Frömmlich’s Himmelfahrt

Stehmann Victor

 

Moische Frömmlich wachte mit Kopfschmerzen auf, wie sie schlimmer nicht sein konnten. Er hatte es wohl am Vorabend ein wenig mit der Granatapfelbowle am Bezirkslampionfest übertrieben. Sein Kopf fühlte sich doppelt so schwer an, wie sonst und irgend-etwas zog seinen Nacken nach links hinten. Wahrscheinlich eine Verspannung dachte er und kam schwerfällig auf die Beine. Nackt wie Gott ihn schuf schlurfte er durch seine bescheidene Wohnung Richtung Badezimmer, um sich ein Gewadal oder etwas Ähnliches zu verabreichen. Es war November und noch dunkel doch irgendwie herrschte ein frommes Glühen in seiner Wohnung, das er bis jetzt noch nie wahrgenommen hatte. Was auch kein Wunder war, da er meistens bis zehn oder elf Uhr schlief und da war es meist schon so hell, dass jedes Glühen versagen musste. Frömmlich ignorierte diesen frommen Schimmer und schlurfte weiter, den Kopf durch die Verspannung in eine leichte Schräglage gezwungen und auch sonst tat ihm irgendwie alles weh. Er zwang sich weiter in Richtung Bade-zimmer, in Richtung der heilspendenden Kopfschmerztabletten. Quasi noch im Halbschlaf mit fast geschlossenen Augen erreichte er das Badezimmer und öffnete die Spiegeltüren seines Alibert. Er kramte die gesuchten Tabletten aus einem Gewöll von verbeulten und zerdrückten Schächtelchen, von denen die meisten schon abgelaufen oder leer waren. Schließlich fand er noch zwei Kauaspirin und schluckte diese prompt hinunter. Er schloss die Spiegeltüren und rieb sich seine Augen, während er auf das Einsetzen der Wirkung des Aspirins wartete. Doch in dem Moment, als er die Augen wieder öffnete und in den Spiegel blickte, sollte sein Leben nicht mehr das sein, was es bis dahin noch gewesen war. Moische Frömmlich war zur lebenden Heiligenfigur mutiert. Er war mit sämtlichen Attributen und Stigmata behaftet, die sich jeder Heiligenanwärter im Vatikan nur wünschen konnte. Nicht nur dass er sich durch die Stigmata seiner Hände im Spiegel sehen konnte, hatte er auch eine große Narbe unter seiner linken Brustwarze, aus der kleine Blutstropfen sickerten. Sein Kopf und sein Blick waren in eine glückselige himmelwärts gerichtete Verrenkung gezwungen, wie man sie nur von sehr barocken Heiligenbildern kannte. Hinter seinem Rücken sah er im Spiegel zwei flauschig fedrige Zipfel himmelwärts ragen, die die Enden von Flügeln sein durften. Doch das Größte und Erschreckendste war der große, massive Heiligenschein, der seinen Kopf umrahmte. Er war genau so, wie man sich sowas vorstellt. Rund und golden, zwar nicht irgendwie fest mit dem Kopf verbunden aber doch so als ob, da er jede Bewegung, jedes Nicken millimetergenau mitmachte. Nachdem Moische Frömmlich sich nach einer kleinen Ewigkeit so halbwegs wieder gesammelt hatte und nicht mehr leise schluchzen und gleichzeitig vor sich hin kichern musste, versuchte er seine Lage zu analysieren. Was war das? Wie kam er dazu? Gerade er! Frömmlich hatte keine Erklärung. Das Einzige was ihn irgendwie mit Religiosität oder Heiligsein in Verbindung brachte war vielleicht sein Name aber für den konnte er nichts und den hatte er sich nicht ausgesucht. Er hatte nichts mit Kirche oder Religion am Hut. Die letzte Kirche die er betreten hatte war die Cäcilien Kapelle im Urlaub im Weinviertel, und das auch nur, weil ihm beim Weg in den örtlichen Biergarten zu heiß geworden war. Und der letzte Geistliche, den er gesehen hatte war ein buddhistischer Bettelmönch auf der Mariahilferstrasse. Frömmlich konnte sich das einfach nicht erklären. War irgendwas in der Bowle von letzter Nacht gewesen oder war es die Strafe von allzu heftigen Flüchen beim Autofahren? In Ermangelung einer besseren Idee legte er sich vorerst wieder einmal nieder, um über seine Situation nachzudenken, schlief aber schnell wieder ein. Es war ja schließlich schon November und noch dunkel.