Das alte Lied der Taiga

Bernhard Mitterer

Der letzte Gedanke der diese Geschichte reifen ließ: Schwachsinn.  Meine Sinne, schwach. Nicht schwach, eher leer. „Leer“ sinn, mit doppel e. Leersinn über das Thema. Leersinn über die Aufgabe, die ich mir machte. Leersinn.
Ein Jahr Zeit. Ein Jahr voller Inspiration. Ein Jahr, um sich zu überlegen, was ist denn das alte Lied der Taiga? Kann es denn tatsächlich eine Ode an die borealen Wälder im Norden Russland oder Kanada sein? Nein, Geschichten von Eremiten, die qualvoll in der Wildnis ums Überleben kämpfen, weil sie von der Zivilisation tief enttäuscht wurden und eher Fuchs und Hase gute Nacht sagen, als sich dem allgemeinem Zustand der Lethargie einer Großstadt unterzuordnen, gibt es genug.
Oder etwa eine Geschichte über Russische Mannsweiber, die täglich 5 Stämme Brennholz zu ihren Hütten schleppen, weil die Männer „jagen“ sind und die Beute anschließend ausnehmen müssen….mit reichlich Wodka…den natürlich wieder die Frauen am Ofen gebrannt haben…Brennholz, ja klar. Aber auch die die Russischen Mannsweiber fallen flach, denn sollte ich heute gewinnen und diese Geschichte veröffentlicht werden, kann es leicht passieren, dass eben gerade diese russischen Mannsweiber das lesen und vielleicht einiges in den falschen Hals bekommen. Dann werde ich wohl nie wieder etwas über die Taiga und ihre Lieder, oder Weiber, schreiben können.
Ein Jahr Zeit, ein Jahr voller Inspiration. Obwohl, Inspiration schien es nicht zu geben, denn wenn sie gereift wäre, die Geschichte, würde heute perfekt sein. Zumindest für mich, als Nichtschreiber, jemand, der glaubt kreativ zu sein, flexibel immer den richtigen Schmäh zum rechten Zeitpunkt auf Lager zu haben.
Jedes Mal, wenn beim Training das Wort zum „Krachmann 2012“ fiel, wieder derselbe Gedanke. Was zum Geier schreibe ich zu diesem Titel? Was zum Geier soll ich mir als literarischer Laie aus den Fingern saugen um das Publikum zu unterhalten, zum Lachen zu bringen oder vielleicht doch in Wehmut an die ungerechte Welt denken lassen. Also eigentlich scheint mir letzteres nicht sehr angebracht, mir ist es das letzte Jahr ganz gut gegangen, hatte viel Spaß, habe neue Leute kennen gelernt, mich an den Wochenenden des Öfteren besoffen und auch ausreichend Geld verdient. Also nichts mit Wehmut, hab auch heute keine Lust dazu.
Eine erotische Kriminalgeschichte mit einer Affäre, ja das wäre nett. Obwohl für eine Affäre scheint der Titel doch nicht ganz so geeignet. Blöd, den Titel kann ich nicht ändern.
Aber die Vorstellung sich mit einer Affäre auseinanderzusetzen, scheint mir gerade sehr motivierend. Sich einzufühlen, in den Protagonisten, in die Geschichte, ist wichtig. Authentizität ist wichtig, man muss emphatisch sein, um die Geschichte glaubhaft zu machen, um bewegen zu können. Also die Gänsehaut rinnt mir schon den Rücken hinauf, Schweißperlen bilden sich. Ich spür es ganz genau. Das Bettlaken gleitet sanft vom Rücken, um freizugeben, was Gott erschuf. Die Berührungen auf der Haut, jeder Zentimeter bebt, keine Ruhe, nur Gefühl. Wärme, Kälte, Schauder, nichts was man nicht wollte, gleich, sofort, jetzt. Ich kann kaum denken, egal, du hast alle Zeit der Welt, denn die Zeit steht gerade still, für uns beide.
Das alte Lied der Taiga.
Tja, die Zeit steht nicht still, im Gegenteil, sie rinnt durch meine Finger. Ein Jahr Zeit, ein Jahr voller Inspiration. Aber nicht für dieses Thema. Also Russische Mannsweiber und Erotik fallen flach und der Eremit ist immer noch uninteressant. Vielleicht ein politisches Thema? Welche Farbe? Rot, Grün, Blau, Schwarz? Naja, Schwarz scheint mir die richtige Farbe, aber es ist die, die ich gerade vor mir sehe. Egal was ich schreiben würde, es wäre alles schwarz mit der Politik. Vielleicht auch grünbraunblaurotorange…eigentlich zu kotzen.
