Der letzte Augenblick des Jure Mali

Victor Stehmann

Bei Betelgeuse links und dann circa 12 Milliarden Lichtjahr geradeaus.

Mitten in der schwarzen Unendlichkeit des Universums, keine zwei Meter neben der Stelle, an der der letzte Urknall stattgefunden hatte, schwebte es im leeren Raum. Man kann es nicht beschreiben, denn keiner hatte es je gesehen, keiner wusste, dass es da war. Also eigentlich existierte es gar nicht. Und doch schwebte es hier, war hier, hatte Gestalt und Eigenschaften und vielleicht roch es auch ein bisschen. Man kann es nicht sagen, keiner hatte jemals seine Nase auch nur Lichtjahre entfernt in seine Nähe gebracht. Da dümpelte es so vor sich hin, wie es schon seit einigen Urknallzyklen gedümpelt war und wartete auf den nächsten Big Bang. Die pulsierende Stelle da, zwei Meter weiter rechts, war schon wieder so extrem dicht geworden und in ein paar -Milliarden Jahren würde es wohl wieder so weit sein. Ja, es war uralt, älter als alle Unendlichkeiten und es hatte ungezählte universale Ex- und Implosionen erlebt. Es war älter als alle Universen und Dimensionen zusammengezählt. Es war unglaublich, unbekannt und ungesehen und schwebte da einfach so vor sich hin – Das „Ding An Sich“.

Vor der Volksoper rechts runter und die zweite links

Jure Mali, einer der letzten Wiener Hausmeister, die noch nicht durch eine Putztruppe einer dieser Hausbetreuungsfirmen ersetzt worden waren, war früh auf den Beinen. Der Rücken des 54 jährigen bereitete ihm wieder einmal schmerzhafte Probleme und so hatte er das Bett früh verlassen und kehrte den Hof des Jahrhundertwendehauses im 9-ten Wiener Gemeindebezirk. Er liebte diese stillen frühen Stunden, die er nur für sich hatte und nicht von unzufriedenen Hausbewohnern oder seiner Frau genervt wurde und so konnte er trotz seiner Bandscheibenprobleme zufrieden in sich hinein lächeln. Jure konnte sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Entferntesten ausmalen, was er durch seine Aktionen in den nächsten Minuten auslösen würde, als er fast meditativ den Hof von Blättern und Taubenfedern befreite. Ein lautes Rascheln in einer der 5 schwarzen Koloniakübel, die an der Ostseite des Hofes aufgestellt waren, unterbrach seine Meditation. Jure näherte sich dem Kübel und öffnete vorsichtig den Deckel. Vorerst tat sich nichts. Doch als der Deckel vollkommen geöffnet war sprang eine fette graue Ratte in Jures Gesicht, biss ihn in die linke Wange und flüchtete in den Kanal. Erschrocken sprang der Hausmeister 2 Meter nach rechts und stieß dabei einen weiteren Mistkübel um, wodurch ein Schwarm fetter Fleischfliegen, der sich an den Überresten des Sonntagsbratens der Familie Schöberl gütlich tat, aufgescheucht wurde. Dies erzeugte einen kaum spürbaren Windhauch, der sich mit einer eben durch den Hof -ziehenden Brise vereinte. Dieser Hauch eines Lüfterls reichte nun aus, um dieser Brise die Kraft zu geben den Hof zu verlassen und den Kurs, einer über den Dächern jagenden Schwalbe, ganz leicht zu verändern. Diese Kursänderung führte unmittelbar zu einem Beinahezusammenstoß mit einem Schwarm norwegischer Hochlandgänse, die sich gerade auf der Heimreise in den Hohen Norden nahe Trondheim befanden, und nötigte diese zu einem waghalsigen, jedoch in ungebrochener V-Formation ausgeführtem, Sturzflug, was in weiterer Folge Austrian Airlines Flug OS 177 nach Stuttgart in seiner Steigphase erheblich irritierte.

