Die verborgenen Eigenschaften der Elfriede F. - Ein stiller Abgang im Land der 1000 Hügel

Steinbichler Markus

    Begonnen              Beendet
    28. 01. 2010    -     11.10. 2010

Elfriede F. stand, wie so viele Sonntage zuvor im letzten Jahr, am Fenster der trotz aller Anzeichen der Verwahrlosung eines jahrelang leerstehenden Hauses gemütlich wirkenden Stube ihres Elternhauses im Land der 1000 Hügel, der Buckligen Welt. Man stelle sich ein kleines, ebenerdiges, höchstwahrscheinlich schon jahrhundertealtes Bauernhaus am Waldrand vor, mit einem schmalen, wetterseitig etwas weiter vorgezogenen Schopfwalmdach, unter welchem ein kleines, etwas zugiges Stubenfenster geduckt wie auch geschützt auf die restlichen neunhundertneunundneunzig Hügel der Buckligen Welt guckt – so wie es Elfriede (und ab nun wollen wir auf das Familien-F. verzichten) an besagtem Tage auch selbst tat. Es war ein schöner, sonniger Julisonntagvormittag, Elfriede stand also am Stubenfenster, blickte nach den trägen Nebelschwaden des letzten Herbstes, nach der ewig auf den Hügeln herumliegenden Schneedecke des letzten Winters und den im endlosen Regen hilflos ersoffenen Boten des letzten Frühlings nun also in die überwältigende Tiefe der Farben und Kontraste der sonnig vor sich hin brütenden Landschaft dieses – nun ja, konsequenterweise: letzten Sommers. Ein warmer Sonnenstrahl tauchte die Stube in ein goldenes Honiglicht und ließ den aufge-wirbelten Staub der letzten Jahrzehnte lautlos in der kaum bewegten Stubenluft tanzen und Elfriedes Erinnerungen gleich aufblitzen und wieder verglühen. Sie dachte – wie so oft in letzter Zeit – über sich und ihr Leben nach, nicht weiter verwunderlich für eine Frau um die sechzig und somit im luftleeren Raum am Ende dessen, was ihrer Auffassung nach das Berufs- und Familienleben einer durchschnittlichen Österreicherin war. Auch ihr Erscheinungsbild war ein eher unauffälliges und durchschnittliches, sie hatte sich damit aber abgefunden, ebenso mit ihrem alles in allem letztendlich doch etwas verkorksten Leben samt zugehörigem Lebenslauf. Wieder einmal ließ sie diesen wie immer etwas ernüchternd an ihrem inneren Auge vorbei blättern:

Geburt – Kindheit – Volksschule – Hauptschule – Polytechnische Schule – Lehre zum Einzelhandelskaufmann (die selbige „-frau“ wurde erst Jahrzehnte später und auch nur im Namen, nicht jedoch in Ansehen geschweige denn Entlohnung berücksichtigt): alles ohne besondere Vorkommnisse, um nicht zu sagen: durchschnittlich. Dann trat auch der erste und leider auch letzte Mann in ihr Leben, bald darauf die Hochzeit im Nachbardorf, Tafel im Nachbardorfwirtshaus, ein paar Monate Berufserfahrung in der Greißlerei im übernächsten Nachbarort, kurz darauf (und mit beiden Augen zugedrückt gerade noch im katholischen Timing) die erste Schwangerschaft. Dann ging es Schlag auf Schlag:

Zuerst der ihrem Mann Ulrich überraschend zugeschanzte Posten als Kassier-Stellvertreter bei der Bezirkspartei, damit verbunden der Umzug in die graue, triste Bezirkshauptstadt, die sie bis dahin nur von gelegentlichen Einkaufs- und/oder Arztbesuchen kennen und alles andere als lieben gelernt hatte…
Dann der Einzug in die Siebzig-Quadratmeter-Dreizimmerwohnung im ersten mehrstöckigen Plattenbau, der weder mit besonders großem Budget noch Gestaltungswillen lieblos in die weder städtische noch ländliche Peripherie der Bezirkshauptstadt gestellt worden war – vermittelt durch die Partei… Dann die sich bald einstellende Einsamkeit in dieser ebenso vereinsamt in der Industrieviertelpampa herumstehenden Betonschachtel, wo sie keine Menschenseele kannte noch je richtig kennenlernte, Ulrich für seinen Teil war ja vollauf beschäftigt – bei und mit der Partei…
