„Kein Thema!“

Stehmann Victor

 

Beckmanns Lider lagen drückend auf seinen Augen. Dunkelheit breitete sich aus. Er fühlte sich verloren und konnte die Situation nicht einordnen. Unerträgliche Hitze lag über ihm und machte jede Regung fast unmöglich. Transpirationsperlen standen ihm auf der Stirn und die Decke, unter der er lag, troff vor Nässe. Eine Fliege nervte plötzlich unerträglich durch ihre Fluggeräusche und forderte Beckmanns sofortige Reaktion. Nur mit Mühe konnte er das rechte Auge öffnen und fand sich in seinem eigenen Bett. Gleich dem Morgen dämmerte es nun auch ihm. Der Herbst hatte sich früher als sonst eingestellt und hatte eine verfrühte Inbetriebnahme der Heizung erfordert. Nachdem der kleine Ofen die ganze Nacht auf vollen Touren gearbeitet hatte, herrschten in Beckmanns kleinem Refugium höllenhafte Temperaturen. Dies erklärte auch Beckmanns unruhigen Schlaf inklusive seltsamer Träume, an die er sich nicht mehr erinnern mochte. Beckmanns Hirn brachte seinen Körper dazu, aufzustehen und die morgendliche Routine zu beginnen.

Er holte sich ein Glas Orangesaft und ließ sich in seinen durchgesessenen Fernsehstuhl fallen. Das Einschalten des Fernsehgerätes, um per Teletext die Nachrichten des Tages zu studieren, passierte fast schon automatisch. Beckmann besaß einen altertümlichen Fernsehapparat, benutze ihn aber selten in dessen eigentlicher Bestimmung. Teletext zu studieren entsprach Beckmanns Naturell eher. Hier konnte er sich die Themen, die er studieren mochte, im Gegensatz zu den moderierten Nachrichtensendungen, selbst zusammenstellen. Als er das Datum in der rechten oberen Ecke des Bildschirmes sah, entspannte sich Beckmann. Er hatte Freitag hinter sich gebracht und konnte sich auf ein Paar entspannte Tage freuen. Samstag hatte schon immer seinen Lieblingstag dargestellt. Endlich konnte er Dinge tun, die er lange vor sich her schieben musste. Drei Tage lagen noch vor dem Annahmeschluss für seinen Beitrag zur Teilnahme zum größten aller Literaturpreise – der Krachmannpreis. Beckmann hatte noch immer kein Thema gefunden. Konnte er überhaupt ein passendes Thema finden, um diesen genialen Schüttelreim zu toppen, mit dem er den ersten Platz der letztjährigen Konkurrenz einheimsen konnte? Aber erstaunlich auch, dass sich so überhaupt kein Thema einstellen mochte, da sich ihm doch in vergangenen Tagen so viele potentielle Themen aufgedrängt hatten. Alle in Luft aufgelöst, als ob sie nie existiert hätten. Aufgeben mochte Beckmann nicht und so öffnete er seinen Geist, um für das Thema seines Beitrages bereit zu sein, sobald es den Pfad zu ihm gefunden hatte.
Beckmann schaltete entgegen seinem gewohntem Nutzungsmuster von Teletext auf das normale Programm. Der Bildschirm leuchtete vorerst in einem seltsam abnormalem Türkis, bevor endlich Frau Thurnher erschien, um die Neuigkeiten des Tages zu verlesen. Neuigkeiten? Nachrichten? Eher Belanglosigkeiten. Ein Bericht über die neue Fassadenfarbe der Volksoper, eine ausführliche Stellungnahme von Helmut Zilk zu seiner Eröffnung einer Hundezone im Schubertpark. Und als Krönung eine Sondersendung zur neuen Frisur von Frau Kammersängerin Sarata. Beckmann änderte den Kanal. Am Schirm zeigte sich eine Diskussionsrunde mit unbekannten Kulturtreibenden. Aber auch hier absolute Belanglosigkeiten, die man sich gegenseitig als Fragen stellte, die aber genau so auch als Reaktionen darauf zurückkamen. Beckmann befand sich bereits erneut in einem Dämmerzustand kurz vor einem erholsamen Schlaf, als er sich befahl, aufzustehen und sich anzuziehen. Frische Luft konnte ihm eventuell gut tun und bei der Findung eines Themas für seinen Beitrag zum Krachmannpreis helfen.
