Großer Bahnhof?

Weimann Christian


Er nahm einen Schluck Bier und überlegte. Die Zusage seiner Eminenz, am morgigen Sonntag das heilige Sakrament der Firmung in seiner kleinen Landpfarrei zu spenden, erschien dem geistlichen Rat als  geradezu himmlische Krönung seiner – bescheidenen – irdischen Laufbahn. Solange er zurückdenken konnte – Zurückdenken war eine seiner besonderen, der heiligen Mutter Kirche entlehnten Stärken – musste er alle fünf Jahre betteln und bitten, um wenigstens einen kleinen Abt zum großen Fest in sein abgelegenes Gebirgstal zu lotsen; häufiger konnte er angesichts der nunmehr geringen Reproduktionsrate seiner lendenweichen Schäfchen den Heiligen Geist nicht mehr bemühen. Wie gut, dass er anlässlich seines fünfzigjährigen Priesterjubiläums gewagt hatte, dem Kardinal diese Bitte vorzutragen.

Es würde sein letztes großes Fest sein, dies war ihm bewusst. Die Krankheit verschlang seinen Körper von Innen und nagte an seinen Kräften; doch für dieses eine Mal sollten diese noch reichen.

Er nahm einen Schluck Bier und überlegte. Alles schien bestens vorbereitet. Musik und Gesang lagen in den bewährten Händen bzw. Kehlen von Markus und Rita, den Blumenschmuck würde Christa
noch heute in der Kirche anbringen, die Agape nach der Messe war Leopold und Slavica anvertraut. Alle waren sie Stützen seiner
kleinen Gemeinde, stets die Ersten, wenn es galt Aufgaben zu erledigen, Ämter samt damit verbundenem Ansehen zu übernehmen oder die heilige Kommunion zu empfangen.

Allerdings – er nahm einen Schluck Bier und überlegte – schienen ihm auch diese Säulen christlicher Lebensweise etwas unvollkommen. Markus und Rita hatten offensichtlich ein Verhältnis miteinander – Ritas Ehemann hatte ihn deshalb schon gebeten, die beiden nicht mehr zu gemeinsamen Aufgaben zusammenzuspannen. Es betrübte ihn, doch dieser Wunsch musste warten, galt es doch, dem Kardinal einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte.

Christa wiederum war beleidigt, dass nicht sie, sondern Hans, Star der örtlichen Theatergruppe, die Lesung lesen sollte; gewiss, Hans war bekennender Atheist und gelegentlicher Pfaffenfresser, aber die Gelegenheit eines Auftrittes vor versammelter Gemeinde samt
Bürgermeister, Postenkommandant, Oberlehrer und einer Vielzahl unausgelasteter Frauen wollte auch dieser sich nicht entgehen lassen.
Hans verfügte über eine wunderbare, klangvolle Stimme, während Christa krächzte und stotterte. Schlimm genug, dass er ihr das laute Mitbeten in Hörweite des Kardinals nicht verbieten konnte.

Er nahm einen Schluck Bier und überlegte; Christa könnte eine Fürbitte vortragen, eine kurze, das müsste reichen. Die Agape sollte ebenso klaglos funktionieren, Leopold und Slavica hatten Köstlichkeiten aus ihrer Landwirtschaft in Hülle und Fülle anzubieten. Schade, dass Leopold seine Frau regelmäßig im Suff grün und blau schlug, aber er war ein Rückhalt im Pfarrgemeinderat für ihn, den er weder entbehren noch entehren wollte. Weitere Sorgen konnte er nicht gebrauchen, wenigstens durfte er sich – dank Leopold – darauf verlassen, dass
Slavica spuren würde. Er würde mit Leopold reden, aber später, denn jetzt galt es, dem Kardinal einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte.

