Das alte Lied der Taiga

Michael Gassner

Es war ein sonniger Frühlingstag im Wiener Prater in den Nullerjahen des 21ten Jahrhunderts. Damals durften Hunde noch freilaufen im Prater. Heute kann man sich so was gar nicht mehr vorstellen. Herr Schöberl war mit seinem Kurzhaardackel Bauxi unterwegs und war wie Bauxi guter Dinge. Schöberl genoss den frischen Duft des ersten Grüns und Bauxi die komplexen Duftwolken des, über den langen Winter hinterlassenen, Hundekots. Im Winter versinken ja die körperwarmen Exkremente in der üppigen Schneedecke und werden dann bis zum Frühling tiefgefroren, um dann an diesem einen Tag schlagartig deren gebündelte olfaktorische Kraft freizugeben. Für Bauxi jedenfalls, ein tolles Erlebnis und der Wiener Prater ein Ort der Glückseligkeit. Hier gibt es an so einem wundervollen Tag auch so manches zu sehen und zu erleben. Radfahrer und Jogger, die die Hauptallee nach den langen Wintermonaten zurückerobern, in den Wiesen sitzende mutige Picknicker mit ISO-Decken und hoch in den Bäumen die ersten Slackliner, die auf einem von Baum zu Baum gespannten Seil waghalsig balancieren. Nicht zu vergessen, die zwitschernden Vöglein, die zur perfekten Idylle einfach dazugehören. Mani war einer dieser  Slackliner und auch er hatte schon auf diesen ersten Tag gewartet, an dem er endlich seine neue extralange, im Internet bestellte Slackline testen konnte. Diese neumodische Slackline ist eigentlich ein LKW Spanngurt, gedacht  die Ladung festzurren, aber eignet sich auch formidabel zum Balancieren in höheren Gefilden. Mani spannte seine Slackline zwischen zwei großen Ahornbäumen in Augenhöhe, gute 20m waren es von einem zum anderen Baum, und wäre da nicht auf dieser einen Wiese eine Grube dazwischen, hätte er beim Überschreiten in der Mitte des Seils den Boden berührt. Mani war es schon ein paar Mal gelungen hin- und herzugehen, als Bauxi, dem die Wiese eigentlich gehörte, plötzlich Interesse an Mani fand, just als dieser am tiefsten Punkt in der Grube, etwa einem Meter über dem Boden balancierte. Bauxi bellte aufgeregt und lief hin und her. Herr Schöberl, der Bauxi schon vermisste, dachte zuerst, dass ein anderer Hund die Ursache für die Aufregung war. Aber ein Slackliner? Die waren ihm sowieso auch nicht geheuer, und umso mehr auch Bauxi nicht.  „I' zeig sie oan, won sie auf mein Bauxi stürzen“  krächzte Herr Schöberl aufgeregt. Der Slackliner schwankte daraufhin schon deutlich ängstlicher und instabiler. Der Spanngurt pendelte hin und her.„Bauxi pass auf, des is so gfährlich “ versuchte Schöberl seinem treuen Begleiter die mörderische Situation begreiflich zu machen, aber ohne Erfolg.   „Wuff Wuff Wuff, Wuff wuff wuff“  bellte Bauxi aufgepeitscht und angetrieben von den allgegenwärtigen Wolken der Frühlingsdüfte und der Rage seines Herrdls. Immer wieder sprang Bauxi hoch um die Turnschuhe des Freizeitsportlers zu erreichen, die vorher schon in der Wiese den einen oder anderen Kontakt zu oben erwähnten Hinterlassungen hatten. Bauxi bellte dabei so heftig, dass sich sogar seine sonst so sanfte Hundestimme überschlug:“Wuiif uff uff uff“. In einem waghalsigen Manöver mit Anlauf von Oben und aller Kraft sprang Bauxi in die Lüfte und  verbiss sich in die Slackline. Plötzlich wurde es recht still, und nur mehr ein knurren war zu vernehmen. Schöberl war kurz stolz auf Bauxi als dieser am Seil hing und mit dem Slackliner gemeinsam hin und her baumelte. Mani konnte mit der zusätzlichen Instabilität durch Bauxis  gebaumle allerdings gar nicht gut umgehen und verlor mit einem Schlag das Gleichgewicht. Es gelang ihm gerade noch so abzuspringen, dass das Seil nicht zwischen seine Beine schnalzte. Aus dem Augenwinkel konnte Mani noch wahrnehmen wie Bauxi durch die plötzliche Lastveränderung die Wirkung der Seilspannung voll zu spüren bekam. Bauxis piepsen war deutlich zu hören, besonders die Tonhöhenverschiebung als Bauxi an Manis Ohr vorbeischoss blieb Mani noch lange Zeit in Erinnerung. Sehr schnell stieg Bauxi in die Höhe, immer weiter und weiter. Bauxi sah nochmals die Strahlen der tiefstehenden Sonne. Schöberl war fassungslos. Es war so ein Augenblick wo die Zeit stehenzubleiben scheint, und so war es auch für Bauxi, dass sein ganzes Hundeleben an ihm vorüberzog. Aber es war ein schöner Frühlingstag für Bauxi und kein Tag den Knochen abzugeben. Katzengleich flog Bauxi durch die Lüfte, und mit allen Vieren voran setzte er zur Landung an. Mani, der ja das kinetische Erlebnis mit Bauxi gewissermaßen teilte, sah Bauxi auf sich zukommen, streckte instinktiv die Hände aus und Bauxi landete sanft in den  Armen seines Retters. „Danke, danke, mein Bauxiwauxi Bumstiwumsti lebt, danke, danke!“ überschlug sich nun Schöberls Stimme: „ Sie hom mein Hund gerettet, dafür bin I inan evig dongbor. I lod sie ein auf a Schnapsal am Würschtlstand!“ Alle hatten nun etwas zu erzählen und als die Sonne unterging spielte der Radio vom Würstelstand „Das alte Lied der Taiga“.