Heisenberger hört die Welt

Stehmann Victor


Vola Pük, Vola Pük
 
Leise tönte es aus Heisenbergers Bierglas.

Vola Pük, Vola Pük

Heisenberger saß dösend in einer stillen Ecke des Nachtcafés. Geöffnet 24 Stunden. Dementsprechend sahen sowohl das Lokal als auch die Gäste aus. Auch Heisenberger sah um diese Zeit nicht mehr so gut aus.

Vola Pük, Vola Pük.

Diese zarte Stimme ließ nicht locker und Heisenberger erwachte langsam aus seinem Dämmerschlaf. Es war eine lange durchzechte Nacht gewesen. Nun döste er um 3 Uhr morgens vor sich hin und langsam drang diese kleine Stimme in sein Unterbewußtsein und legte den Schalter zwischen Schlaf und Wach sein um.

Vola Pük, Vola Pük.

Die Stimme wurde lauter und drängender. Kein anderer konnte sie hören. Nur Heisenberger konnte sie aus den Tiefen seines Bierglases vernehmen. Nachdem er sich orientiert hatte und wieder wußte, wo und wann er war, begann er der Herkunft dieser Stimme nachzugehen. Er schaute sich um, doch nichts und niemand waren als Verursacher zu erkennen. Er neigte sich ein wenig in den Raum vor und lauschte.
Vola Pük, Vola Pük.

Die Stimme wurde nun deutlicher vernehmbar. Heisenberger neigte sich weiter vor und schaute in sein Glas, in dem Schauminseln wie kleine Kontinente auf abgestandenem Bier drifteten.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenberger senkte gerade sein Ohr in das Bierglas, als es plötzlich passierte. Wie in einem schlechten Comic blähte sich die Öffnung des Glases und verschluckte Heisenberger mit einem großen Bissen. Niemand in dem 24 Stunden Café hatte es bemerkt, doch Heisenberger war von seinem Bierglas verschluckt und befand sich in rasend schnellem Sturz einem bodenlosen Ziel entgegen. Die ersten Sekunden schoß er torpedogleich durch schales Bier und seine Lungen waren dem Bersten nahe, als er irgendwie den Glasboden durchstieß und in eine absolut schwarze Ungewißheit stürzte. Heisenberger füllte seine schmerzenden Lungen mit Luft.

Vola Pük, Vola Pük.

Die Stimme wurde deutlicher und lauter. Heisenberger konnte sie trotz des lauten Rauschens des Sturzwindes hören, als er durch diese schier endlose Finsternis fiel. Langsam wurde in der Ferne tief unten ein heller Fleck erkennbar, der laufend größer wurde. Es wurde heller und Heisenberger fühlte, wie sich die Röhre, durch die er fiel, langsam in eine sanfte Neigung krümmte. Er berührte die Wand und sein direkter Fall verwandelte sich in einen sanften, jedoch rasanten Rutsch, der sich aber jäh verlangsamte, als die Röhre langsam flacher wurde.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenberger wurde aus dem Astloch der uralten Eiche quasi ausgespuckt und kullerte langsam auf einer saftigen grünen Wiese aus. Er blieb mit dem Gesicht nach unten liegen und konnte sich erst nach einer Weile etwas aufrichten.

Vola Pük, Vola Pük.