Er nahm einen Schluck Bier und überlegte. Mit dem Bürgermeister musste er noch die gemeinsame Begrüßung absprechen. Gleich machte er sich auf den Weg ins Gemeindeamt, so schnell ihn seine müden, morschen Beine trugen. Als er bei der Kirche vorbeikam, warf er einen Blick hinein – eigentlich sollte der Chor mit Markus und Rita noch proben, doch schien keiner hier zu sein. Er öffnete vorsichtig die  Sakristei und stellte mit Bedauern fest, dass Markus Rita auf den Tisch gelegt hatte und gerade ordentlich durchzog. Vorsichtig schloss er die Türe – Gott sei Dank war er unbemerkt geblieben; er konnte dieses Problem jetzt nicht lösen, schließlich galt es, dem Kardinal
einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte.

Er betrat das Wirtshaus neben dem Gemeindeamt, nahm einen Schluck Bier und überlegte. Wenn er sich auf die Ärzte verlassen konnte, musste er jederzeit mit der finalen Attacke rechnen, die
seinem irdischen Dasein ein Ende bereiten sollte. Dies betrübte ihn nicht, konnte er doch nach so langen Diensten in Treue zu Gott mit dessen Gnade fest rechnen. Jedenfalls wollte er die lästige Affäre zwischen Markus und Rita seinem Nachfolger überlassen, sollte
dieser doch die beiden zu ihren Ehepartnern bekehren und damit die musikalische Qualität bei Gottesdiensten gefährden. Vorerst war der Gesang für morgen wichtig - schließlich galt es, dem Kardinal einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte.

Zurück im Pfarrhof nahm er einen Schluck Bier und überlegte. Mit dem Bürgermeister war alles rasch besprochen gewesen. Dieser
würde den Kardinal als erster begrüßen dürfen und versprach für dieses in Wahlkampfzeiten willkommene Privileg, in seiner Ansprache die besondere Schönheit der umliegenden Berge nicht auf eigenes
politisches Wirken, sondern Gottes schöpferische Allmacht zurückzuführen. Er mochte solchen Handel nicht, aber schließlich galt es, dem Kardinal einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte. Mehr Sorgen bereiteten ihm Slavicas Schmerzensschreie, die aus dem geschlossenen Haus drangen, als er am Heimweg daran vorbeigekommen war. Offensichtlich hatte Leopold wieder richtig zugelangt; traurig, doch hoffentlich keine Gefährdung der morgigen Agape. Wenigstens schien Christa akzeptiert zu haben, dass Theaterstar Hans die Lesung lesen sollte – er hatte die beiden vergnügt im Ort plaudern gesehen.

Er nahm einen Schluck Bier, sprach sein Abendgebet und ging ebenso betrunken wie zuversichtlich zu Bett. Ein prachtvoller Tag mit bestem Wetter stand bevor, Gott würde morgen an seiner Seite sein, und dies war gut, galt es doch, dem Kardinal einen Empfang zu bereiten, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte. Lächelnd stieß er auf und schlief ein.

