Die Frau ohne Eigenschaften

Michael Drucker

 

(Ein Romanfragment aus dem Nachlass des heuer im Zuge dieses Romanes auf bestialische Art und Weise zu Tode gekommen Dichters und Krachmann Anwärters Michael Rufus D.)

Kapitel 1

„Wir haben jetzt Rauchverbot in der Kantine!“ – Kommissar Phallander blickte erbost auf, während er gleichzeitig versuchte seine Zigarette auf der Kaffeetasse auszudrücken. Er konnte Veränderungen prinzipiell nicht ausstehen, aber wenn sie jetzt schon seine allerpersönlichsten Vorlieben betrafen, dann war der restliche Tag für ihn gelaufen. Als er endlich die letzten Glutreste der fast jungfräulichen Zigarette mit ungeschickten Fingern – an die Länge waren sie ja nicht gewöhnt – ausgelöscht hatte, blickte er der Stimme nach. Die in rosa-weißen Längsstreifen gehaltene Tracht der Kantinen-Kellnerinnen konnte die Siluette, die nahe an das herankam, was Phallander als Idealmaße bezeichnen würde nicht verbergen. Ein wenig zu dünn vielleicht, was bezogen auf seine Gedankenwelt bereits eine Indikation für krankhafte Magersucht war. Phallander konnte Frauen nämlich nicht ausstehen. Je weniger also, desto attraktiver für ihn. Die war neu hier. Phallander wog für sich ab, ob wohl das dadurch abermals erhöhte Maß an Veränderung seine Stimmung weiter verschlechtern konnte, oder ob dieser Anblick vielleicht sogar in der Lage war, diese auf ein erträgliches Maß aufzuheitern. Aber dann bemerkte noch etwas, das ihn eher wieder unruhig werden ließ. Es fehlte etwas in seiner Kantine, in seiner Wahrnehmung. Es war ein Geruch der fehlte. Er – Phallander – war nämlich mit einem Geruchsinn von fast Süßkind´scher Dimension ausgestattet. Ja – üblicherweise konnte er Frauen riechen. Zumindest wenn sie so nahe waren wie diese Kellnerin als sie die Worte zu ihm gesprochen hatte. Nur waren da bloß die vertrauten Düfte der Kantine, kein Parfum wollte verschleiern, was ihm ohnehin nicht entgangen wäre. Da war nichts anderes in der Luft gewesen – er war sich sicher. Sein Blick verharrte versonnen.

K konnte seine Blicke im Rücken spüren. Entgegen der landläufigen Meinung, dass die Fähigkeit zu sehen eine passive Fähigkeit sei, dass Licht von Körpern reflektiert auf Rezeptoren in der Augenwand falle und darauf basierend ein Abbild der Wirklichkeit in unserer Wahrnehmung entstünde, war sie in der Lage zu spüren wenn sie angesehen wurde. Nicht seit jeher, aber im Laufe der Jahre entwickelt. Es nahm seinen Anfang als sie um Blicke spüren zu können noch die Augen des Betrachters sehen musste. Es waren die Blicke ihres Vaters, wie er sie ansah bevor er diese ekelhafte Nummer mit ihr durchzog, die mit der Vaterliebe und das niemand davon wissen dürfe. Ihr Fall war dereinst aufgeflogen als der versoffene Trottel sich nicht zu dämlich war selbst damit vor den falschen Leuten zu prahlen. Es stand damals sogar in den Zeitungen und alle Nachrichten waren voll damit. Psychologen hatten sich um sie, das Opfer, mit geradezu aufopfernder Gewissenhaftigkeit gekümmert. Was blieb war der Ekel. Der Ekel davor im Mittelpunkt zu stehen, ja sogar davor, angesehen zu werden. Im Prinzip wurde Ekel lebensbestimmend für sie. Sie hörte auf zu essen, da sie es ohnehin wieder erbrach. Das führte dazu, wieder ins Blickfeld angeregter Betreuung zu geraten. Mit wissenschaftlichem Eifer wollte ihr geholfen werden. Da erkannte sie für sich das Wesen aller Blicke – und vor Blicken ekelte ihr am Meisten von allen Dingen. Es waren die Eigenschaften. Jedwede Form von Eigenschaften lenkte nun einmal die Blicke anderer darauf. Sie beschloss daher alle ihre Eigenschaften abzulegen. Sie lernte in Gesellschaft so zu tun als ob sie esse, das Kauen zu simulieren um nicht aufzufallen, sie lernte zu sprechen ohne etwas zu sagen, sie lernte so auszusehen, das sie niemanden auffiel. Das machte ihr Leben, bis auf wenige Ausnahmen, einigermaßen erträglich. Aber ihre Sensibilität, die wenigen Blicke die sie nun noch streiften, aufzufangen wuchs an. Wie schleimige Würmer bohrten sie sich in ihre Haut, selbst in ihren Rücken und dazu brauchte sie den Betrachter nun nicht einmal mehr selbst zu sehen.

