Wer?

Stefan Loicht

Frau Bezirksinspektorin Maria Taferl wurde als verantwortliche Aushilfskriminalistin der Leib und Leben-Gruppe Wien Nordwest der Kriminaldirektion 1 zu einem Tatort gerufen. Ihre Vorgesetzten be-ziehungsweise Kollegen waren nicht greifbar – Alois Luftburger war auf Weiterbildung in Wiesbaden, Eduard Gruntzschnigg auf Kur in Kalksburg und Thorwald Branntwein machte Ferien in Florida – und bevor sich die Sadisten, Alkoholiker und Komiker der anderen Referate der Sache annehmen würden, verjähren die Todsünden.

In der Dauerausstellung „Das Rote Wien“ im Waschsalon Nr. 2 im Karl Marx-Hof wurde eine in einem Joseph Maria Olbrich-Sessel drapierte Leiche gefunden: vermutlich weiblich (heutzutage weiß man das nie so genau), das Gesicht verätzt, das Gebiss herausgebrochen, die Fingerkuppen abgeschnitten und ein Fleischermesser in der Brust. Taferl mutmaßte, dass es sich nicht um einen Suizid handelte, wollte den Pathologen aber nicht vorgreifen. Im Übrigen fanden sich wüste Einbruchs-, Blut- und Schleifspuren. Natürlich hat keiner was gesehen (es gibt dort keinen Hausbesorger mehr) und Bilder aus Überwachungskameras waren mangels Kameras nicht verfügbar.

Die herbeigerufene und erstaunlich flott eingetroffene Gerichts-medizinerin stellte sofort fest: eine Frau (nicht umoperiert), Fremdverschulden. Aber wer war die Hiniche? Kein Ausweis, keine Bankomatkarte, nicht einmal ein Mobiltelefon. Das Gewand von H&M, die Schuhe vom Stiefelkönig. Das erkannte Taferl, die beim Einkauf bei Vögele immer errötete, sofort. Schnelle Ergebnisse der Kriminal-techniker waren nicht zu erwarten und die Obduktion würde auch ein Weilchen dauern. Zeit genug für die interimistische Einsatzleiterin, deren optische Reize sogar in den Augen eines Mistelbacher Bauern-sohns nicht überwältigend waren, mit dem auch nicht gerade an-sprechend gestalteten Inspektor Guido Grewecherl von der Polizei-inspektion Sickenberggasse auf ein Fluchtvierterl in den Kabas-Puff in der Gunoldstrasse zu gehen.

Nach einem Alptraum, in dem drei Meter große atomgetriebene Duracellhasen vorkamen und mit einem Rest Reindlfeuchte durfte Maria einen Tag später, halbwegs aufgeräumt und ein wenig ent-spannter als zuvor, die Berichte lesen: von den Spurenlesern nichts außer dem Blut des Opfers, von der Pathologin zwar keine Fingerabdrücke, Zahnarztakten, DNA-Einträge oder Passfotos, aber dafür ein eindeutig amtsbekannter Mageninhalt. Der Fehler der Täterin oder des Mörders: er oder sie konnte nicht wissen, dass das im Ver-dauungstrakt gefundene Zeugs unzweifelhaft dem soeben wegen Verkochens verschollener Felidae behördlich geschlossenen und angeblich indischen Restaurants „Zur bunten Straßenkatze“ in der Ramperstorffergasse zuordenbar war.

Aber weder die Taxizentralen, noch der mittlerweile ziemlich gefügige Wirt, dem der Amtsarzt trotz der auch für Außenstehende wahrnehmbaren physischen und psychischen Beschädigungen Vernehmungsfähigkeit attestierte, konnten über die Identität der Toten Auskunft geben. Eines fiel ihm jedoch ein: da war am fraglichen Abend ein Typ mit einer Frau, die beide einen absolut nichtssagenden Eindruck machten. Er hätte noch nie jemanden gesehen, der so wenig in Erinnerung bleibt. Dieser Widerspruch ließ ihn noch einmal gegen eine Tischkante stolpern. Der blutblubbernde Hinweis, dass der Mann die großzügig Trinkgeld beinhaltende Rechnung mit Kreditkarte bezahlte, bewahrte den Gastronomen, der sich Gurudutt Gupta nannte, aber in Wirklichkeit ein Henna-Gefärbter von der übriggebliebenen 68er-Sorte aus Attnang-Puchheim war, vor einem nachhaltigen Krankenhausaufenthalt.