Dann jedoch die Geburt ihrer Tochter Barbara als immerhin kleiner Wendepunkt: etwas war in ihr Leben getreten, das sie wirklich brauchte – wie auch umgekehrt. Die Erfüllung ihrer Mutterrolle bis zur Selbstaufgabe, der verschwenderische Umgang mit ihrer Liebe zu Barbara, die absolute, jahrelange Konzentration auf alles und jedes rund um die kleine Barbara füllte sie vollends aus…
Dann, nach einigen Jahren ausschließlich Barbara, so unvorbereitet wie eigentlich auch unerklärlich – Ulrich war schließlich die meiste Zeit vollauf beschäftigt – bei und mit der Partei – ein zweites Kind, ein Bub, ein Michael, man hatte die statistischen Daten einer Durchschnittsfamilie weitgehend erfüllt…
Dann natürlich die jahrelange Arbeit mit den Kindern, die Arbeit im Haushalt, letztlich noch die Arbeit als Supermarktregalnachschlichterin, die sie – sobald beide Kinder in der Schule steckten – annehmen musste, Ulrich war zwar immer noch vollauf beschäftigt – bei und mit der Partei – aber außer seiner zumeist glanzlosen Abwesenheit und einigen ideologischen Ausbrüchen während seiner sonntäglichen Anwesenheit brachte dies nicht viel in ihren gemeinsamen Durchschnittshaushalt ein.
Elfriede stand weiterhin gedankenverloren wiewohl gleichzeitig nachdenklich am Stubenfenster, schaute den wie trunken im Sonnenlicht herumflirrenden Insekten zu und dachte schließlich an die Jahre nach der Schulpflicht ihrer Kinder. Denn dann ging es Schlag auf Schlag bergab:

ad 1): Der Posten ihres Mannes Ulrich als Kassier-Stellvertreter bei der Bezirkspartei verschlang weiterhin seine ganze Aufmerksamkeit. Er war kaum zu Hause, sofern man das Betonwohnklo als solches bezeichnen konnte, auch seine Kinder kannte er hauptsächlich von verjährten Fotos auf dem Schreibtisch, an den Wochenenden wollte er bitteschön auch einmal seine Ruhe haben. Dass sein werktägiges Engagement nicht im vollen Ausmaß der Partei, sondern überwiegend der Bezirksparteisekretärin galt, stellte sich im Lauf der Jahre allmählich heraus, für wirklich alle gleichermaßen unübersehbar – um nicht zu sagen kommunistisch manifest – wurde es, als er kurz nach Beendigung der Schulpflicht beider Kinder und noch lange vor Abwicklung der Scheidung zu seiner Partei- wie auch Bettgenossin zog, nicht jedoch, ohne Elfriede vorher all die Jahre über immer gemeiner und niederträchtiger zu traktieren. So nannte er sie etwa – und das war die mit Abstand geistreichste der Beleidigungen – in Anlehnung an das einzige Buch, in das er aus hündischer Anbetung seines Kanzlers jemals einen Blick geworfen hatte, immer nur „Die Frau ohne Eigenschaften“, wobei diese Fehleinschätzung ihres Charakters hauptsächlich auf seiner verabsäumten Holschuld beruhte, sich auch nur ansatzweise für die wenn auch verborgenen, so doch in überraschendem Ausmaß vorhandenen Eigenschaften seiner Frau zu interessieren. Folglich nannte er auch die Geschichte mit der Bezirksparteisekretärin immer nur verschwörerisch seine „Parallelaktion“, sehr wahrscheinlich das Einzige, was aus dem Buch je bei Ulrich hängen geblieben war. Band Eins war übrigens nur zu einem Fünftel zerlesen, Band Zwei lag noch lange, nachdem er schon weg war, unberührt in Zellophan gepackt und mit einer respektablen Staubschicht bedeckt auf dem Fliesentisch beim Cord-Fauteuil, gleich neben der letzten Schachtel mit den Blutverdünnungstabletten, die Elfriede ihrem bis an die Grenze der Lebensfähigkeit unselbständigen Gatten jahrelang allabendlich zu portionieren und mit einem Glas picksüßen Ribiselsaft bereitzustellen hatte…
