Eine Parallelaktion

Loicht Stefan


Anlässlich des 69. Regierungsjubiläums des greisen Monarchen wurde ein Reigen von Feierlichkeiten vorbereitet, zu koordinieren gedacht in einer interministeriellen Kommission unter Vorsitz des allseits geachteten, wiewohl ob seiner Leidenschaften besonders geheimen Hofrates Dr. Borromäus Struzzi.

Dieser hatte nämlich auch die Theorie, dass das, was das eh schon brüchige Reich noch am Leben hielt, nicht die Protagonisten der k.u.k Haupt- und Residenzstadt, sondern all die mit Leib und Seele Unter-tanen Seienden in den Peripherien der Monarchie waren.

Wie nur der Finger imstande ist, eine zärtliche Berührung zu voll-
ziehen, um diesen Eindruck an das Herzen und seltener an den Ver-stand zu übermitteln, so war eher ein jüdischer Fiaker in Galizien als sein Berufsgenosse auf der Wieden imstande, das Ganze zu spüren, um die Mitte wissen zu lassen, dass sie eine ist: sie war nur der Adressat all der Energien, als ob die Wellen zu einem ins Wasser geworfenen Stein fließen würden, so Struzzi. Die Provinzler wären geeigneter zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wenn auch ohne Stil.

So reifte in Struzzi eine zu dieser Zeit geradezu anarchische Ein-
gebung: nachdem die k.u.k. Staatsbahnen sowie die per Edikt verpflichteten, weil weniger würdigen Privatbahnen jedenfalls die offizielle Rolle des allerhöchst legitimierten Transportmittels seiner Hoheiten, der jeweiligen Entourage, der Trosse, der Jubelschwaben und -bessarabier sowie des Organisationskomitees übernehmen sollten, hatte Dr. Struzzi bei sich gedacht, warum nicht auch diejenigen zum Feste laden, die sonst garantiert niemanden interessieren, geschweige denn wen festlich stimmen würden: die Stationsvor-
steher ohne Gleisanschluss.
Zur Ergründung dieses vermutlich nur im alten Österreich möglichen Phänomens sei die scheinbar paradoxe Situation erklärt: Strecken wurden zuerst in vielerlei Hinsicht privilegiert, dann kommissioniert, schließlich geplant und manchmal gebaut. Wenn irgendwo ein Reichstagsabgeordneter die Schulden etwa seines Neffen – es
handelte sich bei den Schuldnern immer und ausschließlich um Stabsoffiziere –, sei es bei einem auf Grenzgarnisonen spezialisierten Glücksspiel-könig, einem gedungenen Sekundanten oder gar einem einschlägigen Arzt (vermaledeite Franzosen!) einzulösen hatte,
konnte es passieren, dass halt ein Gleis im Niemandsland zu liegen kam, oder aber wie in unserem Fall ein Aufnahmegebäude errichtet wurde, wo weit und breit noch keine Schiene zu sehen war. Die ein bissl gedehnten Aufwendungen des Bauunternehmers fielen halt nicht auf, das kennen wir bis heute.

Nun wäre diese Erzählung der durchaus glaublichen Geschehnisse nur halb so interessant, würde man die Hauptdarsteller unseres Spiels außer Acht lassen: so eigenartig ihr Dasein, ihr Wesen, auch war, sie waren irgendwie dafür prädestiniert:

Da hätten wir Fürchtegott Mittenwald, dessen Stellung als primus inter pares daher rührte, dass seine Reschen-Scheideck-Bahn tatsächlich gewollt war, und zwar einerseits als Alternative zur der von der Südbahn privat geführten Brennerstrecke und andererseits zur Verbindung mit dem Schweizer Netz. Sein Los als Pionier in diesem abgelegenen Bergtal möchten wir uns als das eines progressiven
Journalisten im Innsbruck der sechziger Jahre vorstellen. Manchmal kann man, so sagen die Eingeborenen, in den Rauhnächten Schluss-
laternen um eine bergseits in Obertösens gelegene, keiner Bestimmung zuordenbare Ruine (wohl ein Bahnhof) tanzen sehen.