Leuten denen ich erzählt habe, welches Thema dieses Jahr ansteht, verdrehten mit runtergezogenem Mund die Augen und lachten innerlich laut auf. Ich sahs genau. Sie freuten sich, über mich, echt. Manche gingen etwas weiter und sagten, ich solle sie doch einbauen in die Erzählung.  Naja, dachte ich. Bei einigen könnte ich mir doch was einfallen lassen, dachte ich und machte mir Gedanken, wie ich sie denn nun mit Authentizität und Empathie in der Geschichte auftreten lassen würde. Obwohl, dreiviertel der Angebote musste ich sofort wieder verwerfen, da gabs keine Gänsehaut und auch keine Authentizität. Das restliche Viertel, ja das ging, auch nicht. Der Titel würde sich ändern und zwar in: Das JUNGE Lied der Taiga. Die Geschichte würde sich dann etwas so lesen.
Engelsgleich, mit wallendem Haar, stand sie vor mir. Blendendes Licht hinter ihr, sie schien zu schweben. Die Sonne schien in mein Herz. Ihr Wesen war alles, was mich berührte. Mein Atem schwer. Die nichtwollenden Glieder, kaum fähig sich auf den Beinen zu halten. Nervosität breitet sich aus. Infiziert den ganzen Körper. Die Gedanken einer Niederlage, das Nichterfüllen der Anforderungen, denen es bedarf, um sich dieser vollkommenen Erscheinung als würdig zu erweisen.  Ihre Beschützer umringen, umzingeln mich. Bereit ihren Schatz zu verteidigen, mit allen Mitteln. Lüstern auf Blut, Fleisch, hungrig nach dem, was nicht gefällt. Ich kann sie hören, ich kann sie fühlen, sie tasten sich an mich heran, beobachten mich und umkreisen mich. Bedächtig und bereit zum Sprung, meinen Geruch in ihrer Nase, mein Schweiß im Nacken. Kann er bestehen? Ist er der Richtige? Kann ihm gewährt werden? Sie wissen es nicht, noch nicht. Erst sehen, hören, riechen.
Sie sieht ihm tief in die Augen, um zu sehen was sie sehen muss. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, aber nur Sekunden vergehen. Die Entscheidung ist längst getroffen, denn sie sah es schon seit langem, das er der Richtige war. Ihre Leibwache beruhigt sich, der Herzschlag wird langsamer. Ihr Gemüt scheint sich zu legen, denn sie hat entschieden. Auserkoren, der Prophezeiung zu dienen, ihr gerecht zu werden. Die Zukunft zu einem besseren zu wenden, an ihrer Seite, gemeinsam. Tja, und zum Schluss wieder Gänsehaut, Schweiß, Bettlaken usw. Vielleicht noch ein heldenhafter Tod und das alles bevor der Erstgeborene das Licht der Welt erblicken kann.
Das junge Lied der Taiga. Es würde wohl eher in ein Buch voller Griechischer Sagen passen. Und Griechenland ist ja bekanntlicherweise jetzt nicht im Norden in den borealen Wäldern Russland oder Kanadas. Also weg damit. Auf ein Neues.
Ein Jahr Zeit. Ein Jahr voller Inspiration. Der Gedanke an die Zukunft, Science Fiction, ein Tor, das die Universen verbindet. Was ist daran wohl interessant, spannend? Ok, ein Zyklus mit sieben Werken und jeweils 800 Seiten könnte etwas Spannung hervorrufen.
Oder doch der Eremit? Überlebensstrategie. Der Kampf mit der Wildnis, genauer gesagt in der Taiga, mit Wölfen. Ein ganzes Rudel, um genau zu sein. Es geht ums nackte Überleben, wer sich die Beute sichert, überlebt, ganz einfach. Keine lange Geschichte, auch wenn sich der Eremit mit allerletzter Kraft zu seinem Haus schleppt, sich unter höllischen Schmerzen in die Küche schleppt, mal ne Suppe isst und danach seine klaffenden Wunden näht. Kurze Zeit später erliegt er jedoch an der Infektion eben dieser Wunden, stirbt, weil er glaubt ohne Antibiotika auszukommen und deshalb nicht in die Stadt geht.
Authentizität? Null. Warum? Also erstens sind Wölfe gar nicht so, wie sie in Filmen dargestellt werden, greifen keine Menschen an, wenn es nicht sein muss. Sie suchen sich andere Beute, die besser schmeckt.
Und Zweitens, nehmen wir mal an, es waren keine Wölfe, sondern ein menschenfressendes wildes dreieinhalb Meter hohes, nach Kadaver riechendes Tier mit riesen Fangzähnen, welches aus dem letzten Winkel des Morano-Systems auf der Erde gestrandet ist, weil es eine Umleitung übersehen hat, zu spät bremsen und umkehren konnte, dadurch leider den Mond gestreift hat, wodurch sich die Verankerung der Schubumkehr löste und letzten Endes mit ach und krach nicht im Wasser gelandet und ertrunken wäre, scheint es reichlich faul nach Münchhausen zu riechen, denn seine Hütte hätte der Eremit bei solch einem Gegner sicher nicht erreicht.