ad 2): An der Einsamkeit der 70 m²-Dreizimmerwohnung im Plattenbau änderte sich nichts, dem beispielgebenden Misserfolg dieses an den Stadt-rand gestellten Wohnsilos war im Lauf der Jahre mit Ausnahme einer unterfrequentierten Bushaltestelle, die nach wenigen Monaten wieder aufgelassen wurde, nichts mehr weiter an die Peripherie gefolgt. Schließlich hatte ein Spekulant – pardon! Investor aus Oppositionskreisen das Ungetüm der maroden Bezirkshauptstadt günstig abgekauft und dieses durch jahrelanges, planmäßiges dem Verfall preisgeben in einen zweifelhaften Zustand versetzt. Elfriede war irgendwann als letzte Mieterin übrig geblieben und hatte das vieles erklärende Gerücht von einem geplanten Umbau in ein Wohnhochhaus mit Loft- und Penthouse-Wohnungen zu astronomischen Preisen (dafür aber inklusive Ausblick auf die pannonische Tiefebene und Staatsbürgerschaft quasi als part of the game), vorzugsweise für krisengewinnerische Osteuropäer, zu Ohren bekommen. Nach jahrelangem, aufreibendem Streit mit dem „Investor“ hatte sie letztlich aufgegeben und ihre Wohnung früh an diesem Morgen geräumt. Der Schlüssel war per Post unterwegs, da man sich nichts, aber auch gar nichts mehr zu sagen hatte…
ad 3): Mit ihrer Tochter Barbara hatte sie zu deren 18. Geburtstag einen folgenschweren Streit, dessen Ursache und Auslöser ihr heute nur noch diffus erinnerlich sind, umso klarer waren dafür die Vorwürfe, die sich Elfriede an den Kopf hatte werfen lassen müssen: der verschwenderische Umgang mit ihrer Liebe zu ihr, die absolute, jahrelange Konzentration auf alles und jedes rund um sie habe Barbara förmlich erdrückt. Außerdem seien sie nie ans Meer gefahren, das Höchste der Gefühle war zu Oma und Opa in die Bucklige Welt. Barbara hatte danach wild entschlossen ihre Sachen gepackt und war mit einem finalen, gehässig über die Schulter geworfenen: „Glucke!“ durch die Wohnungstür und in weiterer Folge hinter den Arlberg verschwunden – aus Sicht einer Ostösterreicherin also gleichsam ans andere Ende der Welt. Seither erreichen Elfriede jährlich wortlose Weihnachtskarten mit einem Foto zweier äußerst entzückender, von Jahr zu Jahr größer werdender und gegenwärtig wohl geschätzte fünf und sieben Jahre alter Kinder, bei denen es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ihre Enkel handeln dürfte – mehr gelangt offenbar nicht über den Welten trennenden Arlberg…
ad 4): Ihr zweites Kind, Michael, war Elfriede jedoch erhalten geblieben – sehr zu ihrem Leidwesen. Aus irgendeinem, wahrscheinlich tiefen-psychologisch auf eine nicht hundertprozentig einwandfrei geglückte Geburtsdrehung zurückzuführenden Grund lehnte er seine Mutter von Anfang an ab, war dafür aber von seinem Vater in den wenigen Stunden seiner glanzlosen Anwesenheit gründlich verdorben worden. Von diesem wurde er auch später aus falsch verstandenem Ehrgeiz zum Studium der Publizistik und Politikwissenschaften in der gelobten roten Bundeshauptstadt genötigt, welches er zunächst jahrelang vorgetäuscht und letztlich grandios scheiternd abgebrochen hatte. Statt des ersehnten ersten akademischen Titels vor dem Familien-F. hatte er nicht die geringste Spur einer Ausgeschweige denn überhaupt Bildung mit nach Hause gebracht, dafür aber aus den Untiefen Meidlings dessen seltsame Sprachfärbung. Michael brillierte seither in so fragwürdigen Disziplinen wie Alkoholkonsum, dem Oszillieren zwischen Aushilfsjobs und Arbeitslosigkeit sowie der Unfähigkeit zur Führung eines eigenen Haushalts. Nach jedem konfliktreich beendeten Untermietverhältnis kam er in Elfriedes Wohnung gekrochen, um in seinem alten wie unberührten Kinderzimmer Notunterkunft aufzuschlagen und den ganzen Tag mit seiner in Größe wie Ausstattung über die Jahre ins Barocke ausgeuferten und mittlerweile wohl an seine Minderwertigkeitskomplexe sowie unausgelebten Kontroll- und Allmachtsphantasien angepassten Modelleisenbahn zu spielen oder seine Panini-Fußball-WM-und-EM-Sammelalben der letzten 31 Jahre durchzublättern. Danach versuchte er meist seiner Mutter deren spärlich vorhandenes Geld abzupressen, um sich eine neue Bleibe oder wenigstens neue Modelleisenbahngarnituren finanzieren zu können. Nachdem es nichts zu holen gab, versuchte er sie jedes Mal davon zu überzeugen, sie möge doch endlich die geerbte Landwirtschaft an irgendeinen „gstopftn Weana vaschebban“ und ihm sein Erbteil vorzeitig ausschütten. Nachdem er mangels merkbarer Reaktionen seiner Mutter dann immer derb fluchend wieder in seinem Zimmer verschwunden war, bedauerte Elfriede es jedes Mal zutiefst, sich ganz offenbar mit dem falschen Kind heillos zerkracht zu haben…
