Frau ohne Eigenschaften - Vienna Psycho

Günter Nowak


Das ist eine wahre Geschichte. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen oder Geschehnissen ist weder zufällig noch unbeabsichtigt, nur der Rest ist zusammengeklaut.

Ich war dann doch etwas überrascht als sie meinen Hodensack an der Tischplatte antuckerte. Glauben Sie nicht, dass Sie in einer solchen Situation überlegen, wie Sie da hinein geraten sind oder was Ihre Mutter denken wird, wenn Sie davon in der Kronen Zeitung … Ich jedenfalls retardierte vollkommen: Hilflos fiel ich zurück in kindliche Albträume und das Einzige woran ich noch denken konnte war das Märchen „Das Geisterschiff“, in dem der Schiffsmaat mit einem Nagel durch die Stirn am Großmast fixiert ist und nur bei Vollmondnächten … Dann musste ich mich übergeben und es wurde dunkel um mich.

Wie das alles begann? Ich erspare Ihnen all die sozialpsychologischenAuslassungen inkl. meiner Familiengeschichte und mache es kurz. Kennen Sie den aktuellen Stundensatz für AkademikerInnen, den der Fonds für Wissenschaftsförderung anerkennt? Das Maß war für mich voll als ich für die Reparatur meiner Kombitherme – selbstverständlich an einem Sonntagabend – den Gegenwert von drei Arbeitstagen, die ich in Rechnung stellen könnte, verrechnet bekam. Ende einer Karriere als Forscher und Wissenschafter, Anfang meines neuen Wegs als Privatdetektiv. Als professioneller Berufsforscher wusste ich natürlich worauf es ankam: Man muss nur über ausreichend Kontakte verfügen, darf nicht allzu kompetent wirken, aber vor allem ist es wichtig einschlägige Klischees zu erfüllen und so investierte ich zunächst in dunkle Kleidung, dunkle Sonnenbrillen und sonstige Accessoires.
Ich absolvierte eine der üblichen Schnellsiedeausbildungen bei einem ehemaligen Mossad-Agenten und richtete ein Büro – standesgemäß – gegenüber der Rossauerkaserne ein. Auf meiner Karte führe ich nun „ G. F. Nowak – Privateye“. Meine ersten Jobs erhielt ich von einem Studienkollegen, der als ehemaliger Wirtschaftspolizist seit vielen Jahren im Auftrag des Innenresorts ein Fachblatt unter der Auflage herausgibt, Nichts über das zu schreiben, was er wirklich weiß. Da bleibt manchmal etwas an nützlichem und nutzbarem Insiderwissen übrig und von meinem letzten Job haben vermutlich auch Sie gehört: Ich und meine Jungs zeichnen verantwortlich für den dubiosen amerikanisch-russischen Agentenaustausch am Flughafen Schwechat vom Sommer 2010. Alle Welt rätselte damals herum, warum dieser Austausch ausgerechnet am Wiener Flughafen stattfand. Nun: Zur Zeit des ernsthaften kalten Kriegs wäre wohl kein Agent auf die Idee eines tete-a-tete im Hotel Orient gekommen und wenn, dann wäre ihm bzw. ihr wohl klar gewesen, dass immer in irgend einem Nebenzimmer irgendein FP-Nationalrat z.B. im Auftrag eines BZÖ-nahen Sonnenstudiobetreibers von einem politisch umgedrehten AUF-Personalvertreter abgehört wird. Sicherheitshalber verkabelt man dann noch das eine oder andere benachbarte Zimmer und wundert sich in Folge über das gestöhnte Fremdsprachengewirr, aber zu diesem Behufe gibt es in Österreich eine ausreichende Zahl an Geheimdiensten und ja, die haben tatsächlich sprachenkundige Mitarbeiter. Eines fügte sich zum Anderen bzw. ins Andere und schließlich konnte ich einerseits diversen Geheimdiensten weitgehendes Stillschweigen über die wahren Hintergründe dieser amerikanisch-russischen Freundschaft und andererseits der österreichischen Fremdenverkehrswerbung weltweit hohe Einschaltquoten mit schönen Einstellungen aus Wien diskret vermitteln. Bei der weltgrößten Tourismusfachmesse, die alljährlich im November in Chicago stattfindet, wird Wien heuer übrigens sowohl mit einem „Dritte Mann-“ als auch mit einem „Boudoir-Sujet“ werben, aber das führt eigentlich schon zu weit und darüber weiß ich ja auch nichts. Meine Bezahlung erfolgt bei diesem und ähnlichen Jobs dafür, dass ich nichts sage und ist ebenso diskret wie ich selbst – die Bezahlung nämlich. Mein Team besteht aus drei Mitarbeitern, Pit und Pete, beides alte Freunde, deren pure physische Erscheinung Respekt einflößt und Michele, meinem überaus weiblichem Empfang.