Maria Taferl, kriminalistisch und politisch unerfahren, machte sich ans Werk. Die entsprechende Karte war auf ein zuordenbares Medienhaus, nämlich „Nachklang“, respektive eines dessen Konten, lustigerweise bei der Raiffeisen, registriert. Eine rote Bude, die bei den Schwarzen Kredit hat! Das ganze Programm, also Befragung und Überprüfung aller in Frage kommenden Mitarbeiter, die Zugang zu einer Firmenkreditkarte haben, ergab folgendes Bild: die Buchhaltung war ausgelagert, die Personalverwaltung ebenso. Niemand hatte eine Ahnung oder Kenntnis von irgendwas, und das sogar glaubhaft. In diesem völlig chaotisch organisierten Verein, der die Speerspitze der sozialdemokratischen publizistischen Offensive jenseits der Anzeigenschaltungen darstellten könnte, war es völlig wurscht, wer wofür wieviel ausgab. Die Kreditkarten lagen am Empfang wie die Firn-Zuckerln beim Plachutta. Und das Limit war hundert Euro. So züchtet man Abhängigkeiten, wie man bei der Bebauung des nördlichen Donaukanalufers sieht.

Aber alle hatten ein Alibi und der immer noch mehrfach beeinträch-tigte Katzenkoch war definitiv außerstande bei einem Phantombild zu helfen. Zurück zum Start. Zurück in die Sensengasse. In die Gerichtsmedizin. Herrgott, was für eine wundervolle Stadt. Gevatter Hein hat seinen eigenen Straßenzug und nur im katholischen Wien kann Engels` Kumpel einen ganzen Stadtteil als heilig beanspruchen. Zu Ermittlerins Glück testete man mit der Leiche und Bauchweh den neuen, von Gaddafi gestifteten und nach Martin Fitt benannten Computertomographen, der sofort in Flammen aufging. In den zerschmolzenen Resten wurde ein Knochennagel aus Titan sichergestellt. Hersteller, Seriennummer, Verwendung, in welchem Krankenhaus eingesetzt etc. Alles klar: sie war Magistra Ulrike Schmeisser, Sozialversicherungsnummer soundso, 1974 geboren in Schirchberg am Schlagram, zuletzt wohnhaft Hermanngasse 33, 1070. Ihre sterblichen Überreste würden für immer mit der Wissenschaft verbunden sein, aber um das und die sicher ungewöhnliche Urne sollte sich die Versicherung kümmern.

Im Handbuch des Innenministeriums steht, dass man bei Gewaltdelikten, die nicht offensichtlich mit Raub in Verbindung stehen, zuerst das persönliche Umfeld beleuchten soll. Taferl ließ die Wohnung aufbrechen und fand eine Mustereinrichtung aus dem Möbelhaus vor. Zwar benutzt, aber keine Spuren von irgendwas Aufschlussreichem, sei es Familie, allein erzogenen Kindern, Männern, Frauen, Haustieren, anderen Mitbewohnern oder – wie sie hoffte – ausgefallenen Lustbehelfen. Keine Fotos, kein Computer, kein Autoschlüssel, nichts. Gerade ein paar Bücher aus der Abteilung Managementratgeber, CDs von den drei Tenören und lieblos ausgewählte Rolling Stones-Sampler, DVDs von Filmen mit Julia Roberts und ein gepflegter Ficus. Im Mistkübel weder Kondome noch Tierknochen, sondern nur ein paar Teesackerln, Kerzenstummel und die Verpackung eines Magerkäses.
Das gab nichts her, das war gar nichts. Aber, angestellt war Ulrike – Überraschung – bei „Nachklang“. Taferl hatte einige Mühe sich zum Geschäftsführer vorzukämpfen, der allerdings keine Ahnung hatte, wer die Dame war und verwies auf die eh schon wissen. Ein paar Schreikrämpfe, dem Auftritt einiger WEGA-Troglodyten und einem „Servus, grüß dich, ja, ja, Freundschaft“-Telefonat später, war bekannt, dass Frau Magister Schmeisser ausgeliehenerweise im Bundeskanzleramt arbeitete. Großer Schas. Jetzt war auch das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung im Spiel. Die zuständigen Herren stellten aber – warum auch immer – zum Glück schnell fest, dass keine staatliche Bedrohung vorlag und gaben guten Gewissens, leichten Herzens und mit dem Hinweis auf eine sogar der Bundespolizei zuzutrauenden Internetrecherche die Ermittlungen sofort wieder ab.
Woher diese Sicherheit, dass Al-Kaida nicht die Finger im Spiel hatte? Nun, die Suchmaschine verriet Position und Aufgabengebiet des Opfers: sie war Referentin und stellvertretende Leiterin der politischen Grundlagenabteilung „Kompromiss & Appeasement“. Das war zwar das Herzensprojekt des Bundeskanzlers und Parteichefs, aber für eine internationale Bedrohung ungefähr so relevant wie das im Rahmen einer künstlerischen Intervention abgehaltene shit-in bei der Eröffnung der öffentlichen WC-Anlage „Straßenbahnhaltestelle Volksoper“ für die New York Times.

