Jurystimmen

Dr. Christoph Horst, Dr. Schübl Elmar

Krachmann 2010, die sechste

Eisengraberamt, 16. Oktober 2010: Schon wieder ein Jubiläum – das halbe Dutzend ist voll! Und wieder ein Tag voller Déjà-vu-Erlebnisse: Odysseen zwischen Wien und dem geheimen Ort im Waldviertel, hastiges Lesen der letzten Texte bei beißendem Rauch und mit klappernden Zähnen im Garten, Herzhaftes und Exotisches am Grill und schließlich – in der warmen Stube – die von allen mit Spannung erwartete Lesung.

Und ein weiteres Déjà-vu: Das Fehlen eines verdienten Jurymitglieds. Heuer hat es Daniel Ranner erwischt, was zugleich die Brücke zum diesjährigen Thema spannt. Denn Daniels Frau, Brigitte, ist eine Frau mit sehr vielen Eigenschaften, unter anderem (leider) der, sich um die Termine ihres Mannes nicht zu kümmern, zumal er mit einer Reise nach Barcelona ja überrascht werden sollte – und dies ist ihr zum Leidwesen der beiden anwesenden Juroren auch geglückt.

Der ehrenwerte Preisestifter hatte in diesem Jahr zwei zusätzliche Flohmarktpreziosen von erlesener Rarität angeschleppt, was die Aufgabe der Jury aber nicht wirklich erleichterte, denn das schwierige Thema machte angesichts des hohen Niveaus der Beiträge die Wahl dann doch zur schon gewohnten Qual.

Das Thema verfehlt hatte niemand, und der erste in der gelosten Reihe der Lesenden, Christian Ondrak, konnte neuerlich seine stark ausgeprägte psychoanalytische Begabung einbringen und überraschte so manchen mit der angenehm kurzen und wohlformulierten These, dass „Die Frau ohne Eigenschaften“ ein Gebilde der pornografischen Phantasie der Männer sei.

Stefan Loicht, der sich bereits im vergangenen Jahr mit seiner „Parallelaktion“ als Musil-affin geoutet hatte, steuerte mit seiner Kriminalgeschichte „Wer?“ zielgenau auf den ersten Höhepunkt dieses Abends zu. Als profunder Kenner der österreichischen Verhältnisse und Gemütszustände verzichtete er bei seinen fantastischen Spazierfahrten durch Austriakisches aber diesmal überraschenderweise weitgehend auf hintergründige historische Anspielungen und verwirrte damit die Jury ein wenig.

Michael Rufus Drucker, bislang zumeist als Lyriker in Erscheinung getreten, bot diesmal einen spannenden Krimi, der uns durch vielerlei Anspielungen und die überzeugende Behandlung des gestellten Themas begeisterte. Der Autor, der wie sein Held Phallander Kopf und Kragen riskierte, wurde für sein „Romanfragment“ mit dem vierten Preis ausgezeichnet.

Stefan Wurst hatte die Ausschreibung wieder einmal gelesen und bereicherte die Musil-Deutung um eine scharfsinnige Gendering/Regendering-Debatte, die er mit höchst beeindruckender Kenntnis griechischer Mythologie und Tiroler Literatur belebte. Der brillant vorgetragene Text steht par excellence für den Krachmann, weshalb Wurst (und ein wenig auch wegen seiner Referenz auf den Krachmann-Preis) diesmal der zweite Preis nicht zu nehmen war.

Im dichten, melancholischen Text von Gregor Zentner dient ein inzwischen schon nicht mehr existierender Wiener Bahnhof als Ort eines surrealen Rückblicks, in dem Venedig als ungewisses Ziel ins Offene weist. Die starke Bilder evozierende Sprache Zentners ebnete den Weg zum dritten Platz.

Nach dem gelungenen Einstand im vergangenen Jahr waren alle auf Markus Steinbichlers Text „Die verborgenen Eigenschaften der Elfriede F. – Ein stiller Abgang im Land der 1000 Hügel“ gespannt. Diese Geschichte, die ganz in der Tradition großer Erzählkunst steht, schwelgt lange in österreichischer Familien- und Provinz-Tristesse, um dann – eine Meisterleistung der Komposition – umzukippen in einen überraschenden „Abgang“. Der Autor wusste durch seine schonungslose Beschreibung von Unbehagen hervorrufenden Lebensverhältnissen und feinen Humor zu überzeugen. Nach dem hoffnungsvollen, mit dem zweiten Platz belohnten Debüt im letzten Jahr stand mit diesem Meisterwerk der gefeierte Krachmann-Preisträger 2010 fest.

Sein Vorgänger (also Sieger des Krachmann-Preises 2009) Günter
Nowak
kehrte diesmal zurück zu seinem Erfolgsgenre früherer Jahre: Der Mischung aus politischer Kolportage, Krimizitaten im Wiener Lokalkolorit und Medienpersiflage. Bei „Vienna Psycho“ handelt es sich um einen Text, der Gänsehaut erzeugt. Dem Autor verdanken wir eine weitere Sternstunde des heurigen Wettbewerbes.

Ganz andere Töne schlug Yvonne Millard an: Es ist eine kurze und traurige Geschichte über den Versuch, ein ereignisloses Leben zu meistern – das Scheitern als Sieg. Ihr Beitrag wurde von Helga Raunicher einfühlsam gelesen.

Andreas Gruber, der sich heuer ebenfalls zum ersten Mal am Krachmann beteiligte, erfreute uns mit Lyrik. Mit seinem Versepos „Die geheimen Tagebücher eines Billa Verkäufers“ brachte er aus der trivialen Konsumwelt originelle Töne in den Krachmann’schen Kosmos.

Ein wenig abhanden gekommen ist uns heuer leider Victor Stehmann, der sich mittels Videobotschaft aus dem fernen Seattle meldete. Er thematisierte darin den Abschied als schwere- und eigenschaftslosen Zustand, in dem einem nichts wirklich mehr einfallen will.

Einen langen, erst kurz vor Mitternacht endenden Leseabend, der trotzdem wieder viel zu schnell verging, beschloss Sabina Loicht. Sie stellte als einzige in der Runde – wie übrigens schon im vergangenen Jahr – die dem traditionellen Literaturbegriff verhaftete, aber durch die neuen Medien längst problematisierte Rolle des Autors als originären „Schöpfers“ infrage. Ihre Antwort erweiterte das im Rahmen einer klassischen Lesung Gebotene beträchtlich, weshalb für diesen innovativen Beitrag der fünfte Preis mehr als gerechtfertigt war.

Die meisten traten spät nachts die Rückreise aus dem Waldviertel an – in dankbarer Erinnerung an einen wunderbar anregenden und amüsanten Abend, der Vorfreude auf den nächsten Herbst und einer Vorahnung vom „Ding an sich“, das es in den kommenden Monaten zu beackern gilt.