Beckmann spazierte die Mariahilferstraße bergan. Scharen von Menschen auf der Suche nach Ausverkaufsschnäppchen. Der Gehsteig zugepflastert mit Plakatständern zum Stimmenfang für die anstehende Nationalratsneubesetzung. Je drei Holzplatten, tapeziert mit einem grinsenden Politikerkonterfei, im Dreieck verbunden und zu Hunderten genau auf Augenhöhe von Autofahrern aufgestellt, mit dem Ziel, diese an der Teilnahme am Verkehr zu hindern und stattdessen deren Aufmerksamkeit auf das Thema des auf dem Plakatständer grinsenden Politikers zu lenken. Doch Themen konnte man das eigentlich nicht nennen, das Beckmann hier in schrillen Farben plakatiert aufgedrängt bekam. „Nur er kann das“ unter dem Konterfei eines bebrillten Hausmusikanten, „Der Patriot“ nannte sich ein Anderer mit Narbe im Gesicht, „Die anderen sind eh alle deppert“ versuchte sich ein Dritter mit Brille und Irokesenschnitt. Beckmann setzte seinen planlosen Spaziergang fort und ließ seine Gedanken um explodierende Planeten und tanzende Flusspferde kreisen, als in ihm das unbestimmte Gefühl hochkam, es folgte ihm jemand. Um seine Vermutung zu bestätigen, betrat er das große Kleidergeschäft am Beginn der Mariahilferstrasse und beförderte sich mittels Rolltreppe in die Mantelabteilung im dritten Stock. Verborgen hinter einem Ständer mit Kashmirtufflecoats hatte er die Rolltreppe im Blickfeld. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis ein Duo aus auffällig unauffälligen, mit Sonnenbrille und Trenchcoat ausgestatteten Männern mit dezenten Rundumblicken der Rolltreppe entstieg. Beckmann verlagerte seine Deckung zu einem Ständer mit teuren Lederjacken. Hier kauerte er nun in Hockstellung, ummantelt von Ziegen- und Rindslederjacken. Hier fühlte er sich sicherer und hatte auch einen besseren Überblick. Die beiden Sonnenbrillengestalten kontrollierten die Etage oberflächlich und nahmen schließlich die Rolltreppe nach unten, als sie nicht das fanden, das Ihr Begehr schien. Eindeutig aber hatten die Männer ihn gesucht. Beckmann fühlte sich erleichtert und befand sich im Aufstehen, als er einen brennenden Stich in den Hals spürte und binnen Sekunden die Besinnung verlor. Dunkle Nacht bemächtigte sich seiner.
Als Beckmann zu sich kam, befand er sich in einem kleinen Elektrofahrzeug und rollte eingekeilt von einem Paar bulliger Trenchcoatgestalten durch den Augarten auf den großen verfallenden Flakturm zu, der sich mitten im Park befand. In einem von den zahlreichen Parkbesuchern unbeobachteten Moment rollte das Fahrzeug in einen als Baustelle uneinsehbar abgetrennten Bereich am Fuße des Stahlbetonmonsters. Nun, als kein Außenstehender sie mehr beobachten konnte, öffnete sich eine zuvor unsichtbare Schiebetür in der grauen Betonmasse und das golfmobilähnliche Gefährt rollte in die Dunkelheit des Betonriesen. Nach kurzer Fahrt öffnete sich der Gang, den sie entlangfuhren, in eine große neonlichterhellte Halle, vollgestopft mit Elektronik, Bildschirmen und anderen fernkommunikationstechnischen Empfangsgeräten. In der Mitte erhob sich ein Obelisk aus Stahl, den eine eiförmige Glaskonstruktion krönte, hinter deren getönten Scheiben Beckmann eine kleine gedrungene Gestalt erkennen konnte. Die beiden Trenchcoatmonster zerrten Beckmann zu dem Stahlkoloss und stießen ihn in einen engen Lift, der nach dem Schließen der Türe sofort nach oben fuhr. Die Türen des Liftes öffneten lautlos und eine kleine rundliche Gestalt kam ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. Monika Lindner, die ehemalige ORF-Chefin, ging aufgeregt auf ihn zu und begrüßte ihn mit dem Satz: „Endlich lerne ich Sie kennen, Herr Beckmann.“