Hingegen Ignaz Rumpelmaier, ein prototypisches Exemplar seiner niederösterreichischen Spezies – er kam nach dem zweiten großen Krieg bei dem Versuch, einem sowjetischen Befreiungssoldaten dessen Vorgesetzte abzukaufen, in allen gebührenden Unehren um. Vierzig Jahre lang diskutierte man über eine Bahnverbindung von Krems nach Gföhl, die jedenfalls zuerst der Krems entlang und dann nach Norden führen sollte. Dieser Nordabzweig hätte frühestens bei der so genannten Königsalm erfolgen können, wo – man ahnt es – ein Bahnhof ohne Gleis entstand. Es wurde übrigens nie gelegt und Rumpelmaier fand statt als Stationschef als berüchtigter Gastwirt sein Auslangen.

Moses Joseph Hellroth, Sohn eines Korallenschleifers aus Sokal am Bug, war bereit, Österreich von dort aus mit den Weiten Russlands zu verbinden; allein, an diesem, einem der vielen schicksalsträchtigen Flüsse Österreichs, war es ihm nicht beschieden, sein schmuckloses, im Stil der Nordbahn errichtetes Streckenhäuschen beleben zu können. Der Fern- und vor allem der Nahhandel mit Dingen und Menschen aller Art würde niemals aufgenommen werden und der Weltgeist (vor allem das deutsche Gespenst) raste über dieses im Grunde unschuldige Ländchen in mehreren grausamen Wellen,
sodass nichts außer einer Ahnung zurückblieb.

Es gab weiters Loijze Krajinsko, dessen Bestreben stets war, das erzherzogliche Gottschee mit dem königlichen, also ungarischen – und wie er es nannte, wilden – Osten zu verbinden. Nach Karlstadt sollte es durch den undurchdringlichen Wald gehen, ein Unterfangen, das das Ingenieurcorps mit resignierendem, aber zuversichtlichen Schulterzucken begann und schließlich mit einer in hervorragender Weise trigonometrisch vermessenen und abgesteckten Trasse beschloss. In Mitten dieses Weges konnte man vor fünfzig Jahren noch die Reste eines Bahnhofes erahnen; Geleise sah man dort nie und Krajinsko fiel dem Vergessen anheim.

Anders verhielt es sich bei und mit Wenzel Harasek: Nordböhmen war dermaßen mit Eisenbahnen erschlossen, dass es diesem schwarzen Schaf aus einer Gablonzer Glasschleiferfamilie - dessen Trachten, motiviert durch seinen Vetter Adam Fallmerayer, nur dem Dampfross und nicht dem falschen Glanz galt – gerade übrig blieb, eine voll-
kommen sinnlose Linie von Hostinne (Arnau) nach Svoboda nad Upou (Freiheit an der Aupa) zu planen, wobei das Geld kein Problem und der Bahnhof zugleich Haraseks Mausoleum sein sollte. Harasek sollte unsere Geschichte nur kurz überleben, denn kaum nach der Errichtung der funeralen Station wurde er um die Ecke und das Geld für die Strecke unter die Leute gebracht.

Und dann war da noch Gewerke Imre Höplöpöp (von seinen Salzburger Verwandten Öcsi genannt), der die gar nicht so abwegige Idee hatte, die Bergbaureviere von Resita direkt mit der wichtigen Linie von
Karansebesch über die Porta Orientalis zur Donau zu verbinden: nachdem es sich aber um eine Bergstrecke handeln würde, ließ der Magnat aus dem Banat zuerst eine Art Mittelstation, und zwar am höchsten Punkt der geplanten Strecke, errichten, von der aus der „Vortrieb“ – er vergaß gerne, nicht unter Tage zu sein – zu beiden Seiten erfolgen würde. Das Gebäude entstand, aber die Schienenlieferungen trafen einfach nicht ein. Der Verbleib der Geleise wurde niemals geklärt.

Dr. Struzzi, natürlich wohl informiert, dachte also an diese Gestalten und ihren möglichen Beitrag zum apostolischen Jubiläum, auf dass den vermeintlich Wichtigen das Scheitern der angeblich Unwichtigen als Menetekel erscheinen möge. Natürlich war er wohl gewahr, dass die Degenerierten aller Geschlechter diese Zeichen an der Wand nicht verstehen würden, aber die versammelte Hochbürokratie könnte schon den Untergang kommen sehen.