In der Ferne konnte Heisenberger einen dicken, unförmigen Vogel sehen und erkannte in ihm die Quelle der Stimme, die er aus seinem Bierglas gehört hatte. Das riesenhafte Federvieh stakte auf erschreckend kurzen Beinen umher und preßte immer wieder ein kehliges „Vola“ durch seinen Schnabel wobei das O lang gezogen war, so wie es auch Hühner machen. Sobald scheinbar etwas Freßbares in Reichweite war, stieß der Vogel ein lautes, durchdringendes „PÜK“ aus und spießte den Wurm, oder was immer es auch war, mit seinem Schnabel auf.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenberger, dem noch alle Knochen von dem Sturz so schmerzten, so daß er sich kaum rühren konnte, war wie hypnotisiert von der Häßlichkeit dieses Vogels. In gewisser Weise sah er aus wie die Vogelzeichnungen seines 8-jährigen Patenkindes. Eine große Kugel für den Körper, eine kleine für den Kopf, ein kurzer kräftiger Schnabel und zwei kurze Füße, die sich zum Laufen eigentlich nicht eigneten. Ein knallroter labbriger Hahnenkamm stand zu dem schmutziggrauen Federkleid in scharfem Kontrast und rundete die seltsame Erscheinung ab.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenberger wollte sich nun aufsetzen, um sein Umfeld besser in Augenschein nehmen zu können, als er merkte, daß ihm seine Gliedmaßen irgendwie während des Sturzes durch Bierglas und Dunkelheit abhanden gekommen waren. Er konnte gerade einmal seinen Kopf kurz beugen, um an sich herunterzublicken, als er unter einem lauten Schreckensschrei feststellen mußte, daß weder Arme noch Beine vorhanden waren und er um Wurm mutiert war. Zu einem dicken fetten Engerling, jedoch mit Heisenbergers Kopf auf kurzem Hals, was ihn jedoch auch nicht hübscher machte.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenbergers Schrei hatte die Aufmerksamkeit des häßlichen Vogels auf sich gezogen. Langsam und in seltsam wiegend, gleichsam rollenden, Schritten bewegte sich der Vogel nun in seine Richtung. Es blieb nicht viel Zeit zur Flucht. Heisenberger wollte weglaufen, doch das Einzige was er zustande brachte, war eine wellenförmige Bewegung seines Körpers, die ihn zwar vorwärts brachte, jedoch nicht schnell genug. In Todesangst mußte er zur Kenntnis nehmen, daß sich das nicht ausgehen würde. Heisenberger sah den Film seines Lebens ablaufen. Das laute durchdringende VOLA in seinem Nacken ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Das folgende PÜK konnte er nicht mehr hören, spürte stattdessen aber enormen Druck auf seinen Schädel. Der Schnabel des häßlichen Vogels hatte seinen Kopf gepackt und drückte ihm beide Ohren zu, so daß Heisenberger seine eigenen Schreie nicht mehr hören konnte.
Vola Pük, Vola Pük.

Irgendetwas irritierte den Vogel und verhinderte, daß er Heisenberger hinunterschluckte. War es die Größe des für ihn unbekannten Wurmes, Farbe, Geruch oder Geschmack? Mit einem lauten PÜK wurde Heisenberger ausgespuckt und landete in hohem Bogen besinnungslos in der weichen Wiese.

Vola Pük, Vola Pük.

Der Vogel wackelte weiter und spießte links und rechts seines Weges irgendwelche bessere Nahrung, als Heisenberger es war, auf.

Vola Pük, Vola Pük.

Heisenberger hatte grobe Schmerzen an den Ohren, als er in der stillen Ecke des 24-Stundencafés aufwachte. Nichts hatte sich verändert. Die Luft war rauchgeschwängert wie zuvor. Die Tapeten vergilbt wie eh und je und auch die wenigen Gäste schienen sich keinen Millimeter gerührt zu haben. Doch irgendetwas schien anders. Obwohl sich in dem Lokal nur wenige Gäste befanden, die still vor sich hin starrten, kam sich Heisenberger, wie auf dem Eröffnungsempfang eines Ärtztekongresses auf den Bermudas vor. In seinen heißen Ohren sammelten sich unzählbare Stimmen in unzählbaren Sprachen, deren Ursprung nicht auszumachen war. Es war ein gewaltiges Partygemurmel in einer von Heisenberger noch nie erlebten Dimension. Er blickte sich um, in der Erwartung eine große Menschenansammlung zu sehen. Doch nichts. Er steckte sich die Zeigefinger in die Ohren, doch die Stimmen wurden nicht leiser, eher noch lauter, mehr und deutlicher. Heisenbergers Organismus verweigerte aufgrund der allgemein ungewissen Situation wichtige Grundfunktionen und schickte ihn in eine tiefe Ohnmacht.

