ROTE PLÄTZE – BLOOD AND SAND

KRACHMANN 2017

ROTE PLÄTZE – BLOOD AND SAND

von Günter Nowak

 

Keiner bittet um Gnade und keiner gibt Gnade: In einer, von rauchenden Trümmern und Leichen bedeckten, blutverschmierten Rundhalle, schlagen sie so lange aufeinander ein bis keiner mehr übrig ist, den man noch umbringen könnte. Wer dann noch lebt wankt zur Pforte, schnappt nach frischer Luft und taxiert die, die schon als angestellt auf der Rampe warten, um zu schlachten oder geschlachtet zu werden. Zum Schluss ist nur noch einer übrig und der schweigt – wie Gott, der zwar noch nicht tot ist, aber jedenfalls kein gnadenvoller – auch die letzten Köpfe fallen, und „daz ist der Nibelunge not …

 

Rund 1.500 Jahre nach diesem Gemetzel, das die Sage irgendwo im Pannonien des 4. oder 5. Jahrhunderts angesiedelt hat, beschwört Hermann Göring die Nibelungentreue, das sture kompromisslose Töten und Verrecken der Burgunder im brennenden Königssaal des Hunnenkönigs Etzel den Kampf- und Todeswillen der deutschen Soldaten im Kessel von Stalingrad. Er, der bis zuletzt die Versorgung der eingeschlossenen sechsten Armee aus der Luft versprochen hatte, erinnert nun, als der Untergang unabwendbar ist, morphingesteuert an „ein gewaltiges heroisches Lied …“, den Kampf der Nibelungen bis zum letzten Mann als Muster für das absehbare Ende der sechsten Armee.

 

Tatsächlich aber hatte das Sterben im Kessel von Stalingrad weniger mit dem selbstgewählten Untergang der Burgunder als mit einer Strategie aus dem 3. Jahrhunder v. Chr. zu tun. Da hatte nämlich der kathagische Feldherr Hannibal die Kesselschlacht erfunden und in der Schlacht am trasimenischen See vorgeführt, was effizientes Schlachten bedeuten kann. Sein überwiegend aus Sölndern bestehendes Heer tötete in nur drei Stunden ca. 20.000 Soldaten der römischen Legionen – mit einer Effizienz und Geschwindigkeit der Vernichtung, die erst fast 2000 Jahre später, mit den Mitteln moderner Waffentechnologien, an den festgefahrenen Fronten des ersten Weltkriegs an der Marne und Somme wieder erreicht werden sollte. Und eben auf Grund der Erfahrungen des 1. Weltkriegs, griffen Strategen wie Erich v. Mannstein auf die Strategie Hannibals zurück und so wurden, in mehr als 20 Kesselschlachten, während des zweiten Weltkriegs mittels schneller Einkreisung ganze Armeen vernichtet.

 

Das Prinzip der Einkesselung mit anschließender Auslöschung wurde aber nicht nur für militärische Ziele genutzt, sondern von der Wehrmacht auch ausgiebig auf seine Anwendbarkeit für die Vernichtung von Zivilisten getestet: 900 Tage lang dauerte die „Blockade“ von Leningrad und führte zum Tod von mehr als 1.000.000 Einwohnern, die angestrebte vollkommene Auslöschung des vormaligen St. Petersburg wurde aber trotzdem nicht erreicht.

 

Die Möglichkeit der ZERnichtung+ auch ziviler Ziele durch Einkesselung und Auslöschung verweist aber, parallel zu der militärischen Verbindung von Hannibal bis v. Mannstein, auf eine andere Tradition dieser Form der konzentrierten Vernichtung, quasi als ein quasi ziviles Pendent zur miliärischen Kesselschlacht. Nicht nur die Wehrmacht vor Leningrad, sondern auch die Todesperfektionisten der SS konnten dafür in der Polis der griechischen Antike und deren „Menschenbild“ einen historischen und philosophischen Anknüpfungspunkt finden.