Denn man muss sich das Drama vor Augen halten, das sich in den sensiblen Seelen der Stationsvorsteher abzuspielen begann: da wird man zum Häuptling eines ganzen Bahnhofes bestellt, die Freude ob des Amtes, die Lust der Verantwortung, das jubilierende Pfeifen der Züge, fesche Leutnants, beträchtliche Kurschatten, geheimnisvolle Fremde, eigentümliche Bezirkshauptleute und ähnlich bemerkenswertes Volk, das den Perron betritt, und dann stellt sich heraus, dass man nur ein Aufnahmegebäude, aber kein Gleis hat. Da fährt und kommt nix.

Sie waren auf diese Art das Abbild der Macht, die ihnen die Macht geborgt hatte, mächtig zu scheinen: scheinbar mit Titel und Mittel versehen, um ein Knotenpunkt für die Nervenstränge dieses
komplexen Körpers namens Donaumonarchie zu sein, waren sie doch nichts anderes als Zuschauer bei der sich abzeichnenden Tragödie.
Anstatt dafür Sorge zu tragen, dass noch der unnötigste aller Truppentransport vom Montafon in die Bukowina oder umgekehrt erfolgen möge oder dem mythischen Pfeifen des Orient-Express zu salutieren, wenn dieser das Dunkel des Arlbergs betrat, um den Weiten der Batschka zuzustreben, saßen sie auf der Tribüne der Geschichte, ganz wie die Akömmlinge aus den inzestuösen Erz- und Scherzhäusern. Teil sein, aber nicht teilhaben.

Je länger Struzzi über diesen Vergleich sinnierte, umso lustiger schien ihm der Gedanke, die Personifizierungen des Abstellgleises am großen Festumzug zur kaiserlichen Ehre auf der Wiener Ringstrasse teil-
nehmen zu sehen. Als Leiter der kleinen und großen Sitzung im Rahmen der interministeriellen Kommission war es ihm zwar nicht möglich, eigene Vorschläge und Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen, aber subbürokratische Anregungen, josephinisch formuliert und ein wenig sokratisch gewürzt waren allemal taugliche Mittel, die Herren Stationsvorsteher ohne Portefeuille zusammen zu bringen.

Also wurde von der anschlusslosen ferrovialen Zunft flugs das Fest-komitee „Cis- und transleithanische Freundschaft“ ins Leben gerufen; die Sitzungen selbigens waren selten und selten fruchtbar, aber schließlich kamen die gleislosen Stationschefs nach ausführlichen Wechsel- und Gegenreden meistens zur gemeinsamen Vorgangs-weise überein. So beschlossen sie auch, Herrn Konstantin Arthritos als Berater zu gewinnen.

Dieser war eine durchaus schillernde Gestalt: einerseits ein entfernter Verwandter von Theodor Christomannos, der ja Wegbereiter für den Qualitätstourismus im Ortlergebiet und in den Dolomiten war, andererseits erlangte er eine gewisse Reputation als umtriebiger Ermöglicher beim Bau der Wien-Saloniki-Bahn, die damals wie heute in Aspang am Wechsel endet. Dem Vorbild seines Großcousins folgend, tat auch er sich bei der Erschließung hochgelegener Orte für den Fremdenverkehr hervor, wobei ihm bei seinen Unternehmungen in der niedereren Tatra ein nicht ganz so ein berauschender Erfolg beschieden war.

Die Vorschläge Struzzis beherzigend, eigene Wege zur Aufnahme in die großen Feierlichkeiten zu finden, führte zu einer mit allen Raffinessen gespickten Einladung des für das Eisenbahnwesens zuständigen Unterstaatssekretärs Dr. Nepomuk Nierensteiner samt seiner wenig bezaubernden, aus einem reichsdeutschen Familien-zweig stammenden Nichte Schwertleite von Tuttelsprung in eines der Arthriosschen Hotels, und zwar in jenes mit der Köchin aus der Uckermark.

Teltower Rübchen und Gürkchen eingelegt, Beamtenstippe, Schmorgurken, Hackepeter auf Schrippen und Käse-Wurst-Matsch im Rote-Bete-Topf anstatt mährischer und oberungarischer Spezialitäten taten zusammen mit der deprimierenden Wetterlage und dem nicht vorhandenen Komfort („Fließendes Wasser?“, „Ja, wenn euer Gnaden sich zur Regenrinne bequemen wollen.“) in dieser – in Reisenden-
kreisen bekannt als gerade noch den Kasematten des Brünner Spielbergs vorzuziehende – Herberge das ihre, um die beabsichtigte Paralyse des Gastes herbeizuführen, die in der in erpresserischer Absicht vorgenommenen Festhaltung gipfelte.