Um die Geduld des Lesers jetzt und hier nicht zu strapazieren, sei die Beschreibung der nun folgenden, sich über Monate und Jahre dahin¬ziehenden, Kettenreaktion abgekürzt. Erwähnenswerte Ereignisse, die der Kampf Jure Malis mit einer Ratte im 9-ten Wiener Gemeindebezirk auslöste, waren jedenfalls die Stürme Kathrina, Jelena und Jetti, ein paar kleinere Vulkanausbrüche inklusive Tsunamis, das komplette Abtauen des Pasterzengletschers, sowie eine Kürbisknappheit im Nordosten der USA kurz vor Halloween.

Das Ding 2 Meter neben dem Nukleus des nächsten Big Bang bekam von diesen Ereignissen nichts mit und schwebt weiter einfach so vor sich hin, wie es dies seit mehreren Unendlichkeiten immer schon getan hatte. Zwei Jahre jedoch reichten aus, um die Kettenreaktion, die ihren Ausgang in einen Zinshaushinterhof im 9-ten Wiener Gemeindebezirk begonnen hatte, um das „Ding An Sich“ ein wenig aus seiner normalen Position zu verrücken. Eine ausführliche Erklärung des Warums wäre an dieser Stelle zu kompliziert. Jedenfalls waren drei Galaxien in unmittelbarer Nähe kollidiert und die dadurch entstehende Welle dunkler Materie ließ das „Ding An Sich“ ganze zwei Zentimeter nach rechts springen. Genau zwei Zentimeter zu viel. Das Gleichgewicht zwischen pulsierendem Urknallursprung und dem „Ding An Sich“ war gestört worden und ein bisschen der Energie, die in dem „Ding An Sich“ steckte, sprang über, was zu einem enormen schwarzen Loch führte, das unverzüglich damit begann, das aktuelle Universum aufzusaugen.

Donnerstag, 5 Uhr 42 morgens. In der Nacht hatte es zu schneien begonnen und eine 20 Zentimeter hohe Schneedecke angehäuft. Jure Mali war am Schneeschaufeln und bemühte sich nicht dies leise zu tun. Er genoss dieses kleine Gefühl der Macht, wenn er die Anwohner der Gasse nach seinem Belieben aus dem Schlaf reißen konnte. Er schmunzelte ein wenig und beendete die schneebedeckte Stille dieses Wintermorgens, als er die Schneeschaufel hart in den Schnee und das darunterliegende Kopfsteinpflaster rammte. Eine fette schwarze Krähe hüpfte erschrocken durch den jungfräulichen Schnee und hinterließ zarte Spuren, als die Ereignisse ganz langsam und schleichend begannen. Vor der Geräuschkulisse des schneeräumenden Jure Malis verlangsamte sich zuerst der Schneefall und für einige Minuten standen die Schneeflocken einfach regungslos in der Luft, bevor sie langsam und dann immer intensiver zurück in den grauen Himmel gezogen wurden. Die Krähe verlor Bodenkontakt genauso wie kleine und leichte Gegenstände, wie Papier und Zigarettenstummel, die begannen, dem invertierten Schneefall zu folgen. Immer größere und schwerere Teile folgten und bald sah sich auch Jure Mali, seine Schneeschaufel fest umklammernd, in der Luft. Unter ihm sah er Autos, ja ganze Häuser nach oben gezogen. Die komplette noch schlafende Stadt wurde von einem unvorstellbar großen Kraft nach oben gezogen, als ob die Schwerkraft aufgehoben und umgekehrt wäre. Aus einer weiter entfernten Perspektive hätte Jure Mali erkennen können, dass sein kompletter Heimatplanet wie ein schlaff aufgeblasener Luftballon, den man an einem Punkt ergreift und langzieht, in Richtung Sonne gezogen wurde. Aus noch größerer Entfernung hätte er das gesamte Ausmaß der Ereignisse erkennen können. Sonne und umgebende Planeten, ja das komplette Universum bewegte sich in Richtung eines einzigen Punktes und wurde von diesem Punkt mit immer größerer Intensität angesaugt.

An seiner neuen, zwei Zentimeter verrückten, Position schwebte das „Ding An Sich“ ungestört neben dem Zentrum des Universums und registrierte nicht wie ganze Galaxien darin verschwanden. In der Stille des galaktischen Vakuums inszenierte sich das größte Schauspiel seit Anbeginn dieses Universums. Kleine, große, bekannte und unbekannte Sternensysteme und deren antimateriellen Abbilder wurden mit nicht hörbaren Schlurpgeräuschen binnen Sekunden in das stecknadelgroße schwarze Loch gesaugt. Dieses wurde immer dichter und begann in allen denkbaren Farben nach innen hin zu leuchten. Das „Ding an sich“ blieb von all dem unberührt.