Beckmann kannte sich nicht mehr aus. Monika Lindner, die sich erst kürzlich von ihrem ORF Thron gestoßen fand, freute sich, ihn kennenzulernen. Ja schien sogar auf Beckmann vorbereitet zu sein? Seltsame Dinge fanden hier ihren unabänderlichen Lauf.
Monika Lindner begann, Beckmann über die Geschehnisse aufzuklären. Es ergab sich durchaus in Ihrem Sinne, dass sie sich von einem Neuen abgelöst  sehen musste. Hatte sie nun vielmehr Zeit, um sich um ihr eigentliches Ziel, die Themenunterdrückung, zu kümmern. Lindner hatte mittels koreanischer Technologie ein gigantisches Netz zum Absaugen von interessanten Themen und Ideen aufgebaut. Jegliche televisionäre Anlage, Sat-Schüssel, Fernsehgerät, Radioempfänger und ähnliches, missbrauchte Lindners Mannschaft in umgekehrter Richtung. Sobald jemand über ein Thema auch nur im Ansatz nachdachte, saugte es Lindners Maschinerie erbarmungslos ab. Beckmann konnte sich nicht einer leichten Gänsehaut entziehen, als er den Schilderungen Lindners folgte.
Lindners Ziel in diesem Themenvakuum bestand in der Manipulation der öffentlichen Meinung und Forcierung von lindnerischen Interessen und Erringung der globalen Herrschaft. Durch die Absorbierung jeglicher interessanter Themen und anderer Ideen geriet der aktuelle Stimmenfang der politischen Parteien  zu einem Kasperltheater. Lindner konnte nun in dieses Vakuum gezielt Themen von eigenem Interesse einschleusen und die breite Masse auf ihre Seite schleusen, um so an die Macht zu kommen. Getarnt als Hans-Peter Martin sollte sie so die Abstimmung zum Nationalrat hundertprozentig für sich entscheiden können und Österreich in Folge als neues Kaiserreich etablieren. Doch das sollte nicht das Ende sein denn nach erfolgreicher Machtübernahme in Österreich sollte sich ihr Einflussradius sukzessive ausbreiten.
Nur Beckmann stand ihren Machtbestrebungen noch entgegen. Mit seiner strikten Negierung telekommunikativer Mittel entzog er sich Lindners Maschinerie und sie musste ihn ihm Rahmen dieser Entführung unter Kontrolle bringen. Beckmann sah sich quasi vor den Kopf geschlagen und begriff gleichsam intuitiv, dass er diesem Treiben ein Ende setzen musste. Er stellte nun die letzte Barrikade dar, die vor dem Niedergang der freien Meinungsäußerung stand. Er musste, ohne viel planen oder überlegen zu können, sofort handeln.
Beckmanns geballte Faust landete krachend in Monika Lindners Nase, mit der Folge dass  es sie einen Meter nach hinten versetzte und zu Boden sinken ließ. Nur das Summen der Bildschirme und Computer bildete nun noch die Geräuschkulisse. Abgesehen davon – Stille. Beckmann überlegte und fasste einen Plan. Durch unkoordiniertes Herumdrücken auf den umliegenden Tastaturen sollte es gelingen, die Themenabsaugmaschinerie, die sich von hier aus zentral steuern ließ, stillzulegen oder -besser noch - zu vernichten. Anschließend sollte ihm eines der Golfmobile zur Flucht verhelfen und ihn zur nächsten Polizeidienststelle bringen.

