Die unverstandenen Kinder von Volapük

Zentner Gregor


Krontje wirkt am Anfang unserer Gespräche immer ein wenig, wie aus dem Schlaf gerissen, aber von Tag zu Tag vermag er es besser seine Aufmerksamkeit auf mich zu konzentrieren und nicht in Panik den Raum nach Vertrauterem abzusuchen. Alles hier ist neu für Krontje und hätte ich die Wahl gehabt ihn statt dessen sein Leben, in seinem Sinn gewohnt weiterführen zulassen hätte ich das getan – aber diese Wahl hatte ich nicht.

Es war an einem dieser späten Februar an denen die Sonne die Kraft findet die verträumten Gerüche des Waldes zu wecken, als Bertram Hansen und ich auf unserer Tour durch die Wälder Südschwedens zur Rast hielten, um eben diese besondere Stimmung zu genießen, als ein junger Mann aus dem Dickicht trat. Er stand einfach da, als traute er sich keinen weiteren Schritt zu gehen – als bereute er seinen letzten, der ihn so diesen fremden Blicken aussetzte. In leicht gebückter Haltung stand er da, die Arme schützend angewinkelt und die Hände zu weichen Fäusten gerollt. Nichts an ihm war bedrohlich. Er trug abgewetzte Kleidung von der Art wie alte Menschen tragen, die darauf achten, dass kein Faden hängt, kein Knopf fehlt und eventuelle Löcher und Risse sorgfältig gestopft sind. Kleidung, die mit der Zeit nicht kaputt wird sondern nur immer weniger.
Er musste frieren und obwohl alles an ihm fliehen wollte hielt ihn etwas. Er starrte uns an als hätte sein Blick Widerhaken.
Bertram sah mich an als wollte er etwas Unpassendes sagen, und ich war froh, dass er es nicht tat. Ich stand darüber verärgert auf, dass ich die Schwedisch-Redewendungen des Lonely-Planet-Reiseführers nicht gelesen hatte und dachte angestrengt an das einzige Schwedisch-Zitat das mir einfiel: „Hall naturen ren“. Der Text steht auf jedem Wrighley´s Kaugummiverpackungspapierstreifen neben dem Piktogramm, dass erklärt wie man eben diesen Verpackungspapierstreifen und den Kaugummi nach dessen Genuss zu entsorgen habe. Darunter steht „Haltet die Natur sauber“.
Spontan setzte ich ein Lächeln auf, dass vetrauenswürdig anmuten sollte und machte eine ausladende, langsame, auf unser Umgebung Bezug nehmende Geste und sagte mit ruhigen Worten:“ Naturen ren!“
Betram sagte, dass er es blöd fände, dass die Abba immer nur in Englisch gesungen hatten und Pippi Langstrumpf habe er auch nie in Originalfassung gesehen. Es war Krontje, der Bertram stoppte indem er in einer Art schreienden Krächzen in einer vokalarmen, percussionistischen Sprache versuchte sich mitzuteilen, was misslang. Bertram sagte noch: “Gesundheit!“ – dann brach Krontje ohnmächtig zusammen.
Selbst Bertram fiel jetzt nichts Blödes mehr ein und leider auch nichts Sinnvolles. Über Etappen wie Handyempfangssuche und Wegbeschreibungen in schwedisch fanden wir uns in der nächsten Krankenstation wieder. Krontje hing am Tropf und erholte sich langsam. Er war komplett ausgehungert und sobald er wieder reagierte er panisch auf alles Neue – und alles schien neu für ihn zu sein.
Gedanken an den Kasparhauser drängten sich auf als die Sprach edes ca. 16-jährigen auch von den Schweden nicht verstanden wurde und bald auszuschließen war, dass es überhaupt eine bekannte, lebende Sprache war.

Nach schwedischem Recht war ich verpflichtet das Findelkind zu adoptieren. Nach dem ich die Information des Beamten nicht wirklich ernst nahm und Bertram meinte, dass ihn das ales gar nichts angehe, weil schließlich hätte ja ich mit Krontje gesprochen und dann gab es noch dieses Missverständnis mit meiner Unterschrift, weil ich dachte die wäre irgendwie meldetechnisch erforderlich, und Bertram hatte schon die Heimreise angetreten und dann war mr bald diese ganze Diskussion zu blöd und Kronje stand zwischen allem und litt und so nahm ich ihn mit.

Mit der Zeit fand ich folgendes heraus:
Krontje war nicht alleine und nicht gänzlich unverstanden. 120km von der Stelle, wo ich und Bertram, zu dem ich den Kontakt endgültig abbrach nachdem er bei einem Treffen mit Krontje und mir irgendwas von unbefleckter Empfängnis scherzte, befand sich ein Dorf, bestehend aus ein paar wenigen Häusern. Bei der Wanderung der Hutterer Mitte des 18 Jahrhunderts aus dem ukrainischen Norden Richtung esten kam es zu einer zunchst inhaltlich und endlich verbalen Unstimmigkeit, die zu einer radikalen Richtungsänderung des konservativeren Flügels führte, der von da an gen Norden zog um schließlich in Volapük, einer schwerzugänglichen schwedischen Waldregion heimisch wurde.

Die volapüker Hutterer, die sich selbst „Vrachnea“ nannten verweigerten sich im Versuch der Annäherung ans Paradiesische, jeglicher bekannter Sprache und versuchten eine Natursprache zu erhören, wobei sie sich an den Lauten der Tiere, den Geräuschen der Pflanzen, dem Rauschen des Windes und der Bäche orientierten. Sie wollten erreichen, die gottgefällige, ungestrafte Sprache zu finden, wie sie vor dem Turmbau zu Babel gesprochen wurde.

Schlechte Ernten und harte Winter machten es den Vrachnea das Überleben schwer und so zogen sie los – weiter nach Norden manche, andere nach Osten und andere nach Osten – westwärts ging keiner.

Wir wissen heute nicht wie viele es schafften irgendwo heimisch zu werden, doch ich möchte daran glauben, dass Kontje nicht das letzte unverstandene Kind Volapüks ist.