Das alte Lied der Taiga!

Matthias Karrer

Sämtliche Personen und Namen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit bestimmten Örtlichkeiten und Personen sind rein zufällig und vom Autor nicht gewollt.

Es war wieder einmal einer dieser schwülen Samstagabende, wo man überall sein möchte, nur nicht in einem Krankenhaus der großen Gemeinde. Das Thermometer zeigte 31 Grad bei nahezu windstillen Verhältnissen. Natürlich gab es, außer in einigen Sonderbereichen wie z.B. Operationssälen, keine Klimaanlagen. Sollen doch die Mitarbeiter schwitzen. Wen interessiert das! Und die Kranken? Die sind überhaupt die reinsten Nervensägen. Die sehr starke Gewerkschaft kümmerte sich zwar brav um die vielen Verwaltungsmitarbeiter, denn die sind ja schließlich diejenigen, die den Laden am Laufen halten, aber für unbelehrbare Wechselwähler wie Ärzte und Pflegepersonal und alle anderen nicht den großen Bruder wählenden Personen ist dann natürlich kein Geld da. Wichtig war und ist, dass alle von der Partei zusammenhalten und alles so bleibt wie es immer war. Denn wo kämen wir hin, wenn irgendetwas in dieser großen Stadt anders oder vielleicht sogar besser funktionieren würde. Übrigens eine ausgezeichnete Möglichkeit für „Modernisierungsmaßnahmen“ sind Arbeitsgruppen. Nach dem Motto: Wenn DU nicht mehr weiterweißt, dann bilde einen Arbeitskreis! Eh klar, dass dieser Arbeitskreis dann 2,5 Jahre heiße Luft produziert. Aber das ist eine andere Geschichte. Wer Mitglied bei der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten ist, kann sich seiner Karriere sicher sein. Genauso ist es wichtig für angehende Primaten – sorry, ich meinte natürlich Primarii -, bei der Partei zu sein. Übrigens diese allgegenwärtige Partei ist genauso gut organisiert, wie das einstige Politbüro der kommunistischen Partei. Diese Partei hält sämtliche Fäden in der Stadt in der Hand. Es gibt auch einen Politbürovorsitzenden, der dem Wein nicht abgeneigt ist und manchmal ganz ordentlich poltern kann und rein zufällig auch mit einer Ärztin verheiratet ist, die danach eine fabelhafte Karriere hingelegt hat. Aber zurück in unser Spital.
Dr. Navratil, seines Zeichens Unfallchirurg, hatte mal wieder Dienst. Er war einer dieser Chirurgen, die grundsätzlich große Chancen auf eine tolle Karriere hatten. Er war halt wie viele andere dieser Spezies auch etwas versoffen, wobei das bisschen Alkoholproblem nicht die Ursache für seinen beruflichen Stillstand war, auch die regelmäßigen verbalen Ausrutscher im OP wie z.B. „unter dem Hitler hätt ma gwusst, was ma mit die Kanaken gmacht hättn“ auch die Affäre mit der Frau des Verwaltungsdirektor waren nicht das Problem, nein, es war diese schreckliche Ehrlichkeit. Besonders Primarärzte bzw. Spitzenbeamte dieser Stadt „liebte“ Dr. Navratil. Eine ganz besondere Beziehung hatte Dr. Navratil auch zur Verwaltungsführungsebene des eigenen Krankenhauses. Auf Grund seiner Pragmatisierung konnte Dr. N. ohne Rücksicht auf eventuelle eigene Verluste regelmäßig wunderbare Verbalinjurien austeilen. Das kam dann meistens in einem Wortlaut wie: „Ihr Bürowappler sads doch richtige Oarschwarzen“, wobei - werte Zuhörer - das Wort „Oarsch“ so inflationär eingesetzt wurde dass jede „Mundl“-Folge zum Ministrantenreport mutieren würde. Aus diesem Grund sistierte sich die Karriere von Dr. N. auf dem Niveau eines einfachen Facharztes. Das einzige was Dr. Navratil am Arbeitsleben bei der Gemeinde noch schätze, war die Gewissheit auf eine baldige Frühpension und die Gebührenfreistellung aus dem ominösen Pensionstopf der Ärztekammer der sich Wohlfahrtsfond nennt. Der Name selbst ist schon eine Verhöhnung, da die einzigen die die „Wohlfahrt“ genießen, Funktionäre der Ärztekammer sind.  Aber zurück zu Dr. Navratil. Fachlich war er gar nicht so schlecht, wobei der täglich aufgenommene Alkohol sehr zur Leistungssteigerung beitrug. Besonders der „Weisse“ im Tetrapack vom Hofer war bei Dr. N. sehr beliebt. Der Preis von 1 Euro 20 war natürlich auch ein gutes Argument.