Theoretisch zeigte sich dieser Plan als ein guter.

In der Praxis jedoch hatte Beckmann nach einigen kraftvollen Hieben auf die Tastaturen die Selbstzerstörungsanlage, die den Flakturm und alles in ihm Befindliche innerhalb von drei Minuten zu Staub und Asche transformieren sollte, aktiviert. Darüber hinaus kehrte Leben in Monika Lindner zurück und sie klammerte sich mit blutiger Nase und keifenden schrillen Schreien an sein linkes Bein. Das Personal, das im Erdgeschoss an den Geräten saß, sah sich durch blinkende rote Lichter und lautes Sirenengeheul in helle Aufregung versetzt. Angriffsbereite Schergen stürmten den Saal und suchten nach der Ursache des Alarms. Noch hatten sie Beckmann nicht bemerkt, und er nutzte diesen Umstand, um Linder von seinem Bein zu entfernen, indem er sie in die Hand biss. Lindner ließ sofort los, kroch unter einen Tisch und verharrte in regloser Kauerstellung. Den Lift mochte er nicht nehmen, also schlug er ein Fenster ein, riss einige Kabel aus ihren Befestigungen, knotete sie zusammen und ließ sich an diesen an dem Stahlobelisken hinunter. Leider blieb das Einschlagen des Fensters nicht unbeachtet und zog die Aufmerksamkeit von drei blau behelmten Gefolgsleuten Lindners auf ihn. Beckmann löste das Problem, indem er sich aus drei Meter Höhe auf sie fallen ließ und sie somit ruhig stellte. Nun befand er sich zumindest schon einmal auf gleiche Höhe mit dem Ausgang.

Er sprang in eines der nahestehenden Golfmobile und gab Vollgas. Sofort verfolgten ihn vier Elektromobile und schossen aus ihren Bordkanonen als gäbe es kein Morgen mehr. Beckmann konnte den Projektilen durch geschicktes Schlangenlinienfahren entgehen. Doch das Herumkurven blieb nicht ohne Konsequenzen und so gingen einige mit Benzin und Kerosin gefüllte griechische Amphoren, die aus unerfindlichen Gründen überall herumstanden, zu Bruch. Beckmann erkannte die Chance und benutzte sein Feuerzeug, um die stinkende Lacke und seine Verfolger in grelle zerstörerische Flammen zu hüllen. Nun stand seiner Flucht nichts mehr entgegen. Auch die bösen Schimpftiraden Monika Lindners, die sich aus ihrem Versteck unter dem Tisch getraut hatte, sollten ihn nicht mehr aufhalten. Doch das Schicksal Beckmanns nahm seinen unabänderlichen Lauf.

Seine Flucht hatte zuviel Zeit in Anspruch genommen und kurz bevor er den rettenden Ausgang erreichen konnte, tat die Selbstzerstörungsanlage ihre grausame Pflicht. Ein greller türkisblauer Blitz, der von der Spitze des Stahlobelisken ausging, atomisierte den Flakturm und alles in ihm Befindliche.
Beckmann sah sein Leben noch schnell als kurzen Schwarzweißfilm vor seinen Augen ablaufen bevor absolute Stille einkehrte. An der Stelle des vor kurzem noch unzerstörbar scheinenden Stahlbetonklotzes, befand sich nun ein dreizehn Meter tiefer Krater. Von Monika Lindners teuflischer Maschinerie blieb kein Stäubchen. Alle bisher blockierten Themen standen frei verfügbar im Raum und lagen im Rahmen politischer Arbeit den politischen Parteien und Medien zur Ausschlachtung frei.

Der Urnengang am 1. Oktober konnte nun ohne Beeinflussung stattfinden. Die Verteilung der Stimmen ist heute bekannt und gab keinen Anlass zu besonderer Überraschung. Nur die Tatsache, dass Hans Peter Martin kommentarlos von heute auf morgen von der politischen Bühne abtrat und nichts mehr von sich hören ließ, stellte für kurze Zeit ein aufsehenerregendes Ereignis dar, aber bald schon war das kein Thema mehr.