Großer Bahnhof

Ondrak Christian


Ich wache auf und begebe mich zur Arbeit. In meinem Gedächtnis klingt noch der Traum der letzten Nacht nach. Ich erinnere mich ich an ein Tier auf einer Weide. Die Szenerie wirkt grau und konturlos, unfertig und dennoch fasziniert sie mich an und gefällt mir. Denselben Traum hatte ich schon einige Male in letzter Zeit. Seltsam, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals zuvor geträumt zu haben. Während ich noch auf die große Halle des Bahnhofs zusteuere, in der die Gleise enden, denke ich noch an mein Traumtier.
Hier in der großen Halle sind noch 80 weitere meiner Art dafür zuständig, Gepäck und Lasten, die Passagiere nicht tragen können oder wollen, für diese zu transportieren. Unser Aktionsradius geht nicht über einhundert Meter Entfernung  vom Bahnhof hinaus. Die Gebühr für unsere Benutzung wird dem Kunden sofort abgebucht. Eine grauhaarige Dame ist die erste, in dieser Schicht, die meine Dienste benötigt. Ich transportiere ihr Gepäck zu einem Taxi, belade es und gehe wieder zurück um auf die nächsten Passagiere zu warten. Ein paar auf dem Boden liegende Seiten einer Zeitschriften ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Wie von selbst hebe ich sie auf und beginne zu lesen. Die Seiten beschreiben ein Stück Land auf einer Insel, über deren tiefgrüne Hügel  Winde peitschen, die das Meer aufwühlen.

Heute Nacht träume ich wieder meinen Traum von Tier und Wiese. Doch diesmal scheint die Wiese, auf der mein Tier grast, weniger grau zu sein, als noch die Nacht zuvor und das Tier selbst, könnte es nicht ein Schaf sein?

Heute suche ich bewusst nach vergessenen, verlorenen, liegengelassenen Zeitungen. Vielleicht kann ich, wenn ich sie lese, der Wiese mehr Schönheit verleihen und vielleicht kann ich dann das Tier wirklich erkennen. So verbringe ich die Schicht mit dem Transport von Lasten, den Blick auf den Boden und Bänke gerichtet, auf der Suche nach Lesestoff. Ich lese alles, was ich finden kann und bin gespannt, welche Änderungen die Lektüre in meinem Traum bewirkt.

Seit zwei Wochen lese ich während meiner Schichten alles was ich finden kann, jedoch scheinen achtlos weggeworfenen Teile von Zeitungen nicht weiter dafür zu reichen, mehr Details sichtbar werden zu lassen. Immerhin tauchten zuletzt  Punkte auf der Traumweide auf.  Blumen vielleicht, aber ich bin noch nicht sicher. Gestern hatte ein Fahrgast ein Büchlein mit Kurzgeschichten liegengelassen. Seither ist auch ein Zaun erschienen, undeutlich, wie alles andere, aber erkennbar. Ich werde wohl in den nächsten Tagen nach Büchern Ausschau halten.

Da fast kein Reisender Bücher liegen lässt, bin ich dazu übergegangen Bücher aus den Wühltischen bei einem der zwei Reisebuchläden am Bahnhof zu leihen. Noch ist das niemandem aufgefallen. Ich gebe ja auch immer alles zurück. Trotzdem denke ich, daß ein lesender Trägerandroid seltsam auf die meisten wirken würde. Aber ich brauche die Bücher. Ich will meinen Traum fertigstellen. Er scheint mit jeder gelesenen Seite an Tiefe und Details zu gewinnen.

Noch immer hat niemand meine kleinen Ausleihungen entdeckt und es dauert bestimmt nicht mehr lange, bis ich alles erkenne kann. Die Traumwiese ist von saftigem grün und voller Blumen. Ich kann sie beinahe riechen. Fliegen schweben über den Blüten. Ich glaube sogar bereits ein Summen zu hören. Das Tier auf der Weide ist eindeutig ein Schaf, es scheint zum Zaun laufen zu wollen. Leider haben die Techniker bemerkt, daß ich meine Transportquoten nicht mehr erreiche. Ich konnte sie hören, als sie während ihrer Mittagspause über mich sprachen.  „Roys Leistung sinkt. Wir werden ihn wohl demnächst wieder einer Revision unterziehen müssen.“ Sie unterhielten sich noch
darüber, daß wahrscheinlich die gebrauchten Teile aus der Nexus 6 Serie,
die Sie zuletzt eingebaut hatten, für diesen raschen Leistungsabfall
verantwortlich sein mussten. Diese Serie war immer schon sehr
problematisch.

Nachdem ich dieses Gespräch hören konnte, schaffte ich es einige Tage meinen Dienst innerhalb der Normen zu erledigen. Aber ich will
endlich mein Traumbild ganz sehen. Ich nehme wieder eine Route über eines der Buchgeschäfte und stecke ein Buch ein.

Meine Nexus 6 Teile werden heute durch andere ersetzt. Die Techniker rollen mich gerade in die Werkstatt. Ich konnte das letzte Buch
heute noch zu Ende lesen. Dieses war von Phillip Dick. Während ich einschlafe drängt der Traum wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins. Ich erkenne endlich die ganze Szenerie. Im einschlafen fühle ich eine sanfte Brise über eine duftende Weide streichen. Bienen und Hummeln summen um die Blüten und mein Traumschäfchen springt über einen Zaun.