Die Ambulanz war voll mit Alkoholleichen, die es im Vollrausch aufgelegt hatte. Dr. Navratil vertraute ganz auf seine Assistenzärztin und seinem Stationsturnusarzt. Die beiden rannten sich schon seit Stunden die Seele aus dem Leib, ohne einen Bissen Brot oder Schluck Wasser im Magen. Das kümmerte Dr. Navratil relativ wenig, da das Totschlagargument „wie wir jung waren war alles noch viel schlimmer“ jede Diskussion um Hilfe im Keim erstickte. Nachdem er im Aufenthaltsraum genüsslich „Wetten dass“ mit der abendlichen Pizza konsumiert hatte, zog er sich mit dem Tetrapack Weißwein in sein Zimmer zurück. Um 23 Uhr wollte er sich zur Ruhe betten, jedoch nicht ohne sein fixes Ritual. Zuerst holte mit einer Hand aus seinem unaufgeräumten Kasten noch schnell seinen Uralt-Kassettenrecorder und mit der anderen Hand kramte er nach einer feinsäuberlich selbstbeschrifteten Kassette. Diese enthielt mehr oder weniger beliebten Mainstreamschrott und sein Lieblingslied aus der Kindheit. Er drückte die Playtaste und wusste, dass das Lied erst nach zirka 12 Sekunden anfing. Diese Zeit nutze er noch für einen festen Schluck Wein aus dem Tetrapack und für das obligate Sockenaus-ziehen. Danach fiel er bei Beginn des Liedes in Art Trance Zustand. Da war es, das „alte Lied der Taiga“, dieses alte russische Volkslied, das ihn an seine Kindheit erinnerte. Seine Großmutter spielte dieses Lied immer dann, wenn Sie Krautfleckerl kochte, wobei der Zusammenhang bis heute nicht klar ist. Mit der sibirischen Taiga hatte sie eigentlich soviel zu tun wie Dr. N. mit dem Kaninchenzüchten und doch hörte sie dieses Lied immer und immer wieder. Dadurch hatte sich die Melodie in sein Hirn für immer eingebrannt. Nachdem die ersten Takte des Liedes den äußeren Gehörgang und dann die Innenohrzellen der Schnecke im Gehirn erreichten, führte dies unweigerlich zu einem Glücksgefühl, das diesmal aber jäh durch das Läuten des Telefons unterbrochen wurde. Die Assistenzärztin berichtete von einem Patienten, der auf Grund seiner schweren Verletzungen umgehend in den Operationssaal gebracht werden sollte und daher Dr. N.s Anwesendheit notwendig sei.