Phallanders Gedanken begannen sich wieder um den Fall zu drehen, der ihm seit dem gestrigen Tag beschäftigte. Er konnte Verbrechen eigentlich nicht ausstehen, obwohl sie zu seinem Beruf gehörten. Wiewohl er sich nicht entscheiden konnte, ob es Verbrechen an sich waren, oder all das Gesindel, reich oder arm, gebildet oder dumm, das sich im Dunstkreis von Morden herumzutreiben geziemte. Ganz besonders hasste er Fälle mit medialer Bedeutung. Verdacht auf einen Serienmörder! Das musste ihm jetzt, zehn Jahre vor seiner Pensionierung nun wirklich nicht mehr passieren. Eine Meute von Journalisten, CSI-geschult, stellte ihm die dümmsten Fragen und gab Tipps wie wohl mit den passenden forensischen Methoden hier vorzugehen sei. Wer sei denn der zuständige Profiler? Vermutlich hatten sie ja recht. Mit seinen herkömmlichen Mitteln kam er sicher nicht weiter. Gestern wurde nun die dritte zerstückelte Leiche gefunden, nicht komplett, nein, von ein paar Teilen waren nur die Knochen übrig, das Fleisch daran fehlte. Und die Augen, nie fand man die Augen. Alle Opfer männlich, 30 bis 50, keinen weiteren Gemeinsamkeiten, nicht einmal homosexuell, was ihm geholfen hätte den Täterkreis auf ein bestimmtes Milieu einzuschränken. Außerdem konnte er Homosexuelle ohnehin nicht ausstehen.
Auch kein nachweislicher Bezug zur Rotlichtszene, nichts. Eigentlich schade, denn obwohl er Nutten nicht ausstehen konnte, ermittelte er gern in der Szene. Viele dort schuldeten ihm einen Gefallen für eine nicht ganz so intensiv durchgeführte Ermittlung. Er durfte wann immer er wollte zu den Nutten gehen. Und die hatten einfach weniger dieser weiblichen Eigenschaften, die er nicht ausstehen konnte – und sie rochen alle fast gleich, er konnte sich fast daran gewöhnen. Aber da war nichts zu holen in diesem Fall. Nichts was er in all den Jahren als Polizist gelernt hatte, all die immer gleichen Zusammenhänge, nichts schien sich in diesem Fall anwenden zu lassen.

Die Gedichte waren eine weitere Gemeinsamkeit. Warum macht einer so was? Schreibt Gedichte und lässt sie auf kleine eingerollten Zetteln in den leeren Augenhöhlen von abgetrennten Köpfen zurück? Fast wollte er meinen, der Kerl könnte ihn kennen. Ihn und seine etwas gestörte Beziehung zu Literaten, die konnte er nämlich nicht ausstehen.