 

Die zahlreichen Poleis, die Stadtstaaten der griechischen Antike, bieten nämlich nicht nur Vorbilder für so gut wie jede denkbare Staats- und Regierungsform von Demokratie bis Tyrannis, sondern sie sind auch Muster für jedwedes totalitäre System: Die griechische Polis stand für eine vollkommene und uneingeschränkte Identifikation der Vollbürger mit ihr selbst. Die Polis bedeutete für ihre Vollbürger – und nur für diese – einfach ALLES: Heimat, Religion, Sinn. Einwohner der Polis waren die männlichen Vollbürger, in Abstufung minderwertigere Menschen und Sklaven. Aristoteles unterschied zwischen Menschen als grundsätzlich vernunftbegabte Wesen und Sklaven, die nicht nur minderwertig, sondern eine reine Negation des Menschen seien und begründete dieses Menschenbild als natürliche Ordnung.

 

Kriege zwischen den Poleis wurden daher nicht von Menschen gegen Menschen, sondern von Polisbürgern gegen Nicht- oder Untermenschen geführt. Ein absoluter Sieg war daher auch dann noch nicht erreicht, wenn eine völlige Zerstörung eines dieser Stadtstaaten, inklusive Tötung aller kampffähigen männlichen Bürger und Versklavung aller Frauen und Kinder stattgefunden hatte. Erst dann, wenn die Böden gesalzen und alle Olivenbäume verbrannt waren und somit eine Wiederbesiedelung während mindestens eines Menschenalters nicht mehr möglich war, war ein Sieg vollkommen.

 

Himmler und seine Schergen konnten mit dem Konzept der Konzentrationslager problemlos auf das Menschen- bzw. Unter- oder Nichtmenschenbild eines Aristoteles und die Totalität des Vernichtungswillens der antiken Poleis zurückgreifen. Erst die ganz neue Forschung (Ana Rubio-Serrano, 2016) hat richtig erkannt, dass Auschwitz nichts anderes war als der Prototyp einer idealen Polis. Für die Theoretiker der SS bildete das Polis-System des KZ Auschwitz die Natur selbst ab, eine Natur in der der Stärkere über den Schwächeren herrschen und triumphieren muss, weil er sonst selbst gegen die Prinzipien der Polis, und damit gegen das Absolute an sich verstoßen würde.

 

Von Hannibal bis v. Manstein, von Theben 335 v. Chr. bis zu den industriellen Vernichtungszentren des 20. Jahrhunderts reicht daher das Konzept einer kreisförmigen, konzentrierten Auslöschung: präzise eingegrenzt, ausweglos, unerbittlich – so präsentieren sich über Jahrtausende die „Roten Plätze“.

 

Nur der Mensch – unter allen bekannten Lebewesen – ist fähig zur Abstraktion und Symbolik, zu Ästhetik und Kunst, zur Ikonographie; und daher ist nur der Mensch dazu fähig auch die Roten Plätze der Zernichtung zu formalisieren und in Kunst zu transponieren: Das lateinische Wort „(h)arena“ bedeutet Sand, das davon abgeleitete Arena steht für einen runden sandbestreuten Kampfplatz, teilweise mit ansteigenden Zuschauerreihen. Die Form einer Arena erweitert damit die antike Theaterarchitektur von einem Halbkreis zu einem 360 Grad-Erlebnis und erreicht damit die bereits von Aristoteles – auch dafür verantwortlich – geforderte Einheit von Zeit, Ort und Handlung eines Dramas bzw. einer Theateraufführung. Die Arena ist das absolute Theater, hier findet die totale Kunst statt. Essentielles Element der Arena ist – worauf schon ihr Name hinweist – der Sand, in Form eines ausreichend tiefen Sandbodens, der geeignet ist, auch Unmengen an Blut aufzunehmen und versickern zu lassen. Die Arena ist nicht nur ein Ort des Tötens oder Getötet werdens und der Erregung daran, sie ist auch ein Opferplatz. Die Fruchtbarkeit der Erde muss mit Blut erkauft werden, Leben und Tod bedingen einander. Blut und Sand verbinden sich zu einer untrennbaren Einheit des Werdens und Gehens. Blood and Sand war übrigens ein beliebter Cocktail der 1930er Jahre, eines der wenigen Mixgetränke, die mit Scotch Whisky zubereitet und mit rotem italienischen Wermut, Cherry Brandy und Orangensaft gemixt werden. Der Name des Cocktails stammt vom gleichnamigen Filmtitel aus dem Jahr 1922, in dem Rudolfo Valentino einen Torero gespielt hatte, doch dazu noch später.

