Cuius regio, eius religio

Reinhard Mechtler


S. ist glücklich. Soeben hat er die Grenze zum feindlichen Ausland passiert, die Straße ist trocken, die Sonntagsfahrer halten sich in Grenzen. Der letzte Bulle war auch 20 Kilometer zurück. Die Vor-freude auf die Pässe im Süden erhöht den Adrenalinspiegel, der Zweizylinder läuft perfekt. Alles ist im grünen Bereich. Ganz plötzlich tönt ein tuckerndes Geräusch an seine Ohren, er schaut in den Rückspiegel, schaut zur Seite – nichts, nächste Kurve Vierte,
5.500 Touren. Das Geräusch verstärkt sich. Plötzlich ist ein amerikanisches Ungetüm mit Lederfransen in seinem Blickfeld, dass das Geräusch offensichtlich verursacht. S. denkt sich: „Muss das so laut sein?“ Ein Blick in den Rückspiegel 0,2 mm am Gasgriff und durch den Dopplereffekt ist das Geräusch kurzfristig danach wesentlich gedämpft und anders klingend bald komplett verstummt.

Kaum verklungen, tritt ein ähnliches Geräusch auf. S. blickt in den Rückspiegel, sieht nichts, denkt an Halluzinationen – ist etwas irritiert, fährt in die nächste Kurve und sieht das nächste amerikanische Ungetüm. Diesmal Chrom blitzend, ohne Leder. Nicht ein, nicht zwei, sondern vier hintereinander. Da muss irgendwo ein Nest sein, denkt S. sich, da nach 2 Kilometer sich das Gleiche wiederholt.

Faak am See in zwei Kilometer steht auf einem Strassenschild.
S. denkt: „Ein Kaffee kann nicht Schaden“ – gibt noch mal kräftig Gas und meint einen Alptraum zu haben. Innerhalb von Sekunden ist er zwischen lauter Harleys eingekeilt, wilden Gestalten mit schwarzen Helmen, Chrom- und Lederlook. Ein allfälliges Ausweichen ist unmöglich, ein Wenden auch nicht. Im Strom der Motorräder wird er nach Faak am See hineingetragen.

Szenenwechsel:
Garmisch, Sommer 2007:
Die Bayrischen machen ganz auf Amerikanisch.

Meeting the Friends – we go West – völlig untypisch ist das jährliche BMW - Biker Treffen. Die Verunsicherung ist einem Teil der Teilnehmer anzusehen, die sich eine gemütliche Bierzeltatmosphäre erwartet und nun vor lauter englischen Fremdworten den eigenen Schmäh vergessen haben.

Mitten am Parkplatz 4 in der Wiese steht ein Motorrad, als Fremdkörper zwischen all den Maschinen mit dem blauweißen Emblem – so groß wie ein Kleinwagen und dessen Chromanteil mindestens 20 mal höher ist als einer der herumstehenden Konkurrenten. Eine Harley, ein Fahrer und eine Beifahrerin hatten sich offensichtlich verirrt oder waren der Meinung, dass alle hier willkommen sind. Schnell bildete sich eine Traube von Menschen, um einmal Abwechslung zu haben von dem vertrauten Bild. Die erste Bemerkung fliegt hinüber, ein jüngerer bayrischer Recke tritt vor und fragt keck, ob sie auf der richtigen Veranstaltung wären? Der erste Scherz fliegt, der zweite folgt sogleich, wie „Warum grüßen sich Harley-Fahrer während der Fahrt nie?“ „Sie treffen sich jeden Tag in der Früh in der Werkstatt“. Das Niveau wird tiefer und zeigt möglicherweise den Frust der Teilnehmer. Offensichtlich hat ein Teil der Leute bereits das dritte Bier intus. Nach zwei Stunden gibt der Harley-Fahrer auf, um eine Schlägerei zu vermeiden und zieht unter lautem Geknatter ab.
Faak am See:

S. steht, nein sitzt auf seiner Maschine inmitten von mindestens 1800 Zweirädern. Ein Biker mit Pferdeschwanz, Ohrringen und gepierct in der Nase und am Bauch schreit herüber: „Wüst a Bier???“ S. ist verwirrt, antwortet: „Ich muss heute noch weiterfahren.“ Antwort: „Vergiss es – host ka Chance mehr do auße z´kumman“. S. willigt ein, der erste Schluck schmeckt. Plötzlich entdeckt er eine kleine Insel, auf der 15 Leute sitzen. Der Pferdeschwanz-Mann schreit nochmals „Host Hemmungen??? – Hock di her.“ S. ist noch mehr verwirrt, zieht den Schlüssel ab, stellt seine Maschine ab und setzt sich hin. Ungefähr sieben Stunden später holt sich S. sein Regengewand raus, um auf der Wiese zu schlafen. Keinen einzigen Scherz über den „Tuttelbären“ ist ihm heute zu Ohren gekommen.
S. schläft glücklich ein und träumt von einer Harley.

Cuius regio, eius religio aliqandiu hommines plus rationis habend quam creditur.