Vorläufiges Resümee: Ulrike hatte keinen privaten Umgang, und das Ausforschen der beruflichen Verhältnisse würde ein Fingerspitzengefühl weit außerhalb der Reichweite von Marias Fähigkeiten benötigen. Zu ihrer großen Erleichterung kam Oberinspektor Alois Luftburger soeben aus Deutschland zurück und ihr zu Hilfe. Der war von der alten Schule und wusste, Handküsse zu geben, ohne dabei die Pratzen abzuschlecken. Maria hätte nichts dagegen gehabt, sich von ihm den Hof machen zu lassen, obwohl seine Glatze bedenkliche Ausmaße annahm.

Also machten sie sich an die Arbeit zu ergründen, ob es eine Korrelation zwischen dem ungewöhnlichen Hinscheiden und dem Bundeskanzleramt geben könnte. Taferl, das Landei aus dem nieder-österreichischen Höhenkurort Fürstenloch am Pröller, ließ Luftburger erleichtert den Vortritt. Sie gab auch offen zu, nicht zu wissen, wer denn der amtierende Bundeskanzler sei, obwohl sie ihn wahrscheinlich gewählt hatte. Jedenfalls hatte ihr das ihr Onkel so erklärt: früher war Wien bei Niederösterreich, deswegen ist der Landeshauptmann eigentlich der Chef von Wien und allem, was dort ist. Eigenartig nur, dass der Kanzler in den Puls 4 – Nachrichten viel blader als auf den Fotos am Ballhausplatz ausgeschaut hat.
Alois wandte sich mit Grausen, fühlte sich aber zu alt oder zu abgeklärt, um sich darüber ernsthaft aufzuregen. Vielmehr freute ihn die Aussicht, Einblicke in die Funktionsweise des Innersten der Macht zu gewinnen. Aber ob er das sehen wirklich sehen wollte? „Kompromiss & Appeasement“, was ist das eigentlich? Der Abteilungsleiter, Doppeldoktor der Politikwissenschaften Josef Laknai, erklärte wortreich schwurbelnd, dass es sich dabei um die Manifestation der neuen, absolut visionären politischen Handlungsmaximen der modernen Sozialdemokratie handeln würde; in erster Linie ging es darum, die mitbewerbenden Gegner, nein, besser: Konkurrenten, nein viel besser: die Freunde mit ähnlich gelagerten, aber doch von den eigenen Vorstellungen der Gesellschaft abweichenden Interessen so lange mit Entgegenkommen zu entmutigen, bis sie ihre eigene Position als geschwächt ansahen und somit aufgaben. Der logische Schluss dahinter war, dass ständiges Recht- und Nachgeben dermaßen verunsichert, bis die anderen davon ausgehen, falsch zu liegen.

Ob das nicht ein wenig ideologiefern sei, wollte Luftburger wissen, und ob die konkreten Ergebnisse darunter leiden würden? „Mitnichten“, war des Doppeldoktors Antwort, „die Menschen da draußen wollen keine Ideologie und keine Dogmen.“ Das effiziente Management würden schon die Consulter und Anwälte besorgen und die Medien sind auch beschäftigt. Sich die Frage, warum man dann noch Parteien und deren Vertreter bräuchte verkneifend, setzte der Oberinspektor fort: Was denn die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in dieser Abteilung besonders qualifizierte? „Ausgeprägte Leidenschaftslosigkeit und totale Indifferenz gegenüber allem, Sie glauben gar nicht,
wie schwer solche Spezialisten zu finden sind. Der Verlust der Frau Magistra schmerzt uns besonders. Sie war ja so talentiert!“, war Laknais Erklärung. Mit verächtlichem Unterton und einer illustrierenden Handbewegung ergänzte er: „Es ist ja fast unmöglich, den Menschen da draußen den Unterschied zwischen Strategie und Umfallen zu erklären. Dafür brauchst du halt echte Lavierungskünstler, denen alles wurscht ist.“ Alois dachte bei sich, dass des vermeintlichen Inders Erinnerung keine Einbildung war.

Natürlich erklärte das Bundeskanzleramt volle Kooperationsbereitschaft und die Investigationsroutine ging los. Die SOKO Föhn, wie die Ermittlungen intern wegen der vielen heißen Luft scherzhaft genannt wurden, bezog ein kleines Büro, um die Befragungen der Kolleginnen und Kollegen durchführen zu können, ohne allzu viel Abwesenheit am Arbeitsplatz zu erzeugen. Die unmittelbar bevorstehende Brief-kampagne an eine Zeitung würde schließlich alle Ressourcen be-nötigen. Die sechzehn greifbaren Mitgliederinnen und Mitglieder der Abteilung gaben bereitwillig Auskunft über ihre Tätigkeiten inner- und außerhalb des Amtes, ihre Aufenthalte in der Tatnacht sowie ihre Haltung zur Schmeisser und zur Lage allgemein.

