VOLAPÜK

Ondrak Christian


Lutz saß, wie aufgrund seines abermaligen Zuspätkommens nicht anders zu erwarten, auf dem letzten freien Platz vor dem Lehrerpult. Großartig! Das hieß, er würde Aufmerksamkeit vortäuschen müssen, obwohl ihm jetzt schon der Bleistift vor Langeweile beinahe aus der Hand fiel, zumal ihm sein atemloses Erscheinen drei Minuten nach siebzehn Uhr ihm ohnehin schon einen griesgrämigem Blick des Sprachlehrers eingetragen. Der hatte, wie schon die Tage und Wochen zuvor offenbar großzügig auf so unnötige Dinge wie Körperpflege, oder Bekleidungswechsel verzichtet, was ihm das ganz spezielle Aroma verriet, dass ihm säuerlich in die Nase stach, als er Platz nahm. Das war auch der Grund, warum die ersten beiden Reihen immer erst von den später kommenden aufgefüllt wurden. Glücklicherweise für die weiter hinten Sitzenden hatte Professor Sleumer während des Vortrages keinen großen Bewegungsradius im Gegensatz zu der ihn umgebenden Wolke. Während Sleumer mit der Zusammenfassung der letzten Stunde begann, reichte ihm sein Sitznachbar die Anwesenheitsliste, die er Unterfertigte. Sleumers Stimme wurde bereits jetzt zu einem bloßen einschläfernden Hintergrundgemurmel, während Lutz die hellen Lichtkleckse, die die Sonne durch die Blätter eines vor dem Fenster stehenden Baumes auf den Tisch zeichnete, studierte. Die Tischplatte trug die Spuren von Generationen gelangweilter Schüler, eingemeißelt mit Zirkelspitzen und Stiften. Es fanden sich Herzen mit darin stehenden Buchstaben als Liebesschwüre, unbeholfene Ornamente aber auch ein kleiner Reim: „Gelangweilt ich die Bank hier drück´ doch zum Glück lern´ ich hier Volapük“ Als Glück hätte er es nicht betrachtet hier sitzen zu müssen. Wieso die Regierung beschlossen hatte Volapük zur Amtssprache zu machen würde er nie wirklich verstehen. Die offiziellen Gründe waren allen wohlbekannt. Es war die Rede von „kultureller Aufschwung“ „Vereinfachung durch nachvollziehbare, logische und nicht gewachsene Grammatik“ Vereinfachung von was auch immer. Er kam nicht mehr dazu über mögliche Gründe für diesen fragwürdigen Beschluss nachzusinnen. „Marvinsky! Lesen Sie bitte die ersten fünf Sätze des Textes auf Seite achtzehn!“ Gehorsam schlug Lutz das Buch auf und begann zu lesen.


Spätsommer. Ungefähr ein Jahr zuvor. Ein Schreiben an den Minister für Bildung und Kultur:

„Lieber Onkel Herwig! Ich wende mich heute vertrauensvoll an Dich, in der Hoffnung, dass ich mit Deiner Hilfe meine augenblicklichen Schwierigkeiten überbrücken werde. Wie Du weißt, ist mein Sprachinstitut ein wenig ins finanzielle Hintertreffen geraten, da es an Schülern mangelt. Der Zeitpunkt könnte aufgrund meiner geplanten Eheschließung mit Roberta nicht ungünstiger sein. Auch Ihre Eltern wünschen zuvor den Nachweis eines gewissen materiellen Rückhaltes, um Roberta auch den gewohnten Lebensstil den sie verdient gewährleisten zu können. Nun möchte ich Dich nicht um Geld bitten, sondern lediglich darum, ob Du nicht meinem Institut für lebende und tote Sprachen nicht irgendwie ein paar Schüler verschaffen könntest. Insbesondere die schöne Sprache Volapük läge mir in diesem Falle sehr am Herzen, da ich als einziger in diesem Bundesland diese Sprache unterrichte. Für Deine Unterstützung würde ich Dir eine Gewinnbeteiligung anbieten. Um Näheres zu erörtern können wir uns im Gasthaus zur Dorfschenke treffen. Dein ergebenster Johann


Nun, was Onkel Herwig und sein Neffe Johann im Gasthaus zur Dorfschenke besprochen und geplant haben, ist im Detail unbekannt. Bekannt ist lediglich, dass nur wenig später vollmundige Reden für die Einführung einer allgemeinen Amtssprache geschwungen wurden. Von „kulturellem Aufschwung“ war die Rede. Von „die Welt wird zu uns Aufblicken“ und auch „wir werden ein Denkmal dauerhafter als Erz setzen, denn das Wort und die Überlieferungen werden unsere Leistungen für das Volk bis in alle Ewigkeit forttragen.
Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle bleiben, dass Onkel Herwig einige Jahre später angeklagt und schließlich auch verurteilt wurde, als bekannt wurde, dass er seine Sammlerleidenschaft für Fabergé Eier durch Entwendung von Parteispenden finanzierte.
Neben einer mehrjährigen Haftstrafe wurde er dazu verurteilt, während seiner Haft einmal im Monat ein ins Volapük übersetzte Gedicht des für seine langweiligen Werke bekannten und gefürchteten Mundartdichters Paul Ernst Schreyvogels, auswendig zu lernen und seinen Mithäftlingen vorzutragen. Gerüchten zufolge wurde durch die Vorträge die größte Gefängnisrevolte, die das Land jemals gesehen hatte ausgelöste, im Verlauf derer der ehemalige Minister für Bildung und Kultur an den Seiten des 1384 Seiten umfasssendn Gedichtbandes verstarb, die ihm seine Zellengenossen in den Rachen stopften.