Ich war mehr als überrascht als Michele, die natürlich jedes Klischee noch übererfüllt und mit ihren Augen als Asylsuchende sogar bei Maria Fekter einen Job als Abwaschkraft in der Kantine erhalten würde – bedeutungsvoll auf meine Bürotür deutete und „Kundschaft wartet“ hauchte. Während ich bei der Auswahl meines männlichen Personals massive physische Präsenz bevorzuge, folge ich bei meinem weiblichen Personal dem bewährten Recruitingprinzip des legendären amerikanischen Senators Charly Wilson: „Die Titten müssen sie sich selbst besorgen, Tippen kann ich ihnen beibringen.“ Nicht zuletzt um mich angesichts der unerwarteten Kundschaft zu fassen, aber auch weil die Tränenspuren um Micheles Augen unübersehbar waren, brummte ich ein anteilnehmendes „Wieder mal Pech gehabt?“. Zustimmend nickend und verzweifelt resigniert ließ dieses sehenswerte Produkt plastochirurgischen Handwerks seinen Kopf sinken und ich dachte an die verheerenden Auswirkungen eines ungünstig platzierten Intimpiercings auf das Liebesleben meiner Empfangsdame bzw. auf die körperliche Unversehrtheit ihres jeweiligen Objekts der Begierde. Mit einem grauenerregenden Nachbild vor meinem geistigen Auge, bei dem grobes Glasschleifpapier Nr. 8 eine zentrale Rolle spielte, betrat ich mein Büro.
Nun ist es so, dass Klienten von mir nicht erwartet werden, da mein Geschäftsmodell eher auf einer Nichtexistenz von konkreten Klienten und einem virtuellen Geldfluss, bei dem eine Geschäftsadresse in Bratislava und Konten in Gibraltar und Montenegro von Bedeutung sind, basiert – ein Steuerberater, der sein Geld auch wert ist, wird Ihnen dazu einige Erklärungen liefern können. Ich weiß jedenfalls nicht wen oder was ich erwartete, aber da saß sie – ein personifiziertes Vexierbild, permanent changierend zwischen Faye Dunaway und Lauren Bacal – die Beine übereinandergeschlagen und genau unter meinem Jack Nicholson-Poster. Alles an ihr war nicht nur teuer, sondern exquisit. Sie hatte eurasische Züge und sprach, wie sich zeigen sollte, mit dem Hauch eines Akzents, der, ohne ihn eindeutig zuordnen zu können, auf südliche Regionen der vormaligen Sowjetunion verwies.
Sie legte den Raymond Chandler-Band, in dem sie offensichtlich ge-blättert hatte – meine Bücherwand ist gefüllt mit einschlägiger Sachliteratur aus der Schnittmenge zwischen Kriminalrecht und Krimi-literatur auf meinen Schreibtisch und stellte sich als Eva Mühlweg vor. Sie deutete meine überrascht hochgezogene rechte Augenbraue richtig und sagte nur: „… ja, damit vermuten Sie richtig!“ Vor mir saß offensichtlich die Ehefrau des amtsführenden Wiener Wasserwirtschaftsdirektors. Während dieser extrem verkürzten Vorstellungsrunde gewährte sie mir nicht nur Ihre Hand, sondern auch ausreichend tiefe Einblicke, die ich als bekennender Dessousfetischist sofort als von Agent Provocateur stammend identifizierte. Zu meiner momentanen Beruhigung warf ich einen langen Blick auf Jack N., setzte mich und stellte, nachdem ich mich scheinbar nachdenklich an der Nase gekratzt hatte, die unvermeidliche Frage nach ihrem Anliegen: Mit tiefem Alt antwortete sie mir, dass ihr Mann sie betrüge – das hatte ich fast erwartet – und zwar mit ihrem eigenen Liebhaber – das wiederum hatte ich so nicht erwartet. Sie wünsche – soweit möglich – den Liebhaber in voller Ausschließlichkeit zurück und ihren Mann – und das unbedingt – für alles und Alles bezahlen zu lassen. Nachdem ich Sie gefragt hatte, ob Sie das wirklich wolle und Sie sich der Konsequenzen bewusst sei, versprach ich mich der Sache anzunehmen, wir tauschten Kontaktdaten aus und einigten uns über Vorgehensweise und Honorar. Danach fragte ich sie nach Namen und allfälligen Fotos ihres Liebhabers und erlebte dabei die nächste Überraschung.