Als dann auch noch der dortige Leberknecht (Sommelier wäre ein viel zu vornehmer Ausdruck für diese Unterkunft niedrigster Ordnung gewesen gewesen), von einer Gloriole aus Blutrünstigkeit umwölkt, dem Staatssekretär mit einer anregenden Nachstellung der Bartholomäusnacht mit Nierensteiner in der Rolle des Oberhugenotten drohte, wurde die sofortige Erlaubnis erteilt, am Regierungsjubiläum teilzunehmen.

Nachdem dieser Ent- und Beschluss noch auf den Weg zu bringen zu war, was eine gewisse Zeit in Anspruch nahm, denn schließlich waren nicht weniger als sieben Gremien zu durchlaufen, ehe die Teilnahme am Umzug sanktioniert wäre, wurde der als Strenge-Kammer-Soubrettist getarnte genuesische Auftragsmörder Limonado di Carpaccio verpflichtet, den Herrn Staatssekretär vom Vorteil seines Bleibens zu überzeugen.


Nierensteiners treuer Leibkutscher Hasdrubal Heckenschütz machte sich indessen mit sieben versiegelten Depeschen auf den weiten Weg nach Wien. Es war nicht zu erwarten, dass des Politikers Erlass hinter-fragt werden würde; er war immerhin schon als Botschafter beim Fürsten von und zu Schmidt-Mechtler im Gespräch gewesen.

Nach und nach klapperte Heckenschütz die Adressaten ab: die heimliche Staatskanzlei, den unheimlichen Ratskammerverweser
Habakuk Piccolomini von Pappenheim, den für die Bewirtung des Korsos zuständigen Wohlfahrtsverein der wohlbeleibten Winzerwitwen, die Protokollabteilung des ständigen protokollarischen Planungs- und Prüfungsausschusses, den k.u.k. Genieverein, die Erben nach Hans Makart und natürlich die Große Interministerielle Sitzung. Deren Vorsitzender lächelte verstohlen in sich hinein.

Nach Nahme dieser Hürden und mit allen Stempeln im Gepäck konnte der Kutscher zu seinem Herrn zurückkehren und ihn auslösen. Eine Bestrafung der Geiselnehmer war nicht zu gewärtigen, da sie es nicht verabsäumten, kompromittierende Details aus Nierensteiners Umgang mit seiner Blutsverwandten in petto zu haben.

Es konnte losgehen.

Zwei Festwagen wurden geplant, der erste eine Miniatur eines den Baurichtlinien der Südbahn (eine wohlkalkulierte Provokation des Ministeriums, da die Südbahn ja privat war) nachempfundenen und von sechs Maultieren gezogenen Aufnahmegebäudes, der zweite eine von vier Ochsen gezogene Nachbildung einer Lokomotive Bauart Sigl. Die unterschiedlichen Zuggeschwindigkeiten verhinderten, dass Letzterer Ersteren einholen würde. Für den wahrscheinlichen Fall, dass es zu Stauungen innerhalb des Kondukts kommen würde, stand ein Komparse in einem Ganzkörperärmelschoneranzug (noch so eine Frechheit gegenüber dem Eisenbahnministerium) bereit, der bei Stillstand dazwischen gehen und den Kontakt verhindern würde.

So sollte Seine Majestät auf die notwendigen Lückenschlüsse in Seinem Reich hingewiesen werden.

Da wir es aber mit grundsätzlich konstruktiven Charakteren zu tun haben, wurde als krönender Abschluss in der Halle des Nordbahnhofes eine Ausstellung kuratiert: Streckenprofile, Steigungsverhältnisse, Reliefkarten der jeweiligen näheren Umgebung, Trassen-varianten, Auslastungskalkulationen und so weiter, vor allem aber eine Sammlung entzückender Modelle der Bahnhöfe, – im Halbrund aufgestellt, einem Bouquet aus Milchzähnen gleich.

Dann aber starb der alte Kaiser. Er würde nie wieder einen großen oder auch einen kleinen Bahnhof brauchen.