ad 5): Die Arbeit als Supermarktregalnachschlichterin, die sie bis zur Pensionierung verrichten musste, ertrug sie unter den denkbar unwürdigsten Bedingungen. Aber in ihrem Alter und mit ihrer Ausbildung war diese eine der wenigen Wahlmöglichkeiten bei so wenig attraktiven Alternativen wie entweder als schwer vermittelbare Arbeitslose in Statistik verzerrenden AMS-Kursen die Zeit zu vernichten und sich dabei von unerträglich halbstarken Jugendlichen erniedrigen zu lassen oder letzten Endes eine Existenz – bei weitem kein Leben! – an deren Minimum. Übrigens, unter denkbar unwürdigsten Bedingungen heißt: täglich unbezahlte Arbeitsstunden vor und nach den Öffnungszeiten, das Verbot des Mitbringens jeglicher auch im Geschäft geführter Ware in die Aufenthaltsräumlichkeiten – was eigentlich einem Ess- und Trinkverbot gleichkam, von dem nur Leitungswasser und Selbstgebackenes ausgenommen waren, Weihnachtsfeste in den Aufenthaltsräumlichkeiten mit einer Tombola als Höhepunkt und abgelaufener Ware als Hauptpreise, zum Pensionierungsfest in den Aufenthaltsräumlichkeiten gab es immerhin einen großen Geschenkkorb, der allerdings hartnäckigen Gerüchten zufolge aufgrund des vorzeitigen Ablebens des Jubilars von seinem Besteller nie abgeholt worden war, was wiederum die darin enthaltene abgelaufene Ware erklären würde. Sie vermisste ihre Arbeit spätestens nach dieser Feier und der anschließenden Entsorgung des Korbes hinterm Markt keine Sekunde…
Das war sie nun also: Elfriede, eine knapp sechzigjährige, alleinstehende, von ihrer Tochter verlassene, dafür von ihrem Sohn heimgesuchte, pensionierte Supermarktregalnachschlichterin in der Stube ihres Elternhauses, die die meiste Zeit ihres alles in allem eher durchschnittlichen Lebens in den unteren Gefilden eines bescheidenen, zunächst sozial-partnerschaftlich abge-sicherten, zuletzt aber im Wegbröseln begriffenen Mittelschichtswohlstandes gefristet hatte, und sich nun vorwerfen lassen musste, ihren an und für sich wohlverdienten Ruhestand als Modernisierungsverliererin mit einem vermutlich unverschämten Plus in der potenziellen Transferdatenbank tagaus tagein schmarotzerisch in der übel beleumundeten sozialen Hängematte zur vertrödeln. Nach jeder in der Zeit-im-Bild übertragenen Budgetansprache aus dem monströsen Goder des Finanzministers fühlte sie sich für das Beziehen ihrer ihr anscheinend gar nicht zustehenden Mindestpension und überhaupt für diese ganze Krise zutiefst schuldig…
Sie schaute noch einmal aus dem Fenster, auf diesen wunderbaren Julitag, auf die Farben des nun endlich bunten, intensiven Sommers, auf die 1000 Hügel ihrer Kindheit und wurde sich nun langsam bewusst, dass es das letzte Mal sein würde. Schließlich stieß sie mit einem Seufzer die aufgestaute Luft aus, wandte sich schweren Herzens vom Stubenfenster ab und dem Küchentisch zu, nahm den Strick, den sie mitgebracht und bereitgelegt hatte, und machte sich auf den Weg zur Dachbodenstiege. Denn nachdem sie in den letzten Wochen alles wieder und wieder hatte Revue passieren lassen, ihr ganzes, seltsames Leben wie in einer trübsinnig und leise vor sich hin plätschernden sonntagvormittäglichen Wiederholung ohne Werbeunterbrechung, gab es für sie eigentlich nur noch eines zu tun...