 

Mit dem Bau des Colosseums in Rom und den dort stattfindenden Spielen wurde die bis heute gültige Ikone einer Arena geschaffen. Das Colosseum steht für zweierlei, es ist sowohl ein Abbild als auch eine neue Realität des Roten Platzes. Der sonst notorisch sparsame Vespasian ließ auf der Fläche der riesigen Palastanlage seines Vorgängers Nero, der Domus Aurea, ein Amphitheater von nie gekannten Dimensionen errichten und nach ca. 10-jähriger Bauzeit wurde das Colosseum von Vespasians Sohn Titus mit 100 Tage dauernden Spielen eingeweiht.

 

In den nächsten Jahrhunderten werden hier, vor täglich rund 50.000 Zuschauern, insgesamt vermutlich ca. 300.000 – 500.000 Gladiatoren sowie ungezählte Delinquenten Menschen auf jede nur erdenkliche Weise sterben, die Zahl der Tiere die parallel dazu getötet werden, ist schier unschätzbar, muss aber in die Millionen gehen. Der Botaniker Richard Deakin entdeckte noch im Jahr 1855 auf den Tribünen, in der Arena und den unterirdischen Gängen des Colosseums ca. 400 nicht regionale Pflanzenarten, deren Samen und Sporen wohl in und an den Körpern der Menschen und Tiere, die in der Arena geschlachtet wurden, importiert wurden und hier ein Biotop fanden. Wie furchtbar fruchtbar Boden und Dünger waren, zeigt sich an Hand der Tatsache, dass diese invasiven Arten, im Unterschied zu modernen Globalisierungsgewinnern, nur hier wachsen, sich aber nicht außerhalb des Colosseums verbreiten konnten.

 

So wie Hannibal am Trasimenersee einen – bis zu den Möglichkeiten der industrialisierten Massenvernichtung – nie wieder erreichten Geschwindigkeitsrekord des Tötens erreicht hatte, so gilt das Kolosseum bis heute als der kleinste Platz – nur 156 mal 188 Meter –, auf dem jemals so viele Menschen und Tiere getötet wurden: als eine wahre „Todesmaschine“ (DER SPIEGEL, 2009), in ihrer Effizienz ebenfalls ein Vorgriff auf spätere Vernichtungsindustrien.

 

Die Bedeutung des Colosseums wuchs mit den Jahrhunderten, schließlich war Rom selbst ohne Kolosseum schier undenkbar. Noch lange nach dem Ende des weströmischen Reichs resümierte gegen 700 n. Chr. der angelsächsische Mönch Beda über das Schicksal und Ende Roms: „Solange das Kolosseum steht, besteht auch Rom. Fällt das Kolosseum, fällt auch Rom. Und fällt Rom, so fällt auch die Welt.“

 

Rom ging unter, die Arena und ihr Theaer des Tötens und Sterbens aber überlebten: Zur selben Zeit als “Blood and Sand” ein Modegetränk war, legt Hemingway seinen Roman Fiesta zwischen Paris und Pamplona an. Es ist eine Geschichte über die “Verlorene Generation” (Gertrude Stein) nach dem ersten Weltkrieg und schon in Erwartung des kommenden. Zentrale Aussage des Romans ist der Generalbefund, der von einer gesunden (!) Prostituierten abgeben wird: “Alle sind krank. Ich auch.” Der Roman hat aber auch einen tragikomischen Charakter, insofern die “Krankheit” des Schriftstellers Jake Barnes seine, auf Grund einer Kriegsverletzung, zerstörten Sexualorgane sind, seine Geliebte Brett Ashley aber hypersexuell bis nymphoman veranlagt ist.