Vola Pük, Vola Pük.
Drei Wochen waren vergangen und Heisenberger hatte noch immer das Partyducheinander in den Ohren. Scheinbar konnte er alle Gespräche dieser Erde, egal in welcher Sprache geführt, hören und auch verstehen. Dies trieb ihn fast in den Wahnsinn und es kostete ihn all seine Kräfte, um dagegen anzukämpfen. Mittlerweile konnte er sich zwar inzwischen auf bestimmte Stimmen konzentrieren und verstehen, was sie sagten, aber er kam mit der Situation noch nicht wirklich zurecht. Er hatte bereits diverse Halsnasenohrenärzte konsultiert, die ihm aber, außer ihn krank zu schreiben, nicht wirklich helfen konnten. So wanderte er ziellos auf den Straßen umher und versuchte die Quellen dieser uneingeladenen Stimmen zu finden, als er einer seltsamen Gestalt in die Arme stolperte. Der üble Geruch, der von dem Mann ausging, verlangte sofortige Distanz, doch irgendetwas zog Heisenberger wie magisch zu dem kleinen alten Mann. Dieser sah ihm lange und tief in die Augen, hielt beide Hände an Heisenbergers Ohren und sprach zu ihm. Ganz klar und deutlich konnte Heisenberger die Stimme aus all den anderen heraushören. Der Mann sprach zu ihm: „Ehre Dir, der Du vom Vogel Volapük erkoren wurdest, die Welt zu hören!“

Der Schamane E. Speranto nahm Heisenberger in seine, wie er es nannte, Ordination mit, um ihm die Einzelheiten seiner Situation zu erörtern.

In einer seltsamen und mystischen Welt, deren Schamane E. Speranto einer war, existierten gar wunderliche Wesen – die Babeltiere. Eines davon war der Heisenberger nun bestens bekannte Vogel Volapük. Ein weitaus bekannteres war Babelfisch, der in den intergalaktischen Erlebnissen des Douglas Adams Berühmtheit erlangt hatte. E. Speranto nannte weitere, wie Babelwurm, Babelmaus und Babelkrot. Alle konnten sie wundersame Fähigkeiten der Kommunikation und Sprache verleihen. Konnte Babelfisch, einmal ins Ohr gesetzt, sämtliche Sprachen dieses Universums übersetzen und direkt ins Gehirn des Wirtes senden, so konnte der Vogel Volapük die Gabe schenken, alle Stimmen des Universums zu hören und zu verstehen. Alle hundert Jahre wurde ein Menschenwesen von Volapük gewählt, um ihm seine Gabe zuteil werden zu lassen. Heisenberger war der Erkorene dieses Jahrhunderts.

Nach drei Monaten war Heisenberger zum gesuchten Medium geworden. E. Speranto hatte ihn geduldig unterrichtet und ihm ermöglicht, seine Gabe zu nutzen und die Stimmen, die er hörte, zu orten und auch zu verstehen. Heisenberger hatte vermißte Kinder gehört und gefunden. Hatte Osama Bin Laden in einer Höhle am See Genezareth aufgespürt. Hatte Botschaften aus dem All empfangen. Hatte unzählige kriminelle und politische Verschwörungen gehört und aufgedeckt. Ja, er hatte sogar den greisen Elvis Presley anhand von Kaugeräuschen, die er beim Verzehr von gegrilltem Erdnußbutter-Banane-Sandwich machte, in St. Louis aufgespürt und der Welt zurückgegeben. Leider verstarb dieser jedoch wenige Tage später an einen Herzinfarkt, da ihm der Rummel um seine Person zuviel wurde und ihn auch immer wieder Journalisten gehörig erschreckten.