Wir verabschiedeten uns und ich versprach sie in den nächsten Tagen zu kontaktieren. Sie verließ mein Büro und ich wartete in der zurückbleibenden Wolke Dior zwei Minuten bevor ich ihr in den Vorraum folgte. Sie hatte auch dort ihre Aura sowie staunende Sprachlosigkeit hinterlassen. Diese betraf neben Michele insbesondere meine in der Zwischenzeit eingetroffenen Jungs Pit und Pete, die ich bei einem Espresso kurz, in ebensolcher Weise ins Bild setzte.
Wir arrangierten die notwendige Aufgabenteilung. Ich würde mich dem Ehemann widmen, während die Jungs sich unterdessen um das übliche Hintergrundmaterial kümmern sollten.
Ich verließ mein Büro und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht dieses späten Augustvormittags an. Im Vorbeigehen registrierte ich die Schlagzeile der Kronenzeitung, die die aktuelle Wasserknappheit, die in der Stadt nach Wochen der Sommerhitze herrschte, mit dem Titel „EU stiehlt nun auch unser weißes Gold“ thematisierte. Frau Mühlweg hatte mich darüber informiert, dass ich ihren Mann am ehesten beim Mittagessen im Kaffee Ministerium finden würde, wohin ich mich mit Fotoausrüstung, Fernglas und ausreichend Lesestoff auf den Weg machte. Dort angekommen nahm ich auf einer der Parkbänke gegenüber des Radetzkydenkmals Platz, rückte meine Sonnenbrille zurecht und wartete. Fast auf die Minute genau um 13 Uhr 30 verließ Dipl.Ing. Olli Mühlweg, amtsführender Stadtrat und Wasserwirtschaftsexperte der Stadt Wien, das Lokal und machte sich auf den Weg Richtung Donaukanal. Dort angekommen, setzte er sich an der Einmündung von Wienfluss in den Donaukanal nieder, während ich einen gutplatzierten Liegestuhl in Hermanns Strandbar belegte. Die nächsten Stunden verbrachte Mühlweg mit nichts anderem als auf das dürftig dahintröpfelnde Wasser zu starren und hin und wieder ein paar Notizen in seinen Blackberry zu tippen. Als er am späten Nachmittag aufbrach war ich von der Hitze ausgiebig derangiert, kam aber während der folgenden Stunden nicht umhin Mühlweg auf einer Route quer durch Wien zu folgen, die man als tour de force der Wiener Wasserversorgung zusammenfassen könnte. Überall kontrollierte er die Wasserstände, machte seine Notizen und fuhr weiter. Da er die Wege bisher entweder zu Fuß oder mit Taxi zurückgelegt hatte, konnte ich ihm bis gegen 23 Uhr folgen. Danach fuhr er zu seiner Wohnadresse, die sich als riesige Villa in Bestlage entpuppte, aus der aber keine Spur von Licht oder Mitbe-wohnern drang.