AW: 1): Sie stieg auf die ersten knarrenden Treppen der Dachbodenstiege und dachte an Ulrich, vor allem daran, wie Sie in den letzten, gemeinsamen Jahren nach Bekanntwerden seiner „Parallelaktion“ seine Blutverdünnungstabletten gegen ebenso harm- wie nutzlose Kümmeltabletten austauschte, die ihm neben peinlicher Flatulenzen als beständige Nebenwirkung aufgrund banaler Wirkungslosigkeit eine schleichende Verstopfung seiner Koronararterien bescherte – und daraus resultierend den zeitlich ideal kurz nach Scheidung und Übersiedlung zur Parallelaktion eingetretenen Schlaganfall, der dieser wiederum nur einen sabbernden, inkontinenten und – zumindest aus Elfriedes Sicht kein unangenehmer Nebeneffekt – geistig abwesenden Lappen zu ihrer vollen Verfügung bescherte…
AW: 2): Sie ergriff mit der freien Hand – also jener ohne Strick – das rostige Eisengeländer und dachte an ihren spekulierenden – pardon: investierenden Vermieter, der in wenigen Stunden vor den Trümmern seines Verwertungsobjektes stehen würde. Der nette, junge Mann, mit dem Sie in seiner Funktion als vorletzter Mieter im Haus zwangsläufig ins Gespräch gekommen war, hatte sie liebenswürdigerweise – und offenbar in seiner gerüchteweisen zweiten Funktion als militanter Tierschützer – mit nützlichen Internetlinks seiner Kumpel versorgt – sie fand es ganz erstaunlich, mit welch einzeln an und für sich harmlosen Haushaltswaren man sehr wirkungsvolle Sprengsätze bauen konnte – das alles zu Hause und eigentlich ganz legal! Das Wissen um die Gashauptleitung in der tragenden Mittelmauer des Hauses war natürlich auch hilfreich und Gasgebrechen in heruntergekommenen Gebäuden keine übermäßig verdächtige Seltenheit, und so würde spätestens am Abend nach ihren Auszug, wenn der Boiler aufgrund der unter 20 Grad gesunkenen Zimmertemperatur sein Flämmchen entzünden würde… und die Sprengladung im Boiler würde relativ rückstandslos… und die ganze Gashauptleitung würde… und die ganze tragende Mittelmauer würde … und die beiden Haushälften würden dann von links und rechts… sie konnte es sich bildhaft vorstellen! Elfriede hätte es gern gesehen, ganz bequem vom Liegestuhl in sicherer Entfernung vom benachbarten Feld aus – aber das wäre vielleicht doch zu auffällig gewesen!