Heisenberger war berühmt, glücklich und reich. Doch in seinen Träumen hörte er auch immer wieder und immer öfter die Stimmen seiner Feinde. Der Biß des Volapüks bedingte neben der wunderbaren Gabe des wirklich absoluten Gehörs auch die Feindschaft der uralten, mystischen Geheimgesellschaft der babylonischen Freimaurer. Diese Bande unsterblicher Tagediebe verdiente den Namen „Maurer“ gar nicht, denn sie waren nur darauf bedacht, vollkommene Dinge zum Einsturz zu bringen. Ihre Karriere begann mit dem Projekt, die paradiesische Mauer nach dem Rausschmiß von Adam und Eva einzureißen und Garten Eden dem Boden gleich zu machen. Sie erfüllten diesen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit und errichteten an dem Ort zwei kleinere Siedlungen – Sodom und Gomorrha. Es folgten weitere Projekte, wie die Sprengung der Gärten der Semiramis oder die folgenschwere Unterminierung des Dammes zu Gibraltar, die ja dann bekannterweise in einer biblischen Sintflut endete.
Ein weiterer Höhepunkt in der Vereinsgeschichte war die Belieferung des Turmbaues zu Babel mit billigen Ziegeln aus Sizilien. Dies blieb dann bekannterweise nicht ohne gewisse Folgen und beendete das ganze Projekt dieses Turmbaus jäh. Das Einzige, was dieses Bauvorhaben überdauerte, waren die während des Turmbaues gezüchteten Babeltiere. Diese machten es trotz der gottgesandten Sprachverirrung erst möglich, den Turmbau weiterzutreiben, bis schlußendlich die schlechten italienischen Ziegel nicht mehr standhielten, und alles in Schutt und Asche zerfiel. Die babylonischen Freimaurer waren nun seit Jahrhunderten auf der Suche nach diesen Babeltieren, um ihnen den Garaus zu machen und auch die letzen Spuren des Babelprojektes von dieser Erde zu streichen. Blöderweise war Heisenberger, als Erkorener des Volapüks, in den Dunstkreis dieser mythischen Hatz gezogen worden und die babylonischen Freimaurer machten Jagd auf Heisenberger.

Heisenberger konnte sie in ruhigen Nächten hören, wie sie in einer uralten, lange ausgestorbenen Sprache Pläne wälzten, seinem Tun ein Ende zu setzen. Sie wußten, wo er war, sie wußten, was er tat und sie wußten, wie sie ihn erwischen konnten. Es begann mit kleinen Zufällen wie Vasen, die aus dem dritten Stock fielen. Es steigerte sich dann über einbrechende Gehsteige zu abstürzenden Fassaden. Heisenberger konnte sie jedoch immer schon lange im voraus hören, was es ihm leicht machte den Gefahren und Fallen auszuweichen. Aber in letzter Zeit wurden ihre Stimmen leiser und leiser und er konnte ihre Verschwörungen bald nicht mehr hören. Sie hatten irgendetwas gefunden, um sich seinem Gehör zu entziehen. Heisenberger mußte untertauchen, dorthin wo er dachte, daß sie ihn nicht finden würden.

Vola Pük, Vola Pük

Leise tönte es aus Heisenbergers Bierglas.

Vola Pük, Vola Pük

Heisenberger lehnte in einer stillen Ecke des Nachtcafés. Geöffnet 24 Stunden.

Vola Pük, Vola Pük

Das Letzte, an das sich der Kellner erinnern konnte, war ein übermüdeter Mann mit Ohrenschützern und Pudelmütze, der in der hintersten Ecke des Lokals vor seinem Bier saß und sich darüber beugte. Als sich plötzlich eine wilde Jagdgesellschaft, angeleitet von einem unförmigen Vogel, geritten von einem behaarten Gnom, aus dem Bierglas ergoß. Die unglaublichsten Gestalten und Tiere waren Bestandteile dieser wilden Jagd, die sich wie ein Tornado spiralförmig auf den Mann mit der Pudelmütze stürzte. Dieser starrte vollkommen überrascht, aber auch irgendwie erleichtert, in die Augen des riesenhaften, plumpen Vogels. Dieser wiederum stieß ein ohrenbetäubendes Geräusch aus, das so ähnlich klang wie „VOLAPÜK“ und packte den Mann am Kopf. Ein wenig zappelte der Mann noch im Schnabel des Vogels, bevor sich die ganze Meute wieder in das Bierglas ergoß.

Volapük, Volapük
Besagter Kellner befindet sich heute in geschlossener psychiatrischer Betreuung – kein Mensch hat ihm bis heute seine Geschichte geglaubt.

Heisenberger ward nie wieder gesehen.

Volapük, Volapük