***Moische Frömmlich benötigte mit seinen neuen Flügeln, die er zwar unter seinem Trenchcoat unterbringen konnte, die ihn aber trotzdem ziemlich breit erscheinen ließen, in der Straßenbahn einen Doppelsitz. Glücklicherweise war es bereits früher Nachmittag geworden und Doppelsitze waren leicht zu bekommen. Doch der Heiligenschein, den er mit einer schon etwas älteren Skihaube mit Quaste zu bedecken versuchte, erregte ein wenig die Neugier der wenigen Fahrgäste. Irgendwie sah er aus wie ein verkappter Rastafari, der noch dazu unter seiner Haube leicht vor sich hin glühte. Genervt verließ Frömmlich die Straßenbahn schon eine Station früher als gewohnt, als ihm die gaffenden Blicke zu viel wurden. Er hatte vorerst einmal beschlossen, den Umstand seiner neuen Heiligenattribute zu negieren und zur Arbeit zu fahren, um eventuell irgendwas Hilfreiches im Internet ergoogeln zu können. Eigentlich hatte er sich mit seiner neuen Lage schon ganz gut arrangiert. Die Flügel hatte er mit einem XXL T-Shirt in Form gebracht. Die entrückte, himmelwärts gerichtete Schräglage seines Kopfes konnte er mit einer leicht buckeligen Haltung ausgleichen und die Stigmata mit Handschuhen verbergen. Nur der Heiligenschein war ein wenig schwer zu bändigen und die bloße Abdeckung mit einer Skihaube konnte nur eine Übergangslösung sein. Egal, er wollte all das sowieso so schnell wie möglich wieder los werden. Frömmlich bewegte sich an seinen Schreibtisch und schaltete erstmal den Computer ein. Die Kollegen nahmen nicht wirklich Notiz von ihm, waren viel zu sehr mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt. Nur Frau Tscherbera vom Empfang hatte verwundert geschaut und sich bekreuzigt, als Sie sich unbeobachtet fühlte. Frömmlich konnte sich nicht wirklich auf seine Arbeit konzentrieren und der Heiligenschein störte auch ein wenig die kabellose Netzwerkverbindung. Das Einzige was ihm auffiel war dieses eine Mail, das sich in der Posteingangsübersicht durch einen ganz eigenen Schrifttyp abhob. Dieses Mail war nicht einfach in Arial 8 dargestellt, so wie alle anderen, nein es war die einzige Zeile, die in Algerian Fett dargestellt war. Eine Schriftart, die irgendwie altmodisch und mittelalterlich gotisch aussah. Doch der Inhalt des Mails war eine ganz normale Bestellbestätigung eines Internet Onlineshops: Von:    www.santaprivata.vatAn:    Moische63Betreff:    Ihre Onlinebestellung 26804Sehr geehrter Hr. Moische63, wir freuen uns, dass Sie unser Onlineangebot auf www.santaprivata.vat nutzen, und werden die von Ihnen bestellten Artikel umgehend versenden. Wir ersuchen jedoch um Ihr Verständnis, dass sich die Lieferung für Reliquien und andere feststoffliche Produkte aufgrund des Postweges, im Gegensatz zu unserem Heiligenzubehör, das wir sofort online zustellen, etwas verzögern kann.Mit freundlichen GrüßenPater Ambrosius (Administrator)Nach einigen Absätzen mit durchaus üblichen Geschäftsbedingungen folgte die Liste der Produkte, die Frömmlich scheinbar in seinem Granatapfelbowlenrausch bestellt hatte:1x    Gutenbergbibel, Nachdruck auf echtem Kalbspergament1x    Schneidezahn der Heiligen Apollonia, goldgefasst im Reisetabernakel1x    Stigmatapaket (katholisch), XXL, inklusive barocker Nackenversteifung1x    Stigmata (Überraschungspaket), *** Sonderangebot ***1x    Hostienspender, gratisEr konnte es nicht glauben! Scheinbar hatte er gestern Nacht in seinem Bowlenrausch in diesem seltsamen Webshop all diese Dinge bestellt und die hatten tatsächlich und umgehend geliefert. Er be-gann sich langsam wieder zu erinnern. Voll von der Granatapfel-bowle hatte er zu Hause noch im Internet herumgesurft und war auf diesen Onlineshop mit dem Sonderangebot für Hostien ge-stoßen. Er hatte das spannend gefunden und dann waren es nur noch ein paar Klicks zu dieser seltsamen Homepage mit allen möglichen lustigen Sachen aus dem – wie er gestern noch dachte - Esoterikbereich. Frömmlich konnte sich nicht mehr an Details erinnern, aber so wie es aussah, war alles rechtens und er hatte all diese Dinge bestellt. Er hatte sich die Geschäftsbedingungen genau durchgelesen - Rückgabe oder Reklamation ausgeschlossen. Diese Option hatte er extra noch angeklickt, um in den Genuss eines 10% Rabattes und eines kostenlosen Hostienspenders zu kommen. Frömmlich beschloss früher nach Hause zu gehen.***2 Wochen waren mittlerweile vergangen. Frömmlich hatte all die bestellten Sachen geliefert bekommen. Die Gutenbergbibel lag am Wohnzimmertisch und der Hostienspender stand im Vorzimmer, war aber mittlerweile mit M&Ms gefüllt, da ihm die Hostien bereits ausgegangen waren und M&Ms auch besser schmeckten. Auch das Stigmata Überraschungspaket war „online“ eingetroffen. Seitdem bewegte Frömmlich sich nur noch 10cm über dem Boden schwebend mit den Händen in eine ständige fromme Bethaltung gezwungen und jedesmal, wenn er sich Wasser näherte, wurde dieses geteilt. Vor allem die letzte „Gabe“ zeigte sich im Alltagsleben ein wenig hinderlich, zumal es das Duschen und Baden erschwerte – bei Regen war es recht angenehm. Frömmlich war zuerst im Krankenstand und hatte sich nun Urlaub genommen, um sich voll auf die Rückgabe der von ihm bestellten Artikel konzentrieren zu können. Dies war nun aber nicht so eine einfache Angelegenheit, wie man das vielleicht vom www.amazon.com oder anderen Warenhäusern im Internet kennt. Nein, der Onlineshop www.santaprivata.vat lief nicht nach normalen Regeln. Firmensitz war der Vatikan und somit waren die Geschäftsbedingungen dem vatikanischem Recht unterworfen. Und diese etwas antiquierte Rechtssprechung sah für moderne Onlineshops nur die Anwendung der Regel „Cuius Regio, Eius Religio“. Nach umfangreichem Schriftverkehr und vielen Emails hatte Frömmlich Pater Ambrosius, den Administrator und scheinbar Verantwortlichen dieses Webshops identifizieren können. Pater Ambrosius war quasi die letzte Instanz im vatikanischen Onlinehandel und er interpretierte „Cuius Regio, Eius Religio“ als „Wer zahlt, schafft an und wer anschafft, bekommt was er zahlt – koste es was es wolle.“ Auf einen Nenner gebracht hieß das, dass sich www.santaprivata.vat weigerte, die gelieferten Waren zurückzunehmen. Im Gegenteil. Je länger Frömmlichs Kontakt mit www.santaprivata.vat dauerte, desto mehr absonderliche Dinge trafen bei Frömmlich ein. Irgendwie klickte Frömmlich beim Versuch diverse Onlineformulare auf www.santaprivata.vat auszufüllen auf die falschen Stellen und orderte so immer mehr, ohne dass er das bereits Erhaltene irgendwie auch nur hätte zurückgeben können. Kruzifixe, Monstranzen und Instantweihwasser waren noch die normaleren Dinge. Seltsamer wurde es mit Bastelsets aus der Reihe „Religion selbst gemacht, leicht gemacht“. Er besaß schon einen kleinen Stapel aus großen Kartonschachteln mit Aufschriften wie „Kreuzzug für Beginner“, „Scheiterhaufen für Anfänger, inklusive