AW: 3): Sie stieg langsam, bedächtig Treppe um Treppe höher und dachte an ihre Tochter Barbara. Diese würde in den nächsten Tagen Post bekommen, es würde ein übergroßes Paket sein, sie würde unter dem Packpapier eine weinrot bemalte Kiste finden, auf der in goldenen Lettern ihr Name prangen würde. Sie würde den Deckel abheben und in den gesammelten Fundus von achtzehn Jahren „Barbara“ blicken – erster Strampler, erster Schnuller, erste Schmusewindel, erstes Kuscheltier, erste Schuhe, erste Locke, erster Milchzahn, achtzehn Alben mit chronologisch geordneten und beschrifteten Fotos zu je einem Lebensjahr, Notizbücher über die Errungenschaften der ersten sechs Lebensjahre in Sachen Motorik, Sprache, Persönlichkeit und Charakter, Zeugnisse sämtlicher Schulstufen, Urkunden von Raiffeisen-Malwettbewerben und Schulschikursrennen usw. usf. Barbara würde ihre ganze Kindheit und Jugend, die sie mit achtzehn Jahren nicht mehr haben wollte und hinter sich ließ, in einem Paket wiederfinden, dazu noch als letzte Überraschung auf dem Kistenboden: vier Flugtickets nach Malta für kommenden November, wo es hinter dem Arlberg bestimmt schrecklich kalt sein würde. Vielleicht war ja Barbara – möglicherweise auch ihr Mann und vor allem ihre beiden Kinder – bis heute nicht am Meer gewesen, und das würde sich ja auch irgendwann einmal ändern müssen…
AW: 4): Sie gelangte zur letzten Stufe, drückte mit der freien Hand – also jener ohne... wir wissen schon – auf die kühle Klinke der Dachbodentür und dachte an ihren nutzlosen Sohn Michael, der eines nahen Tages ratlos anstatt vor seiner Kinderzimmertür vor einem formschönen, staubigen Schutthaufen in der Peripherie stehen und diesen kuhäugig beglotzen würde. Auch er würde Post bekommen, wenn auch in Form einer Hiobsbotschaft: ein kurz, formlos und kühl formulierter Brief würde ihm verraten, dass immerhin seine geliebte Modelleisenbahn und seine Panini-Sammelalben nicht unter den Trümmern begraben liegen. Er würde erfahren, dass sich über seine Eisenbahn nun richtige Kinder einer anonym bleibenden sozialen Einrichtung freuen dürfen. Und dass seine Sammelalben via Ebay bei Aficionados die unglaublich stolze Summe von 67.409 Euro 90 erzielt haben, die ihr die Erfüllung eines letzten, großen Wunsches deutlich erleichtert haben.
AW5) Sie ging über die staubigen Dielen den niedrigen, vom schummrigen Licht durch das einzige Dachgaupenfenster nur spärlich erhellten Dachboden entlang auf selbiges zu und dachte an die Videobänder aus den Supermarktüberwachungsaufzeichnungen, die nun, nachdem sie über eine anonyme Einsenderin an sämtliche Privatschmuddelfernsehsender und deren gedruckte Pendants gelangt waren, dort sicher in der einen oder anderen Ekel-Show oder einem SKANDAL!!!-Blattaufmacher zumindest kurzfristigen, aber immer noch ausreichend großen Erfolg haben würden: mit dem Filialleiter in der Hauptrolle und unter anderem dem Umetikettieren von altem Fleisch, dem Bespechteln der Garderobenräume und dem Unterschlagen größerer Spirituosenmengen als losen Handlungsfäden…
Sie hielt vor dem Dachgaupenfenster inne, genoss die absolute Stille, unter-brochen nur vom ganz zaghaft durch den halb offen stehenden Fenster-flügel hörbaren Vogelzwitschern, sie neigte den Kopf, lächelte, kurz – aber nur kurz – kam ihr die Situation so unwirklich vor, als sie das herannahende Geräusch eines Autos wieder ins Hier und Jetzt brachte, sie sich ein Herz und den Strick in ihrer Hand wieder fester fasste – es galt nun, sich zu beeilen, sollte ihr Plan noch aufgehen und alles so klappen, wie sie es sich seit ihrem letzten Besuch, als sie aus welchem Grund auch immer das erste Mal seit langem in den Dachboden gestiegen war, immer wieder überlegt hatte. Sie rückte den alten, etwas wacklig gewordenen Thonetsessel ihres Vaters in die Nähe des Dachgaupenfensters, stieg vorsichtig darauf, befestigte das eine Ende des Strickes am Dachbalken, warf noch einen letzten, wehmütigen Blick durch das kleine, halb offen stehende Fenster, sog einen tiefen Zug der frisch einströmenden Julisonntagvormittagsluft ein und ergriff schließlich das lose vom Dachbalken baumelnde Ende des Strickes – den nächsten Schritt hatte sie sich seit ihrer letzten Anwesenheit hier oben über Wochen und Wochen wieder und wieder überlegt…