Wutentbrannt zog Dr. N seine Socken an, drückte den Stoppknopf und eilte die Treppen hinunter. Und da lag er der Patient: ungefähr 40 Jahre alt, leicht graue Haare, zirka 175 cm groß, blutig verschmierte Extremitäten, die eigenartig verdreht waren und einem unglaublich entspannten Lächeln auf den Lippen, wie es Dr. N. nicht kannte bei solch schweren Verletzungen. Schnell wurde der Patient in den OP gebracht, wo der Anästhesist Dr. Müller bereits wartete. Dass sich Anästhesisten und Chirurgen nicht mögen, ist landläufig bekannt. Doch Dr. Müller war diese Art von Mensch, die nach 5 Minuten Gespräch so unsympathisch wirkten, dass der Wille zur Gewaltanwendung zur unerträglichen Selbstbeherrschungsprüfung wurde. In diesen Zusammenhang passte wohl der Hass, den Dr. Navratil auf Dr. Müller hatte. Zu allen Überdruss hatte auch noch Schwester Mizzi OP-Dienst. Ihres Zeichens schwer übergewichtige OP-Schwester mit Hang zur Theatralik und besonders aktives Mitglied in der Partei und Gewerkschaft. Der einzige Grund warum sie immer noch normale Schwesterndienste absolvieren musste, war, weil gerade kein adäquater Verwaltungsposten als Stationsschwester oder in der Pflegedirektion frei war. So kam es, dass dieses „Dreamteam“ für die nächsten Stunden aufeinander angewiesen war. Der Patient, der zu diesem Zeitpunkt noch wach war, lächelte still vor sich hin. Dieser Umstand fiel in der allgemeinen Hektik der OP- Vorbereitungen nur Dr. N. auf. Es irritierte Ihn, doch er dachte zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nach, da er genau in diesem Augenblick von der Assistenzärztin mit den letzten Röntgenbildern versorgt wurde. Die operative Versorgung der Verletzungen begrenzte sich auf die beiden Unterschenkel. Dr. Müller fragte in den Raum, ob er nun endlich mit der Narkose beginnen konnte und bekam ein schallendes Gelächter zurück. Was soviel bedeutete: „Warum hast du Vollkoffer nicht schon längst begonnen!“
Der Patient lächelte still vor sich hin und blieb vollkommen regungslos. Die Narkoseeinleitung war sehr eigenartig, denn das Lächeln auf den Lippen blieb auch erhalten, nachdem der Patient bereits tief und fest schlief. Fast schien es als wäre er transzendär weiter präsent. Die ersten Stunden der Operation vergingen wie im Flug. Dr. N. plagte sich redlich, das linke zertrümmerte Fersenbein mit Schrauben, Platten und sonstigem Metallutensilien zu rekonstruieren. Außer ein paar boshaften Bemerkungen zwischen Dr. N. und Dr. M. blieb es verhältnismäßig friedlich. Schwester Mizzi startete ihre Raunzoffensive, dass sie bereits sehr hungrig sei und überhaupt seien die Belastungen für das Pflegepersonal unerträglich geworden.  Was sie selbstverständlich verschwieg, war die Tatsache, dass erst sie gestern von einem fünf Tägigen gewerkschaftlichen Seminar zurückkam, das in erster Linie dem leiblichen Wohl gewidmet war und in zweiter Linie dem Relaxen in einer südburgenländischen Therme. Ach ja, ein Thema gab es auch: „Gewerkschaftliche Verpflichtungen im Krankenhaus im Jahr 2012 in Anbetracht des erhöhten Arbeitsaufwandes“ Allerdings blieb es bei sehr kurzen Referaten. Als jedoch Dr. Navratil die Frage stellte, wie alt der Patient denn sei, wurde von Dr. Müller die spitze Antwort gegeben: „Bei Beginn der Operation waor er no 32, wie olt er jetzt is, woas i net!“ Die Replik von Dr. Navartil ließ nicht lange warten: „Du bist und bleibst einfach ein klassischer Volltrottel und bitte drehts ma des Radio auf, dann her i nix mehr von dir bladem Vergaser und Beitldrucker“. Zur Erklärung für alle nicht Mediziner, Vergaser kommt von den Narkosegasen die der Patient während einer Narkose zugeführt bekommt. Der Ausdruck „Beitldrucker“ hat seinen Ursprung nicht von dem Drücken der männlichen Geschlechtsorgane, sondern in dem Drücken des Beatmungsbeutels während einer Narkose.