Vierundzwanzig Stunden später nahm er einen Schluck Bier und überlegte, warum alles so schief gegangen war. Zuerst hatte er Christas Blumenschmuck entdeckt – ausschließlich rote Nelken! Dieses
Sozialistenschw…., - diese verirrte Tochter des Herrn war im Zorn über ihre Ausbootung als Lektorin entschieden zu weit gegangen. Der Kardinal war sichtlich irritiert, was sich auch nicht durch die Ansprache des nach einer langen vortäglichen Sitzung der Heimatpartei schwer mit Restfettn gesegneten Bürgermeisters besserte. Dessen Hauptthema, Jesus in heutiger Zeit wäre ein den Bürgermeister unterstützendes Mitglied der Heimatpartei, fand jedenfalls hinsichtlich der Positionierung in der Parteihierarchie keine bischöfliche Zu-stimmung. Die musikalische Gestaltung fand nicht statt, da offenbar noch jemand gestern in der Sakristei die koitierenden Rita und Markus nicht nur beobachtet, sondern auch heimlich fotografiert hatte. Die flugs hievon angefertigten Plakate, die in bester Bildqualität mit der Aufschrift „Finden auch Sie Ihre Erfüllung im fröhlichen Pfarrleben – die Kirche braucht engagierte Laien“ im ganzen Ort bereits heute morgen angebracht waren, verleiteten Rita und Markus dazu, ihre Häuser von innen zu versperren und dem aufgrund hervor-
ragend ländlich-musikalischer Darbietung erhofften öffentlichen Erfolg demütig zu entsagen. Während Markus seine Gemahlin noch – vorerst – unter Hinweis auf seine zuhause oft bewiesene mangelnde sexuelle Leistungsfähigkeit von einer Intrige böser Neidgenossen mit ekelhaften Fälschungen überzeugen konnte, scheiterte Ritas identes Bemühen an der Tatsache, dass Christa selbst die Fotos angefertigt und Ritas Ehemann informiert hatte.
Trotzdem hatte er mangels Alternativen von Christa nicht nur krächzendes Kantorieren erbitten müssen, zu allem Überdruss verblieb – da der klangvolle Hans aus der Theatergruppe gestern von Christa zu Essen geladen gewesen, sohin nun mit Abführmittel vollgefüllt und ans Haus gefesselt war – keine andere Wahl, als die Übeltäterin auch noch die Worte der Lesung stottern zu lassen. Seine Hoffnung, der Tag würde durch das prachtvolle Wetter und die der Heiligen Firmungsmesse nachfolgende Agape im Freien gerettet, zerschlug sich, als der Kardinal das von Slavica als Rache für all die erlittenen Qualen kunstvoll vergiftete, ihrem Peiniger und Ehemann Leopold zugedachte Brötchen erwischte und daran ebenso rasch wie elendiglich krepierte.
Die den vergeblichen Reanimationsbemühungen des Dorfarztes folgenden ersten polizeilichen Befragungen wurden durch Sirene und nachfolgendes Ausrücken der Feuerwehr unterbrochen, der es immerhin gelang, Reste der Grundmauern des zwischenzeitig von Ritas wütendem Ehemann abgefackelten Pfarrhofes zu retten. Immerhin gelang es dem Brandstifter, noch während er – mit Slavica –verhaftet wurde, Markus’ Ehefrau von der Echtheit der Bilder zu überzeugen, worauf sich diese ebenso prompt wie erfolgreich durch Sprung in den nahen Fluss das Leben nahm.

So saß er nun in der von Christa dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Unterkunft, nahm einen Schluck Bier und überlegte. Zwei Tote, zwei Verhaftungen, zwei kaputte Ehen, ein abgebrannter Pfarrhof – er hatte doch nur dem Kardinal einen Empfang bereiten wollen, wie er ihn für sich selbst im Himmelreich erhoffte. Plötzlich wurde er  - nachdem er einen Schluck Bier genommen hatte – tieftraurig. Sollte der heutige Tag tatsächlich Sinnbild sein für jenen Empfang, den er tatsächlich im jenseits zu erwarten hatte? Der Tod hatte schon mehrfach bei ihm vorgefühlt, auch jetzt schien sein Herz im Würgegriff zu erstarren. Betrübt ließ er sein Leben Revue passieren – und seine Laune besserte sich, während das Herz schmerzte und immer langsamer schlug. Er hatte stets Gott gedient, der Kirche gehorcht, den Zölibat eingehalten und regelmäßig gebeichtet. Er hatte die ewige Seligkeit redlich verdient, Gott in seiner Güte und Gnade würde zu seinem treuen Gefolgsmann stehen – diese Erkenntnis machte ihn vergnügt. Die Aussicht, anstelle des nunmehrigen Chaos in
seiner Pfarre bald das Himmelreich zu sehen, nahm ihm jede Lust, gegen das Ein-schlafen seines Herzens anzukämpfen. Er nahm einen Schluck Bier und legte sich zu Bett. Langsam schwand sein Bewusstsein und das Sterben begann. Er hatte keine Angst, sondern war von friedlicher Neugier erfüllt, welcher Empfang denn nun ihm bereitet werde. Lächelnd und in Frieden schied er dahin, und danach geschah nichts.