Einig waren sie sich in der Bewunderung Ulrikens spezieller Profillosigkeit und alle so offen und unverschlagen, dass der alte Fuchs Luftburger an ein Komplott glauben musste. Um den hanebüchenen Unsinn, den diese Parteiakademieyuppies verzapften ad absurdum zu führen, wurde Taferl zur Überprüfung der Angaben ausgeschickt. Und siehe da, sie stimmten alle. Was war bloß mit der Jugend von heute los?
Jedenfalls nichts, was zur Klärung des Verbrechens beitrug. Erstaunlich war nur die Erkenntnis über den Führungsstil des Chefs von Staat und Partei, der auf der völlig willkürlichen Erteilung und ebenso Ent-zug von Anerkennung und Zuneigung basierte, was selbstverständlich auf Rivalitäten im Büroalltag schließen ließ. Aber ob das bei diesem angepassten und genügsamen Gesocks, das gottergeben und gleichgültig am Rockzipfel der anrüchigen Argumentation hing, für einen Mord reichen würde?
Wie auch immer, der einzige, der noch keinem Verhör unterzogen wurde, war im Krankenstand, wobei natürlich keiner wusste, worin das Siechtum bestand. Um so was hat sich die Personalverrechnung zu kümmern etc. blabla. Also Hausbesuch bei Abteilungsleiterstellvertreterinstellvertreter Magister der Betriebswirtschaft Fabian Fadgasicek. Das Team der SOKO Föhn hämmerte ewig gegen die Türe einer Dachgeschossmaisonette in einem bonzenburgähnlichen Genossenschaftsbau in der Nähe des Karmelitermarkts. Keine Reaktion. Schlosser. Der hatte keine Mühe und kurz drauf standen Maria und Alois in einem abgedunkelten Raum, in dem es nach Beaujolais und Inländerrum stank. Auf dem Sofa krümmte sich ein verheultes Häufchen Elend, umrahmt von leeren Flaschen und dem zerfledderten Karriereteil des „Standard“. Das war so gut wie ein Geständnis.
Nach einer kalten Dusche und ein paar Faustwatschen mit Fragen zu dem Abend, an dem Ulrike zu Tode kam, konfrontiert, knickte der Politzuträger ein, wie er es halt aus dem Alltag gewohnt ist. Ja, er hat sie umgebracht. Wie? Nach dem Essen beim Inder gingen sie ins „Tanzcafé Jenseits“ in der Nelkengasse. Er trank Pfirsichspritzer, sie grünen Tee. Das Messer hatte er schon in seiner Freitag-Tasche, zusammen mit dem billigen Bundeslaptop und einem rüden Klappwerkzeug sowie einer ganz gemeinen Säure, was eben so online erhältlich war. Er schlug ihr einen Ausflug zu dem angeblichen Sinnbild der angeblichen politischen Gesinnung des Chefs, eben dem langgestreckten Wohnbau an der Heiligenstädterstraße, zum Zwecke der zweisamen Kontemplation vor. Sie willigte ein, und zack, bumm, stech, aufbrech, hinleg und präparier war sie auch schon Geschichte. Ausstellungssaalschlachtplatte, quasi.

Und warum? „Der Supertrampel war einfach zu gut. Sie war immer vor mir da. Immer mit nix.“ Niemals hätte sich der Staatssekretär von ihm auf einen Kaffee einladen lassen und schon gar nicht hätte ihn der Chef jemals auf einen seiner legendären Venedigausflüge mitgenommen, raunzte Fadgasicek. Kein Versuch einer Verschleierung, eines falschen Alibis oder gar Leugnung? „Vielleicht bin ich ja jetzt jemand.“ Ansonsten nur das Schweigen im Dilemma.

Später, im Bundeskanzleramt: „Tja,“ sprach Laknai, „dann werden wir uns wohl von ihm trennen müssen.“ „Eh klar, bei der Anklage und der garantierten Verurteilung“, bemerkte Luftburger. „Wo denken Sie hin? In unseren Kreisen kann man über private Verfehlungen schon mal hinwegsehen. Verschiffte Uranmühle und so, Sie verstehen. Aber soviel Eigeniniative, Phantasie und vor allem Entschlusskraft, nein, das geht bei Kompromiss und Appeasement einfach gar nicht. Na ja, schade um die Schmeisser. Sie war die perfekte Frau ohne Eigenschaften.“