblick war erschütternd und dramatisch zugleich. Ich musste meine Vorstellung und meine aufkommende Panik, jemals selber in so eine Situation zu kommen, mit zwei lauten Hustengeräusche übertauchen. Der Lenker war zwischen Sitz und Armaturen schwer eingeklemmt. Die Beine konnte ich nur sehr schwer identifizieren. Eigentlich waren das keine Beine mehr, sondern nur mehr blutige Klumpen von Gewebe und Knochen. Der Notarzt legte eine intravenöse Leitung und erklärte dem Patienten seine Vorgangsweise. Als der schwer verletzte Mann etwas entspannter wirkte, wobei das vielleicht eher meinem Wunsch entsprach, als das es die Realität war, gab er der Feuerwehr Anweisung zur Bergung. Der zirka 60-jährige Mann wimmerte vor sich hin, ohne auf irgendwelche Fragen der umgebenden Personen zu reagieren. Während die Feuerwehr arbeitete, drehte ich mich immer wieder zu dem anderen Fahrzeug um. Mittlerweile konnte ich eine kleine blutige Pfütze neben dem Fahrzeug erkennen. Es war völlig abstrakt, der Haufen Blech, Mensch, Blut, Schreie und einen Haufen wild gestikulierender Einsatzkräfte. Als der zweite Fahrer endlich aus dem Fahrzeug geborgen war, wurde er mittels Spineboard, auf Deutsch Wirbelsäulenbrett, auf eine sogenannte Vakuummatratze gebettet und angeschnallt. Dieses menschliche „Paket“ wurde danach auf die Trage gelegt und ins Auto geschoben. Ich lief noch einmal zurück um unseren Koffer zu holen, dabei fiel mein Blick auf den unversorgten Fahrzeuglenker, der mittlerweile abgedeckt am Straßen-rand lag. Der kleine Blutsee mit dem blutigen Außenspiegel war genauso positioniert wie vor 15 Minuten.

Einige Tage später fuhr ich an der gleichen Stelle vorbei, wobei nichts mehr an die Tragödie erinnerte, außer einem kleinen grauen Fleck auf der Fahrbahn. Genau an der Stelle, wo der Spiegel und die kleine Blutlache waren. Dieser Fleck wirkte fast wie stilles Mahnmal, nicht sehr aufdringlich aber doch hinweisend, dass hier ein Mensch gestorben ist.

 

In meiner weiteren medizinischen Laufbahn erlebte ich noch viele weitere Situationen, wo Blut eine große Rolle spielte.

Da war das Kind, das aus dem Fenster im 6. Stock stürzte, die Schwangere, die nach der Geburt an unstillbaren Blutungen litt, die alte Frau, die in die Notfallaufnahme kam und Unmengen an Blut erbrach, die junge Mutter, die eine Straße überquerte und von einem Fahrzeug angefahren wurde, das hübsche junge Mädchen, das bei einer völlig harmlosen Operation zum Bluten anfing, der Obdachlose, der unter einen Zug kam, der Motorradfahrer, der mit einen Baum kollidierte, der junge Lehrling, der sich in einem Metallverarbeitungsbetrieb den Fuß abtrennte, der Mountainbiker, der über einen Abhang abstürzte, die Patientin, die auf der Intensivstation auf Grund einer Erkrankung unstillbare Blutungen am ganzen Körper hatte, der verwahrloste Mann in der schmutzigen Wohnung, der sich in suizidaler Absicht ein Messer in den Hals rammte und noch viele andere.

Egal ob der Notfall auf der Straße, auf der Intensivstation, im Operationssaal oder an einem sonstigen Ort stattfand, eines war diesen Plätzen gemein, wenn alles vorbei war: Es war diese unendliche Stille und Leere. Oft zeigte der blutgetränkte Boden die Reste und Spuren des vorangegangenen Kampfes um das Leben eines Menschen. Blut, diese Flüssigkeit, die so viel Leben, aber auch so viel Grausamkeit bedeutet, wenn sie verloren geht. Diese roten Plätze, ja, ich bezeichne sie seit meiner Zivildienerzeit so, haben mich nie losgelassen. Jeder Platz, an dem ich anwesend war, erzählt mir diese eine Geschichte und wird immer ein Teil von mir sein.