72 Jungfrauen

72 Jungfrauen

von Wolfgang Weißensteiner

 

Was für ein Scheiß!!

Also ehrlich, das ist doch beknackt.

Stellt euch mal vor, ihr seid beim Überqueren der türkisch-syrischen Grenze auf eine Mine getreten, oder, was viel wahrscheinlicher ist, an einer Sepsis, ausgelöst durch eine Nagelbettentzündung die Ihr euch in dem Ausbildungscamp in dem ihr zwei Wochen, nach Abbruch der Hauptschule in Rudolfsheim Fünfhaus verbracht habt um in den heiligen Krieg zu ziehen, verstorben.

Also, rituelle Waschung, ein paar Suren, aufgesagt von dem Prediger an dessen Lippen ihr noch vor kurzem gehangen seid, um die Wahrheit und den wahren Weg zu finden und ab in die Grube, ganz in weiß, ohne Blumenstrauß. Blumen gibt´s dort nämlich keine wo ihr die Ungläubigen bekehren wolltet.

So! Und jetzt?

 

„Ali Ben Hussein, Ali Ben Hussein!! Ihr müsst aufwachen.“ Weißes, strahlendes Licht blendet seine Augen, verwirrt versucht er sich umzusehen.

Der Duft von Honig, Moschus und Früchten bezaubert seine Sinne, Hassan sein Diener rüttelte ihn an den Schultern.

„Ali Ben Hussein, sie warten schon“. „ Wer, wer wartet schon?“

Der Kommandant der „Helden der Scharia“ wie die bunt zusammengewürfelte

Truppe der Gotteskrieger sich nannte, der er sich nach einem Streit mit seiner Mutter so leichtfertig angeschlossen hatte? Verwirrt nimmt er die Gärten und Flüsse rund um sich wahr und versucht sich zu orientieren.

„Was wollt ihr, wer seid ihr?“ In seiner Stimme schwingen Angst und Verzweiflung mit.

„Ich bin euer Diener Hassan, Erleuchteter. Bitte, beeilt euch. Sie sind schon ganz

aufgeregt und können es nicht erwarten Euch kennenzulernen“

„Wer, wer will mich kennenlernen? Wurden wir gefangengenommen?“ Hassan wusste, nach all der Ewigkeit, dass die Neuen manchmal etwas Zeit brauchten, besonders da in letzter Zeit immer mehr, gelinde gesagt, junge Männer ankamen die nicht so ganz dem entsprachen was er, auch wenn er auf der untersten der hundert Stufen der Dschanna seinen treuen Dienst versah, als Auserwählte sich vorzustellen geneigt war.

„Die Huri, mein Gebieter, die zweiundsiebzig Huri, die ihr als Lohn für eure Aufrichtigkeit und Tapferkeit erhalten habt.“ Zweiundsiebzig Huri? „Was sind Huri, Hassan?“

Dass er den Diener beim Namen nannte verlieh ihm zum ersten mal ein zartes

Gefühl der Sicherheit, obwohl er immer noch nicht wusste wo er war und was mit ihm geschah.

„Sayyid? Die Huri, eure zweiundsiebzig Jungfrauen.“ Ali Ben Hussein zuckte zusammen.

„Jungfrauen, Hassan?“ „Jungfrauen, Sayyid!“ Hassan bemerkte einen Gedanken in

seinem Kopf den er sehr schnell wieder verwarf, er wusste, dass man hier sehr

auf Reinheit und Schönheit fixiert war und hatte nicht vor sich wegen eines

 jungen Faulenzers der auf ein bisschen Ruhm aus war, ohne dafür eine anständige Leistung zu erbringen, rechtfertigen zu müssen.

„Ihr müsst jetzt aufstehen Ali Ben Hussein, wir müssen euch ankleiden und wir

haben noch so viel zu erledigen.“ Ali verspürte dieses unangenehme Gefühl wie er

es immer empfand wenn seine Mutter ihn darauf hinwies, dass er etwas leisten sollte um ein anständiges Leben zu führen. Sie hatte nie verstanden, dass er sich noch nicht im Klaren war wie er seinem Leben einen Sinn geben sollte. War es seine Schuld, dass er in

sechs Jahren Hauptschule nicht herausgefunden hatte wo seine Bestimmung lag.