Sie lehnte sich ein klein wenig waghalsig nach vor, ergriff den alten, ausgeleierten, ganz offenbar schon länger nicht mehr schließenden Fenster-griff des kleinen Dachgaupenfensters, zog den Flügel zu sich, um den Strick am Griff festzubinden und somit das wer weiß wie lange schon halb offen stehende Fenster wieder notdürftig zu verschließen. Zufrieden stieg sie vom Sessel, jetzt würde kein Sturm mehr das Fenster aufwerfen und kein Schlagregen mehr die Holztramdecke gefährden können, welche ein Wiener Architekt bei der Besichtigung des Häuschens als archaisch-rustikales und anonym-architektonisches Meisterwerk bezeichnete, Elfriede hatte dies nie so gesehen, für sie war es einfach nur die etwas zu niedrige Stubendecke, der Herr Architekt sprach des weiteren von einem proto-agrarökonomischen Anwesen mit ökologisch höchst wertvoller Streuobstwiese in absoluter Ruhelage, auch das hatte Elfriede nie so gesehen, für sie war es immer – gelinde und akademisch gesagt – der anus mundi. Auf jeden Fall war all das offenbar ausschlaggebend dafür, dass der Herr Architekt auf ihr – und für die Idee dazu musste sie wider Willen ihrem nichtsnutzigen Sohn dankbar sein – schüchtern formuliertes Inserat: „Kleines Bauernhaus mit 2 ha Grund in der Buckligen Welt zu verkaufen. Preis auf Anfrage“ neugierig reagierte und nach der Besichtigung sprichwörtlich „ganz aus dem Häuschen“ euphorisch feststellte, dass es so ein Schmuckstück im außerdem von seinesgleichen mittlerweile zumindest an Wochenenden beinahe wieder überbevölkerten Waldviertel ja gar nicht mehr gäbe, er diese schmucke Liegenschaft zur Wahrung seines seelischen Gleichgewichts mittels zumindest freitäglicher Stadtflucht unbedingt haben müsste, koste es was es wolle und von sich aus einen grotesk hohen Kaufpreis vorschlug, den Elfriede innerlich Luftsprünge vollführend mehr als akzeptierte.
Sie ging zur Dachbodenstiege zurück und hüpfte diese so gar nicht wie eine durchschnittliche Frau um die sechzig munter hinunter, schnappte die am Ende der Stiege bereitgestellte Tasche mit dem Allernötigsten (nämlich Reisepass, Flugticket und Necessaire) und stürmte aus der Tür zum mit laufendem Motor wartenden Flughafentaxi. Sie wollte ihren Flug auf keinen Fall verpassen, war sie doch zum Zerspringen gespannt auf ihr kleines Häuschen auf Malta, das vom Kaufpreis für das so genannte Anwesen und dem Geld für die Sammelalben mehr als locker drin war. Sie würde außerdem endlich Lawrence Azzopardi kennenlernen, jenen netten Malteser von der Internetbörse www.singles-worldwide.com, die sie des Öfteren in letzter Zeit besucht hatte. Nach wochenlangem Chatten und Mailen deutete Lawrence zunehmend freizügiger an, dass er auch an anderem als nur Online-Verkehr interessiert wäre, was wiederum bei Elfriede schon lange nicht mehr bekannte Regungen verursachte und den Entschluss eines Neuanfanges weit, weit weg mehr als erleichterte! Sie würde Olivenöl pressen, Datteln anbauen, Aquarelle malen, Seidenraupen züchten, was auch immer Aussteiger im Süden so machen, auf jeden Fall würde sie hoffentlich schon bald ihre Tochter wieder sehen, ihre Enkel kennen lernen und mit allen zusammen endlich das Meer sehen können…