Schwachsinn. Sinn. Schwach. Leer. Leersinn. Mit doppel e. Mein letzter Gedanke, aus dem diese Erzählung erwächst.  Und doch, mein Sinn, mein Gehirn ist nicht ganz leer. Das ganze Jahr über habe ich dieses eine Bild vor Augen, ohne Geschichte, ohne Namen. Ich habe versucht es zu zeichnen, um dahinter zu kommen, welche Geschichte sich dahinter verbirgt. Dieses Bild, eingebrannt, so als gäbe es schon ewig in meinem Gedächtnis, wartend auf den Impuls, wie etwa: Das alte Lied der Taiga. Es passt. Ein Titel für ein Bild, nicht für eine Geschichte.
Das Bild ist einfach, es ist eine Landschaft. Es ist eine karge Landschaft. Ein Mann sitzt auf einem Stein, welcher am Ende einer Anhöhe ist. Sein rechtes Bein ist angewinkelt. Er hat einen Hut mit großer Krempe. Er hält sein Haar, zumindest ein wenig. Das Haar ist lang, reicht ihm fast bis zur Hüfte. Sein Poncho, fast wie eine zweite Haut, ist übersät mit Löchern, zerrissen von der rauen Umgebung, gegerbt vom Wetter. Sein Gesicht vage, nur von der Seite zu sehen, ist mit Falten überzogen, die Zeit, die er hier schon lebt hat ihn gelehrt, vorsichtig zu sein. Dennoch scheint er vertraut mit dieser Natur, er sitzt gelassen auf seinem Stein, beobachtend des Anblickes, den er vor sich sieht. Das weite Land, der Horizont weit entfernt, beherbergt nicht viel. Vereinzelt Bäume ein paar Sträucher. Berge, eher Hügel am rechten Rand des Bildes.
Eine Bisonherde streift einige Kilometer entfernt sein Blickfeld, es sind etwa 20 Tiere. Ihr Ziel, der Flusslauf einen halben Tagesmarsch nordöstlich von ihrer Position. Die Herde ist schon länger auf dem Weg. Er weiß, nicht alle werden überleben, ein paar, die schwächeren würden den Kojoten zum Opfer fallen als Festmahl. Denn die Natur, die sich hier erstreckt, bietet wenig. Etwas Heidel- und Preiselbeere, Wald und Wachtelweizen, Moosglöckchen und Blaue Heckenkirsche. Ein paar Fichten und Lärchen.
Die Gedanken die er haben mag, reine Spekulation. Vielleicht die gleichen wie ich. Gänsehaut, Bettlaken, Tore in andere Universen mit menschenfressenden wilden dreieinhalb Meter hohen Tieren oder elfengleichen Wesen. Ich kann es nicht erahnen. Für mich ist da nur ein Bild, das mich berührt….und den Titel „Das alte Lied der Taiga“ trägt.
Aber Moment, in der Hand hält er eine Flöte, sein Mund ist etwas gespitzt. Er scheint etwas zu summen. Ist das nicht das….

 

 

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