Als ihn der Prediger am Meiselmarkt das erstmals ansprach und auf ein RedBull einlud fand er es cool, dass ein älterer Mann an seiner Persönlichkeit Interesse

zeigte. Ohne sich rechtfertigen zu müssen trank er „giftige Limonade“, wie seine Mutter sein Lieblingsgetränk nannte, und saß mit richtigen Erwachsenen an einem Tisch.

Er hätte nie gedacht, dass jemand der in engen Jeans herumlief sich der heiligen Aufgabe der Bekehrung der Ungläubigen verschrieben hätte. Als er ihn das erste Mal sah kratzte er sich außerdem ungeniert an den Eiern ohne sich auch nur im Geringsten um die anderen zu kümmern. Das zeigte doch ohne Zweifel, welch starke Persönlichkeit er vor sich hatte? Die zwei schallenden Ohrfeigen die seine Mutter ihm verpasste als sie ihn das erste Mal mit seinen Brüdern sah konnte er jetzt noch spüren als wäre es gestern gewesen, besonders Angesicht Hassans fiel ihm dies ausgesprochen leicht. Er hätte seiner Mutter damals gerne erklärt warum seine neuen Freunde für ihn so wichtig waren, aber ihr Geschrei ließ leider keine reinen Argumente, wie es in der ihm immer vertrauter

werdenden Umgebung hieß, zu.

 

„Es tut mir leid Ali Ben Hussein, aber wenn ihr euch nicht aufrafft werden wir hier einige Probleme bekommen, ich habe viele

tausend Jahre und eine ganze Ewigkeit gebraucht um die Seele der Gespielinnen der Erleuchteten auch nur in ihrem zartesten Keim zu verstehen und wer bin ich Unwürdiger im Kosmos unseres Einzigem, dass ich mir anmaße Sie ganz zu durchblicken?“

Ali Ben Hussein verspürte wieder dieses verstörende Gefühl eine Aufgabe erfüllen zu müssen.

Da er jedoch noch immer nicht verstand was mit ihm geschah erhob er sich von seinem seidenen Laken und stellte sich neben sein Bett das wie er jetzt erst bemerkte mindestens hundert mal hundert Fuß maß. Mit hohlen Augen bestaunte er die gigantische Schlafstatt und versuchte, eine Erklärung dafür zu finden wie er diese überhaupt verlassen hatte können.

 

„So, nun los, Sohn des Hussein!“ Hörte er seinen Diener sagen. Erst jetzt dämmerte ihm, dass sein Diener ihn mit einem ihm unbekannten Namen ansprach, da er aber sowieso mit zu vielen Fragen beschäftigt war entschloss er sich nicht noch eine weitere hinzuzufügen.

 

Sie eilten schnellen Schritts in einen benachbarten Raum wie er ihn in solcher Größe noch nie zu vor gesehen hatte. Tausende und abertausende Gewänder aus edelsten Stoffen, Seide, Damast und Ähnlichem, gewoben aus den Träumen der Gläubigen hingen wie von Zauberhand gehalten in der Luft, Tücher aus den Tränen der Liebenden, Pantoffeln aus den reinen Gedanken

Unbefleckter Jünglinge gefertigt und duftende Pretiosen die einem den Atem raubten.

„Wie wollt ihr euch für diesen großen Augenblick kleiden Gebieter?“ hörte er eine verschleierte Frau die plötzlich neben ihm stand fragen. Er zuckte leicht zusammen und starrte ins Leere.

„Etwas Cooles?“ entfuhr es ihm.

Nach kurzem Schweigen sagte Hassan mit bestimmter Stimme:

„Der Auserwählte überlässt euch in seiner großzügigen Güte die Auswahl seiner Kleidung.“

„Wollt ihr nun so gütig sein und euer Schlafgewand ablegen?“ fragte die Verschleierte mit sanfter Stimme. Als er nach seinem weißen Nachthemd griff bemerkte er verstörender Weise eine gewisse Spannung zwischen seinen Lenden. Das Blut schoss ihm augenblicklich in seinen Kopf und als er glaubte auf Hassans Gesicht einen Anflug von Heiterkeit zu erblicken hörte er

diesen bereits Sagen: „Auch dies meine Gebieter ist ein Geschenk unseres Allmächtigen an jene die sich anschicken die hundert Stufen des Paradieses zu erklimmen.“

Ali Ben Hussein fühlte sich ertappt und es kam ihm vor, dass jeder

im Raum seine geheimsten Gedanken und die Empfindungen seiner feinsten Nerven kannte und das schon seit jener Zeit als die be-

zaubernde Güher in der zweiten Klasse seinen Arm berührte und „Voll krass, Oida“ zu ihm sagte.