Ganz besonders die wahnwitzige Runden und Zirkeln, die sich allherbstlich treffen um sich dem Rausche der Deklamation, der Vortragskunst hingeben und in deren Runde er nie Aufnahme gefunden hatte. Er wollte gar nicht wissen welcher abstrusen und verbotenen Rituale sie sich dort bedienen. Das erste Opfer war ja aus deren Umgebung und dann eben das Gedicht, auf einem eingerollten Zettel, versteckt im Schädel. Er ließ die ganze Bande verhaften, verhörte sie persönlich, war sicher seine Kunst (das Verhör eben) in neue Sphären zu entwickeln, niemand sollte ein Beweis für seine Methoden nachweislich an seinem Körper zurückbehalten. Aber einige der Kerle hatten Beziehungen, bis ganz hinauf. Die Situation war mehr als unangenehm und wenn ihm der oberste Chef der Dienstaufsicht nicht noch einen Gefallen geschuldet hätte (von damals bei den Nutten) wäre er vermutlich nicht mehr Kommissar.

Egal, die Qualität der mit den Leichen mitgelieferten Gedichte überstieg ohnehin jegliches Talent eines dieser Hobbydichter – dessen war er sich sicher, obwohl er Gedichte eigentlich nicht ausstehen konnte. Er legte die kleinen Zettel mit den Abschriften vor sich auf den Tisch und begann zu lesen, um sich einige der Zeilen wieder in Erinnerung zu rufen.

Des Lebens Leid liegt nicht im Schmerz allein
Der würd´ nur blind und taub uns machen
Wenn unter Allen du nicht selbst kannst sein
Dann friert dein selbstgefäll´ges Lachen

Wenn aus welkem Grau sich einst dein Körper baut
Erst dann – entfesselt – bist frei du zu versteh´n
Sieh wie die Statue den Betrachter schaut
Sein einz´ges Schicksal war „er wollte Sehen“

Oder aber

Hat wie ein Gott die Welt geschaffen
Und darin sein Ebenbild erstellt
Konnt´s lassen nicht es anzugaffen
Hat es dadurch zerstört, entstellt

Wer richten will darf gern es tun
Sprechen von der Welten Bühne
Doch ich wird nicht eher ruh´n
Eh diese Tat ich führ zur Sühne

Auch K konnte schreiben. Nur für sich selbstverständlich. Seit den Zeiten und der Geschichte mit ihrem Vater, pflegte sie ihr Tagebuch zu führen. Ein paar Zeilen zu dem Erlebten oder besser zum Ertragenen, halfen ihr, wenn schon nicht ihr Leben auszuhalten, dann zumindest, es zu akzeptieren. Natürlich blieb diese Fähigkeit ihr Geheimnis. Alles andere hätte vermutlich dazu geführt, dass ihre Umgebung eine Witterung von Eigenschaften aufgenommen hätte – und das galt es ja zu vermeiden.
„Wir schließen gleich“ sagte sie zu Phallander und warf beim Abservieren der Kaffeetasse einen Blick auf die zerknüllten Zettel daneben. Vertraut kam es ihr vor, gleichsam aus einem zerrütten Geist, ihres Abbildes entwachsen. Sie musste innehalten in ihrem Versuch die Kaffeetasse zu nehmen ohne die Reste der ausgedrückten Zigarette berühren zu müssen.

Phallander konnte es a b s o l u t nicht leiden irgendwo hinausge-worfen zu werden, zu allem Übel stellte er fest, das er sich vorhin nicht getäuscht hatte: Er konnte nichts, aber auch gar nichts von und an dieser Kellnerin riechen. Nur deshalb konnte es ihr gelingen, ihn nun schon zum zweiten Mal, unbemerkt und für ihn überraschend aus seinen Gedanken reißen. Und Überraschungen konnte er nun wirklich nicht ausstehen.