Jure Mali wurde mit immer größerer Geschwindigkeit zum Mittelpunkt eines neuen Universums gezogen. Es hatte sich eine kleine Sauerstoffatmosphäre um ihn gebildet, die ihm das Atmen erlaubte und ihn vor den eisigen Temperaturen des Weltalls abschirmte. Ganz in sein unbekanntes Schicksal ergeben, konnte er erstaunlicherweise entspannen und die Ereignisse rund um ihn beobachten. In der Ferne sah er Saturn und Mars im Parallelflug, von der enormen Schwerkraft, des noch unendlich weit entfernten Schwarzen Loches, zu Ellipsoiden langgezogen. Uranus, Jupiter und Pluto rasten in einem galaktischen Parallelrennen ihrem Schicksal entgegen. Und mitten in diesem Spektakel die Sonne, die einen langen Schweif hinterließ und wie ein gigantischer Komet ihrem Schicksal entgegensah. Etwas näher zu Jures Kleinatmosphäre rasten die Überbleibsel menschlicher Zivilisation dahin. Eifelturm und Riesenrad waren nur zwei davon. Je länger diese unglaubliche Reise dauerte, desto länger wurde Jure Mali. Waren 1 Meter und 78 Zenti¬meter seine normale Größe gewesen, war er nun auf eine Länge von über 3 Metern gezogen worden. Nicht nur er, alles um ihn herum war in die Länge gezogen worden, so als ob alles auf einer großen Gummi¬decke aufgemalt wäre und jemand diese Gummidecke auseinanderziehen würde.

Das „Ding An Sich“ hatte vor diesen Geschehnissen nichts zu befürchten, denn es existierte ja per se nicht, da Nichts und Niemand es je registriert oder gesehen hatte. Somit war es auch vor den Einflüssen der nächsten Urknall Singularität sicher. Es wabberte da 198 cm hinter diesem punktuellem Zentrum des nächsten Universums vor sich hin, als die Reste der Milchstraße angerauscht kamen. Mitten in diesen Trümmern, die einst Jupiter, Mars, Merkur und andere Planeten und Sterne darstellten, flog auch Jure Mali in seiner kleinen eigenen Atmosphäre. Mittlerweile war Jure Mali sehr entspannt und verfolgte mit offenem Mund und aufgerissenen Augen, was um ihn herum geschah. Als er glaubte in unendlicher Entfernung den kleinen Punkt zu erkennen, in den alles gesaugt wurde, war er auch schon mitten drin. Doch genau in der hundertstel Sekunde, bevor Jure Mali mit dem Rest des Kosmos vereint wurde, sah er im Augenwinkel dieses unglaubliche Objekt, das sich 198 cm hinter dem Punkt befand, in dem nun alles verschmolz. Für Bruchteile einer Sekunde hatte er das Ding als eher unscheinbar in einer Erinnerung, die nicht mehr allzulange andauern sollte.

Jure Mali bekam den Rest bzw. Anfang der Geschichte nicht mehr mit. Seine Atome, Neutrinos und andere subatomare Bestandteile seiner Existenz waren nun Teil einer Singularität, die weder Zeit noch Raum kannte. Durch Jures Sichtung des „Ding An Sich“ wurde das Ding vom Ding zum Objekt. Es wurde Bestandteil dieses Kosmos, der sich in seiner Auflösung befand. Es war nun nicht mehr durch seine Dinghaftigkeit geschützt und wurde, wie alle anderen Bestandteile des Universums, in die letzte und gleichzeitig auch erste Singularität eines neuen Universums gesaugt.

Das Schauspiel war zu Ende und es existierte nur noch eine unendliche Leere ohne Raum und Zeit und mitten drin ein kleines, dunkles, pulsierendes Etwas. Dieser Zustand hielt exakte 2 Sekunden an, bevor ein neuer Urknall Zeit, Raum und ein paar zusätzliche Dimensionen in diese Leere brachte.