 

Nach dem ersten Teil mit Schauplatz im Paris der 20er Jahre, ist das Zentrum des zweiten Teils des Romans – inmitten eines trügerischen Friedens – die Arena in Pamplona, in der die Protagonisten des Romans sitzen, “wie in der ersten Reihe eines Kriegstheaters”. Hier ist das Töten ritualisiert und zwischendurch können die mächtigen Bullen durch zahme Ochsen noch beruhigt werden. Dem Stier – mythologisches Sinnbild für Zeugungskraft und Fruchtbarkeit – wird sein kastriertes Pendent zur Seite und gegenüber gestellt wie dem impotenten Romanhelden der Matador: Beide, Stier wie Matador, werden den Tod im Kampf erleiden, der Schriftsteller wie die Ochsen in Folge ihrer Impotenz aussterben: Alle sind krank, und es geht schon längst nicht mehr um das ob, sondern nur noch um das wann und wie des Sterbens.

 

Und zur selben Zeit, wenn in den Bars Europas immer noch „Blood and Sand“ gemischt und getrunken wird erscheint noch einmal der Stier, wenn in Guernica die Legion Condor erste Versuche anstellt, wie mit den Möglichkeiten moderner Vernichtungsindustrien in Zukunft auch Zivilbevölkerungen auszulöschen sein werden, als Testfall für die Flächenbombardements in Polen, aber auch als ein Vorgriff auf den Vernichtungsversuch an Leningrad.

 

Picasso wollte sein gleichnamiges Gemälde ursprünglich farbig gestalten, glich dann aber seine Palette dem Schwarz-Weiß der Fotos eines Robert Capra oder der Filmen Einsensteins an. Unser Rot verschwindet im Bombenhagel. Und auch der Stier – traditionelles Symbol der Stärke und des Lebens und von Picasso immer wieder gemalt – steht hier nicht mehr im Zentrum, es bleibt damit unentschieden, ob er hier ein Symbol für Opfer oder Täter ist, so oder so, sein Ende ist absehbar.

 

Heute wartet der Stier immitten seiner Arena auf seine Abschaffung, und ob er den schnellen und ehrenvollen Tod durch den Matador erleiden wird oder den langsamen durch Kastration und Erlöschen ist ihm nach all den Jahrhunderten wohl schon gleichgültig geworden. Was er noch fürchtet liegt mittlerweile außerhalb seiner vertrauten Arena, das dem Fremde, Drohende lauert hinter ihren Grenzen.

 

Und mehr als 2000 Jahre nach Hannibal wird schließlich Colonel Norman Schwartzkopf – ein bekennender Verehrer des legendären karthagischen Feldherrn – in der „Mutter aller Schlachten“ – mit Baggern die eingegrabenen Panzer der irakischen Armee mitsamt ihren Mannschaften lebendig begraben und mit dieser sandfarbenen Transformation das Rot gleich selbst mitbestatten. Mediendesigner machen ab dann die Roten Plätze endgültig farblos, zu bloßen war-games, Schlachten und Kriege, vermeintlich ohne Sterben und Tod. Und auch Arena und Stierkampf sind nun endgültig nur mehr eine Geschichte.

 

+ „ZERnichtung“ ist ein heute veralteter Ausdruck eine Kontamination der beiden Verben zerstören und vernichten, häufig gebraucht in hisorischen Standardwerken der griechischen Antike.

 

„Ich glaube, dass der Stierkampf heutzutage das kultivierteste Fest der Welt ist.“ (Federico Garcia Lorca)