„Danke für die Information! Und was stehen wir da noch herum und schauen?“ herrschte er sie an.
K war nun ihrerseits ein wenig erschrocken.
„Es ist nichts, es….es, ist nur,… ich glaube es sind diese Reime,…“
„Was ist mit diesen Reimen“
„Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher,….“
„Na dann können´s ja gehen und wiederkommen wenn sie sich sicher sind….“
„Ich glaub ich weiß wer so was schreiben könnte“

Jetzt war es an Phallander, wieder überrascht zu sein, was er ja bekanntlich nicht ausstehen konnte.

„Setzen sie sich auf der Stelle her und erzählen sie mir was sie da erkennen“, bellte er sie an
„Nein, ich kann nicht, wir schließen ja jetzt – und es ist auch nur so ein Gefühl,…. Ich bin mir aber sicher, dass es nur wenige Menschen gibt, die so fühlen, wie derjenige, der das geschrieben hat,…“

Die Erkenntnis, dass es nur wenige, ja aus seiner Sicht nur Einen gab half ihm nicht sonderlich weiter, soweit hatten ihn seine bisherigen Überlegungen bereits geführt.

„Puhhh, also echt ? Nur wenige?“ entfuhr es ihm auf zynische Art und Weise Anerkennung heuchelnd.

„Nein,… sie verstehen nicht, was ich meine“
„Na denn setzen sie sich schon und erklären es mir“
„Nein wirklich, jetzt geht es nicht, ich muss schließen, …. Aber wen sie möchten, lade ich sie gerne zu mir ein, heute Abend, und ich erzähle ihnen, was ich dazu weiß“

Phallander überlegte kurz, sie zu verhaften. Er konnte es wirklich nicht leiden, wenn jemand nicht so tat, wie von ihm geheißen. Allerdings besann er sich auch gleich wieder. Was war schon dabei? Er zögerte, wog ab und war schon schlechter Laune, da er Zögerlichkeiten nicht ausstehen konnte. Er musterte die Kellnerin. Was hatte er schon zu verlieren. Die Lösung des Falles in ihren Händen – das kam ihm sehr weit hergeholt vor. Jedoch die Einladung, zu ihr nach Hause, und so spontan? Da sollte doch noch was herauszuholen sein für ihn. In der Rotlichtszene gab es ohnehin nichts zu ermitteln heute Abend. Ja er kam sich geschmeichelt, geradezu attraktiv vor in diesem Moment. Er ertappte sich dabei, sein schütteres Haar zu richten obwohl er Eitelkeit sonst partout nicht leiden konnte.

Seine Blicke waren schier unerträglich für K, wollten tiefer, nicht nur unter die Kluft; bohrten nach ihrer Intention. Die Übelkeit kam hoch, war kaum noch zu unterdrücken, doch das wusste sie jetzt zu er-tragen, das war der Preis,….

Sie verabredeten sich

Phallander klingelte, K. öffnete. Der peinliche Blumenstrauß wurde eingewässert. K gab Phallander eine Sonnenbrille, sagte sie fände es witzig (und ein bisschen „scharf“). Er wiederum kam sich schon ein bisschen verarscht vor, was er eigentlich gar nicht leiden konnte. K schenkte Wein ein. Sie begannen zu plaudern, über dies und jenes, K war verwundert, wie wenig Hehl Phallander aus der Tatsache machte, an ihrem Wissen zu den Gedichten nicht interessiert zu sein.
Das Mittel im Wein begann zu wirken. Sie beobachtete (ohne es sich anmerken zu lassen) wie Phallanders Augen kleiner und kleiner wurden, ihn der Schlaf übermannte. Der Moment der Endgültigkeit des Schicksals war wie immer ein bisschen unangenehm für sie, ließ sie im Zweifel sogar kurz innehalten – und vor dem Schlachten, der Bade-wanne und dem Blut ekelte ihr sogar ein wenig. Aber ohne etwas zu essen konnte selbst sie nicht überleben und das Gefühl der Rache, der Rache für die Blicke die sie ertragen musste, war nun einmal das einzige, dass stärker war als der Ekel. Und wie immer nahm sie noch vor dem Festmahl einen kleinen Zettel und begann sich ein kurzes Gedicht zu überlegen….