Der auch im Raum anwesende OP Gehilfe drehte das Radio auf und es erschallte, der werte Leser wird es sich schon denken, natürlich das alte Lied von Boney M: „The rivers of Babylon“. Die Operation war mittlerweile bereits 4 Stunden im Gange, der Patient lächelte weiterhin seelenruhig vor sich hin, als plötzlich im Radio eine Melodie den Raum durchflutete, die Dr. N. sehr bekannt vorkam. Es war eine schreckliche Technoversion des alten Lieds der Taiga. Die Musik traf sein Hirn wie ein Pfeil. Er musste das Skalpell weglegen und lauschte der hirnzermarternden Musik. Doch anstatt einem wohligen Gefühl befiel Dr. N bei dieser Version eine panische Angst. Die Musik wurde immer unerträglicher. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf explodieren würde. Der ganze Raum wurde zu einem ohrenbetäubenden Gefängnis. Im Augenwinkel sah Dr. N., dass die gesamte OP Mannschaft scheinbar schmerzbedingt am Boden lag und schrie. Der Horror wurde noch schlimmer, als eine OP Wand in grellem Grün erleuchtete und der Lärm von schweren E-Gitarrensound und massiv einsetzenden Bässen das ganze Zimmer zum Vibrieren brachte. Plötzlich hatte auch der Patient sein Lächeln verloren. Plötzlich riss er sich den Tubus aus dem Mund und begann laut zu lachen. Sein Gesicht wurde zu einer bösartigen Fratze mit einem überdimensionalen Kopf und das Lachen endete in ein schwer röhrendes Gebrüll. Gleichzeitig pulsierte der gesamte Brustkorb. Es schien fast so, als wolle sein Herz aus dem Körper. In diesem Moment dehnte sich die Haut immer weiter aus, bis es zu einer wuchtigen Explosion kam. Unmengen von blaugrünem Blut wurden im gesamten Raum verteilt. Teile des Herzens tropften von der Decke genau ins Gesicht von Dr. N. Dort wo eigentlich eine Wand stehen sollte, war ein beispielloses Nichts, absolut nichts. Stattdessen wurde aus dem grünen Licht ein greller violetter Strahl aus dem die Technoversion des alten Liedes von der Taiga dröhnte. Die Geräusche waren so heftig, dass Dr. N. beide Hände auf die Ohren gelegt hatte und vor Schmerzen gekrümmt auf dem OP-Boden kauerte. Das gesamte Szenario erinnerte an einen Science-fiction-Horrorfilm aus den Siebzigern. Das Licht wurde immer greller, bis Dr. N. nichts und niemanden mehr wahrnahm und wie von Geisterhand hochgehoben wurde und in das grelle Licht hineingezogen wurde.

Cut
Wir befinden sich im Jahr 20017 auf der Raumstation Alpha Centaurius x4 Q34.
Als Dr. N. die Augen öffnet, liegt er in einer bettähnlichen Maschine. Vor Ihm gelbgrüne Flüssigkeit, darüber zwei lautsprecherähnliche Gebilde. Daraus hört Dr. N. die bereits bekannte Melodie: Das alte Lied der Taiga, sofort durchströmt ihn dieses warme Gefühl und instinktiv möchte er zu seinen Socken greifen, doch er kann nicht. Es gibt weder Arme noch Beine, geschweige denn irgendeinen anderen Körperteil. Der Blick gleitet auf einen kleinen Computerschirm mit folgenden Angaben: Neuronenstimulator 2X5B38ZZ, Geb. Datum 23.5.1967, Schlafmodus 20015 Jahre, Hirnmasse 1334 Gramm; Einige andere Zahlen und Schriftzeichen waren nicht wirklich aussagekräftig bis auf die letzte sehr interessante Zeile: Flowactivation and Transpondersignal: Das alte Lied der Taiga.