einer Hexe gleich zum Loslegen“ und „Häresie- und Ketzerverfolgungsset – Antichrist liegt bei“. Er wagte es nicht mehr diese Kästen zu öffnen. Seit er den Baukasten „Meine kleine Vorhölle“ geöffnet hatte, stank es fürchterlich nach Schwefel und an der Decke waren große Brandflecken zu sehen. Gottseidank hatte er seine Levitation mittlerweile soweit im Griff, dass er die brennenden Vorhänge ohne Leiter löschen hatte können, auch wenn er mit dem Wasser auf-grund seiner Wasserteilungsgabe wieder so seine Schwierigkeiten gehabt hatte.***Es war Weihnachten geworden und Frömmlich war kurz vor dem Resignieren. All seine Versuche die Waren, Dienstleistungen und  paranormalen Phänomene zurückzugeben scheiterten und führten nur zu zusätzlichen neuen Bestellungen, die auch immer zuverlässig zugestellt wurden. Seine Wohnung war voll mit ungeöffneten Kisten und Schachteln mit den wunderlichsten Aufdrucken und Schriften. Frömmlich wagt es inzwischen nicht mehr auch nur eine davon aufzumachen, da meistens doch nur seltsame Dinge aus diesen Paketen entfuhren. Das letzte Paket, das er öffnete bescherte ihm einen apokalyptischen Reiter, der sich tagelang in seiner Küche breit machte, bevor er ihn mit einer List verscheuchen konnte. Doch kurz vor Weihnachten sah er einen Hoffnungsschimmer in Form einer persönlichen Email von Pater Ambrosius. Pater Ambrosius schrieb, er müsse nur das Stornoformular, das einer der letzten Lieferungen beigepackt war, auszufüllen und zurückzusenden, um die Rücklieferung aller bisher bestellten Dinge zu veranlassen. Frömmlich blieb nichts anderes über. Er musste die zuletzt gelieferten Kartons öffnen und nach dem rettenden Formular suchen. Die ersten beiden Schachteln, die er öffnete, waren noch ganz in Ordnung. Es kreiste zwar nun eine kleine Schaar fetter Barockputti um die Lampe im Wohnzimmer und zwei babylonische Opferlämmer kauten genussvoll an seiner Ledercouch aber zumindest hatte er keine weiteren Absonderlichkeiten an eigenem Leib erfahren müssen. Das gesuchte Formular war aber noch nicht aufgetaucht, als er sich der nächsten Kiste zuwandte. Diese Kiste war groß, himmelblau und hatte die Aufschrift „Maria’s Himmelfahrt“. Frömmlich zog an der Lasche, mit der das Paket über seine ganze Länge aufzureißen war, und klappte die beiden Deckel der Kiste auseinander und erblickte voller Freude zwischen diversem Styroporfüllmaterial das Rückgabeformular. Doch genau in dem Moment, als er seine Finger nach dem Formular ausstreckte, um es an sich zu nehmen, überkam ihn „Maria’s Himmelfahrt“ in Form eines kleinen blauen Wölkchens, das der Kiste entstieg und ihm in die Nase fuhr. Im selben Moment, als er das Wölkchen inhaliert hatte, begann er, das Rückgabeformular in Händen, der Zimmerdecke entgegenzuschweben. Er hegte noch Hoffnung, dass er vielleicht am Plafond stoppen würde, doch sein Heilgenschein durchschnitt die Zimmerdecke wie weiche Butter und Frömmlich setzte seine Himmelfahrt durch den Dachboden fort. Das Dach selbst war die letzte Barriere zwischen Himmel und Frömmlich, die jedoch wie Nichts vom Heiligenschein durchbrochen wurde. Frömmlich hatte genug. Er gab auf und sich seinem Schicksal hin, spreizte die Arme in einer großen ausladenden Geste und strebte einem schneeschwangeren Himmel entgegen. Eine Schulklasse auf dem Weg zum Adventsingen bemerkte ihn noch. Als die Kinder jedoch die Lehrerin aufmerksam machen wollten und diese den Blick zum Himmel richtete, war Frömmlich jedoch bereits in den grauen, schneeschwangeren Wolken verschwunden und strebte dem Firma-ment entgegen.