Während der Nacht übernahm Pete die Überwachung, ich fuhr nach Hause, duschte und träumte wirr in dieser heißen Sommernacht. Schweißüberströmt erwachte ich vom penetranten Ton meines Handys. Pete hatte mir eine Adresse und ein „Komm sofort“ gesendet und ich fuhr nach Absolvierung der erforderlichen Minimaltoilette zu der angegebenen Adresse. Dort angekommen, sah ich Pete, gezeichnet von der nächtlichen Beobachtung und dieser wies, als er mich kommen sah, um die Ecke: Sein Hinweis „sie sind da drinnen“ und mein Erb-leichen, als ich das Lokal erkannte erfolgten nahezu zeitgleich. Pete sah mich an und fragte mit anteilnehmendem Tonfall: „Du warst schon mal da?“ Ich versuchte meine aufkeimende Übelkeit bei der Erinnerung zu unterdrücken und konnte nur antworten: „Ich geh nie wieder ins Chinatown“. Aber ich konnte nicht anders: Ich unterdrückte meinen Ekel, betrat das Lokal, erkannte zwei Männer, die eng nebeneinander saßen und setzte mich an einen Tisch in ihrem Rücken. Nachdem ich ein Mineral in einer verschlossenen Flasche bestellt hatte, konzentrierte ich mich auf mein Ziel. Die beiden Männer fühlten sich offensichtlich an diesem Ort unbeobachtet. Bereits mein erster Eindruck war weniger der von Hingabe, Liebe oder Leidenschaft, sondern von Streit und gegenseitiger Abscheu. Beide Männer saßen vorgebeugt und starrten auf Papiere, die vor ihnen am Tisch lagen, wobei Mühlweg immer wieder wild gestikulierte. Ich aktivierte das eingebaute Richtmikrophon im linken Bügel meiner Brille. Da dieses nur akustische Aufzeichnungen ermöglichte, konzentrierte ich mich auf den optischen Eindruck. Da saßen diese beiden vollkommen ungleichen Männer, die miteinander eine Frau betrügen sollten: Der graue, kleine und überaus unansehnliche Stadtbeamte und der hochgewachsene, nach wie vor offensichtlich durchtrainierte vormalige Wirtschaftsminister der Republik, der auch Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Leben eine Aura von Reichtum und Marathoneignung verbreitete. Wenn das ein tete-a-tete eines diskreten, weil prominenten, schwulen Paares sein sollte, hing der Haussegen eindeutig schief. Aber ich zweifelte bereits an meinem Auftrag. Nach nur wenigen Minuten stand Mühlweg auf, ich verstand Brocken wie „damit nicht durchkommen“ und „dafür bezahlen“, dann zahlte er an der Theke und verließ das Lokal. Exminister Harald Limestein blieb scheinbar ungerührt sitzen und lehnte sich entspannt zurück.
Minuten später verließ auch ich das Chinatown. Wir vereinbarten, dass Pete Limestein weiter beschatten sollte, während mich Pit im Büro über die Ergebnisse seiner Recherchen informieren würde. Eine wieder einmal tränenumflorte Michele sorgte dort für Kaffee. Pit machte es kurz: Mühlweg sei alles Denkbare, aber sicher nicht verheiratet und wahrscheinlich auch nicht homosexuell. Limestein mit Ehefrau, zahllosen Kindern und einer stadtbekannten Vorliebe für junge Mädchen ziemlich sicher auch nicht. Pit breitete dann umfangreiche Unterlagen über Mühlweg und Limestein aus und nur die vorgeblich gehörnte Ehefrau und / oder Geliebte blieb völlig im Dunkeln. Es schien, als hätte es sie nie gegeben.
Ich verband meinen Recorder mit einem Notebook und die Brocken, die auf der Aufzeichnung verständlich waren, veränderten alles. Sie passten perfekt zu älterem Bildmaterial, das den vormaligen Wirtschaftsminister in obskurerer kasachischer Tracht inmitten trockener asiatischer Steppe zeigte sowie Wirtschaftsberichte über sein Unternehmen, mit dem er ein Vermögen im Pharmabereich verdiente: Er produzierte im großen Stil Generika für Placebos. In einem der wenigen aktuellen Zeitungsberichte, die über Limestein verfügbar waren, sah man ihn bei einem Wirtschaftsevent der austriakisch- zentral-asiatischen Freundschaftsgesellschaft, das stimmungsvoll in den Gewölben des unterirdisch geführten Teils des Wienflusses in Szene gesetzt worden war. Limestein, der auf einem Foto offensichtlich gerade Dominic Heinzl ausweichen wollte, erinnerte darauf, im flackernden Kerzenlicht, ein wenig an den jungen Orson Wells.
Am nächsten Tag war Mühlweg tot, man fand ihn – offensichtlich beim Entenfüttern einem plötzlichem Herzinfarkt erlegen – mit dem Gesicht nach unten im Teich des Wiener Stadtparks treibend. Die vorgebliche Eva Mühlweg war und blieb, außer in meiner Erinnerung und meiner Phantasie, verschwunden.