Die mit der Auswahl seiner Kleidung Beauftragte schien das alles nicht zu stören, so schnell wie sie ihm sein Hemd abstreifte und begann ihn anzukleiden, schien es ihm als hätte sie Ähnliches schon öfter erlebt.

Ali Ben Hussein stand wie ein König vor Hassan seinem treuen Diener. Gekleidet in Gewänder wie sie nie ein Ungläubiger zu Gesicht bekommen würde.

„Jetzt aber los mein Gebieter! Euer Palast hat zweiundsiebzig-tausend Zimmer und wir sind hier in euren Privatgemächern.“

Die kurze Beklemmung Angesichts einer Aufgabe verflog als Ali Ben Hussein in seinen Seidenpantoffeln ausrutschte und nur durch Hassans Geistesgegenwärtigkeit vor dem Schlimmsten bewahrt wurde. Sein verstauchter Knöchel schmerzte angesichts des schnellen Schrittes den sein Diener vorlegte schon nach den ersten dreihundert Zimmern an denen sie vorbeigelaufen waren. „Sagt, Hassan, woran werde ich eine Huri erkennen?“

„Die Hadithen, junger Herr, lehren uns, dass Jungfrauen schön wie Perlen sind, weiße Haut und große Augen haben, ewig jung sind, für immer jungfräulich“ Ali begann einen Gedanken zu fassen der ihm seltsam vorkam, „ Durchsichtig bis zum Mark ihrer Knochen“ für einen zweiten Gedanken, der ihm in den Kopf stieg, hatte er keine Zeit den Hassan sprach voll Begeisterung weiter, „außerdem sind

sie 60 Ellen groß und 7 Ellen breit“ Alis Knöchel schmerzte und er fühlte hitzige Wellen durch seinen Körper strömen die so gar nicht zu der perfekten Umgebung passten. Sein Onkel war Schneider am Brunnenmarkt gewesen und hatte ein Ellenmaß verwendet. Er hatte die Zeit in der kleinen Schneiderei geliebt sein Onkel hatte ihm immer liebevoll erklärt wie er die Stoffe behandeln müsste damit die schönsten Kleider und Anzüge daraus wurden. Als der Onkel starb war er traurig, denn er hatte gehofft von ihm das Handwerk zu lernen und ihm vielleicht einmal nachfolgen zu können.

Fieberhaft begann er zu rechnen. „Nein das kann nicht sein,

27,5 mal 3,2, nein, unmöglich“ Sein Knöchel brannte jetzt wie Feuer und er bemerkte die Tür am Ende des Ganges.

„Freut euch Gebieter! Wir sind gleich da!“ Rief Hassan fröhlich aus. „Möge der Lohn für euer reines Herz euch tausend Jahre glücklich machen und eure Jungfrauen euch die größten Wonnen des Himmelreichs bereiten“ Ali hörte Flüstern, Kichern, tausende Mädchenstimmen gleichzeitig als die Tür am Ende des Ganges

immer näherkam. „27,5 mal 3,2, Meter!, das kann nicht sein“ rief

er aus. „Oh doch, mein Gebieter ihr werdet begeistert sein“ Die Stimmen schwollen an und begannen „Ali, Ali“ zu rufen.

Er wünschte sich in das riesige Bett zurück, möchte sich umdrehen und in der Decke verkriechen.

 

Als er auf den Boden seines Zimmers krachte war er augenblicklich wach, die Verletzung aus dem Fitnesscenter am linken Fuß könnte

er noch deutlicher als gestern spüren. Trotzdem stand er auf und warf einen kurzen Blick auf sein Handy. Bekrem, der Bosnier aus

der Gruppe, hatte drei Links zu Disskusionsforen geschickt. Er

löschte sie verwirrt und ging in die Küche. „Ali, Ali!“

die Stimme seiner Mutter stockte.

„Du bist schon auf?“ Seine Mutter sah ihn verwundert an. „Klar,

ich gehe heute zum Arbeitsamt“. „Dann setz dich“ sagte sie zögerlich „es gibt Frühstück“