Vorwort

Im Waldviertel ziehen herbstliche Nebel auf. In einem Haus inmitten von Streuobstwiesen hat sich eine Gruppe von rund dreißig Personen versammelt, um ein Thema literarisch zu umkreisen, das zum umgebenden, die Konturen verwischenden Wetter gut zu passen scheint: „Die Frau ohne Eigenschaften“.
 
Solch eine tagesaktuelle Interpretation ignoriert allerdings, dass die beim 6. Krachmann-Preis Vortragenden das Thema bereits ein Jahr lang kannten und mancher Text ganz explizit bei Sonnenschein und heißen Temperaturen entstand. Das Thema hingegen als Hommage an einen kakanischen Literaturklassiker wahrzunehmen, macht da den Horizont buchstäblich weiter.
 
Aber ist „Hommage“ überhaupt der richtige Begriff? Im Kontext der aktuellen Diskurse der Sozial- und Kulturwissenschaften ist „Die Frau ohne Eigenschaften“ wohl weniger als eine Verneigung denn als Emulation zu lesen. Emuliert wird ganz offensichtlich Robert Musils Buchtitel „Der Mann ohne Eigenschaften“. Im Unterschied zur Hommage oder Imitation ist eine Emulation immer agonal, sprich: sie versucht sich in der Überbietung: Während Musils Hauptwerk, 1930/32 erschienen, ein zeitgeschichtliches Panoptikum der Verwerfungen zwischen Individuum und Gesellschaft vor dem 1. Weltkrieg präsentierte, zielt der Titel „Die Frau ohne Eigenschaften“ auf ein gesellschaftliches Panorama der Jetztzeit und zwar sowohl eines, das explizit „die Frau“ (um 1930 galt „der Mann“ noch als pars pro toto) in den Mittelpunkt rückt, als auch das beschreibende Attribut „ohne Eigenschaften“. Diese Kombination kann in ihrer zeitgemäßen Zuspitzung nun aber gar nicht überschätzt werden. Im Unterschied zu Musil, in dessen Roman das „ohne Eigenschaften“ noch als Schmähung verwendet wird, entspricht die Koppelung von „Frau“ und „ohne Eigenschaften“ heute geradezu einem Gebot der political correctness: Nichts wird unter postfeministischer Perspektive kritischer betrachtet als justament „Festlegungen“ und „Zuschreibungen“. Eine Formulierung wie „Die Frau ohne Eigenschaften“ kann daher als Ideal gelten.
 
Was hat es mit den abgelehnten „Zuschreibungen“ aber auf sich? Kurz gefasst handelt es sich um Gedankengänge poststrukturalistischer Prägung. Kategorien wie Geschlecht, Rasse, Sexualität oder Klasse bezeichnen ihnen nicht etwas bereits Existierendes; an den Begriffen wird vielmehr vor allem ihr normativer Charakter wahrgenommen, der machtvoll jenes erschafft, was sie vermeintlich nur beschreiben. Michel Foucault nannte diese diskursive Hervorbringung von Realität die produktive und gleichzeitig disziplinierende Form von Macht, Judith Butler nennt sie die performative Wirkung von Sprache.
 
In einem Literaturwettbewerb dennoch mit kurzen und sehr unterschiedlichen „Zuschreibungen“ zu experimentieren, ist in diesem Kontext eine produktive Notwendigkeit. Viele Autoren und Autorinnen betrieben in ihren Texte darüber hinaus ein Spiel mit Namen oder traditionellen Deutungen. Bemerkenswert waren auch die überraschenden Brüche in zahlreichen Erzählungen.

Da all diese Strategien vorgebliche Normalitäten im Fluss zu halten vermögen, gratuliere ich einerseits allen Preisträgern ganz herzlich zu Ihren ausgezeichneten Werken, andererseits gilt mein Dank der Gesamtheit aller TeilnehmerInnen, die vor den Zuhörern mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen ein kollektives Werk entstehen ließen, das dem bruchstückhaften und exkursartigen Stil in Musils Roman in nichts nachsteht. Mein letzter Dank gehört der Gastgeberfamilie, denn ohne sie wäre nichts geflossen: weder die Gedanken noch der Wein.


                  Vitus Weh