Vier Tage später fand am Wr. Zentralfriedhof, Tor 2, das Begräbnis für den verdienten Wiener Wasserwirtschaftsdirektor statt. Die Autopsie hatte tatsächlich Herzinfarkt und Tod durch Ertrinken ergeben, was in einigen der durchaus pietätvollen Reden zu Auslassungen über die zentrale Bedeutung des Wassers im Leben und Sterben Mühlwegs führte. Ich hatte mir bereits zwei Stunden vor der Beisetzung einen Sitzplatz auf einer Parkbank mit guter Sicht auf die Zeremonie gesichert und verbrachte die Wartezeit in Zeitungen und Zeitschriften blätternd. Ich las gerade den Artikel über die Auswirkungen des jüngsten EUGH-Urteils, das als „ähnlich bahnbrechend für das österreichische Sozialversicherungswesen wie ehemals das Bosman-Urteil für den Profi-Sport“ eingeschätzt wurde: Dieses Urteil, dass nach einer erfolgten Geschlechtsumwandlung eines transsexuellen Lehrers diesem nun auch Anspruch auf einen früheren Ruhestand zusprach, weil er rein rechtlich nun als Frau zu behandeln sei, füllte seit Tagen die österreichischen Medien. Die Bandbreite der öffentlichen Diskussion reichte von der üblichen Häme, bis hin zur Anerkennung eines entscheidenden Schrittes auf dem Weg zu einem „absoluten Gender-Bewusstseins für Europa“ (© Der Standard). Kardinal Schönborn hatte in seinem Leitartikel in der Kronenzeitung vor einem „impliziten Zwang zur Geschlechtsumwandlung gewarnt“ und forderte zum Gebet auf. Das Profil machte zu diesem Thema mit der Headline „Frau ohne Eigenschaften“ die aktuelle Ausgabe auf und prägte damit einen gängigen Begriff, der schließlich sogar Eingang in das österreichische Sozialversicherungsrecht finden sollte. Ich las gerade den dazu passenden Artikel – natürlich von Angelika Hager, die es auch bei diesem Thema souverän schaffte, eine journalistische Volte zu Sex-and-the-City zu schlagen – als das Totenglöckchen ertönte und die Trauergemeinschaft eingebogen kam. Mühlweg hinterließ offensichtlich weder Frau noch Kinder, die trotzdem umfassende Trauergemeinschaft schien sich primär aus seinem beruflichen Umfeld zusammenzusetzen. Ich zählte immerhin 128 Trauergäste und als der letzte am Grab vorbeigezogen war, sah ich sie. Getrennt durch eine nahezu perfekte Symmetrieachse von Trauergästen saß sie in einer Entfernung von rund 50 Metern mir gegenüber. Selbst auf diese Distanz war die unvergleichliche Eleganz eines schwarzen Armanikleides unverkennbar. Sie rührte sich nicht und blickte mich an, ich rührte mich nicht und starrte sie an. Sie gewann natürlich. Nachdem ich den Weg zu ihr zurückgelegt hatte, brachte ich nur eine Frage zustande: „WER bist Du?“ Sie schaute mir mehrere Sekunden direkt in die Augen, kam offensichtlich zu einem Entschluss und reichte mir eine Karte mit den Worten: „Komm um 1 Uhr Nachts und du wirst alles verstehen. Und versuche nicht, mir jetzt zu folgen, das führt zu nichts.“ Dann stand sie auf und ging.
Ich verbrachte den Rest des Tages sprachlos und damit, meinen aktuellen Wissensstand niederzuschreiben: Es ging dabei um die Verschiebung österreichischen Wassers nach Kasachstan und Gegenleistungen in Form der Produktion und Lieferung gefälschter generischer Placebos und Globuli im große Stil. Der Vertrieb erfolgte über das Netzwerk Limesteins, Mühlweg war für die Wassermanipulationen verantwortlich. Man kannte sich über Verbindungen. Das alles war aber für Limestein nur ein – wenn auch schon milliardenschwerer – Probelauf gewesen. Unter dem Codenamen VERDI sollte über die NABUCCO-Pipeline niemals Gas in den Westen, sondern immer nur Wasser nach Osten geleitet werden. Weitere Projekte lauteten auf OTHELLO und AIDA, dabei handelte es sich um Mädchenhandel. Daran zerbrach die langjährige Partnerschaft zwischen Mühlweg und Limestein. Ich speicherte das Dokument und versah es mit auf den nächsten Tag datierten e-mail-Sendeterminen an Presse, Rechtsanwälte und Polizei.
Die Adresse, die sie mir gegeben hatte, lag mitten in den Industrie-ruinen Erdbergs. Als ich zehn Minuten vor eins dort anlangte, stand sie tatsächlich schattengleich in einem der Fabrikseingänge. Während ihr Gesicht vollkommen in Dunkelheit gehüllt war, beleuchtete grünliches Neonlicht ihren Körper bis zum Hals. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich wortlos in einen Innenhof, dann schloss sie ein Gebäude auf und verband mir die Augen. Mir wurde schwindlig als sie mich weiterführte und ich glaubte die Worte „Ich wusste, dass Du nicht anders kannst“ zu hören, vielleicht phantasierte ich zu diesem Zeitpunkt aber bereits. Ich überließ mich ihr vollkommen. Als sie mir die schließlich Augenbinde abnahm saß ich nackt auf einem Möbel, das sich wie ein Tisch anfühlte und konnte in völliger Finsternis nichts außer ihrer absoluten Nähe bestehend aus Atem, Körperwärme und Geruch wahrnehmen. Der Schmerz war unvorstellbar und kam wie aus dem Nichts.
Als ich wieder zu mir kam stellte ich schnell fest, dass ich mich in einer Position befand, die es mir nur ermöglichte meine linke Hand bewegen zu können und selbst kleinste Versuche mich in einer andere Position zu bringen verursachten mir ungeheure Schmerzen. Es war finster, vollkommen still und ich war offensichtlich alleine. Ich konnte mich an alles erinnern und wahrscheinlich schrie und weinte ich. Ich verlor bald das Zeitgefühl, aber irgendwann bemerkte ich, dass die Finsternis nicht so vollständig war, wie mir ursprünglich schien. Zuerst konnte ich meine unmittelbare Umgebung erkennen und ich sah, dass verschiedene Gegenstände um mich gruppiert auf dem Tisch lagen. Dabei identifizierte ich auch ein Messer in der Nähe meiner linken Hand; unmittelbar vor meinem Gesicht lag inmitten anderer Gegenstände das aktuelle Profil. Die Überschrift brannte sich mir ein. Nahezu zeitgleich hatten sich meine Augen ausreichend an die Dunkelheit angepasst um mir auch einen Eindruck meiner Umgebung zu geben. Zunächst konnte ich nur ein Schemen ausmachen, dann etwas das wie eine Silhouette wirkte. Meine Sinne kehrten zurück, es roch nach Krankheit, Wahnsinn und Tod. Ich erkannte in einem Spiegel meinen kahlen Kopf und meine weit aufgerissenen Augen. Dann sah ich die anderen. In meinem Kopf tanzte Norman Bates mit der Spinnenfrau und Hieronymus Bosch schuf Körperwelten. Das Grauen! Das Messer!

SCHNITT

Eröffnung der Sonderausstellung Feminismus, Wahnsinn und Kunst in der Wiener Albertina. Aus dem Ausstellungskatalog: „Im Zentrum der Werkschau stehen die Werke einer bis heute nicht gefundenen Massenmörderin, die mit den Initialen E.M. zeichnete. Es handelt sich um sorgfältig arrangierte Kunstwerke, bei denen einerseits männliche Rollenklischees verarbeitet und andererseits die Opferposition der Frau umgekehrt wird. Über E.M. als Person sind bis heute nur Spekulationen möglich. Wahrscheinlich wurde sie als Sexsklavin als Geschenk der kasachischen Mafia an westliche Geschäftspartner weitergegeben, konnte fliehen und in Folge eine anonyme Existenz aufbauen. Sie hinterließ dabei keinerlei verwertbare Spuren.
E.M. als Künstlerin verfügt jedenfalls über profunde künstlerische und präparatorische Fähigkeiten sowie umfassende kunsttheoretische Kenntnisse. Jedes ihrer insgesamt 13 Werke verweist auf Stillleben vor allem niederländischer Meister, aktualisiert dieses Genre allerdings um Einflüsse des Wiener Aktionismus. Sie verbindet das Opus eines Günther Brus mit den formalen Gestaltungselementen eines Daniel Spoerri. Jedes dieser Werke gruppiert sich um einen männlichen Korpus, der mit nicht lösbaren Stahlklammern an seinen Genitalien an einer Arbeitsplatte fixiert wurde. Aufgrund der Tatsache, dass E.M. allen ihren Opfern ein Messer in Griffweite legte, benannten die Kuratoren der Ausstellung diesen Zyklus mit dem Titel „Wahlfreiheit“.

Wir weisen darauf hin, dass die Ausstellung Inhalte expliziter Gewalt vermittelt und daher für Personen mit schwachen Nerven nicht geeignet ist. Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr sind nicht zugelassen.