Die Frau ohne Eigenschaften

Yvonne Millard

 

Sie ist mittelgroß mit brünettem Haar, unauffällig, ein Gesicht dass man vergisst. Ohne ihr Zutun erkennt man sie nicht auf der Straße. Eine graue Maus? Nein, ein Allerweltsgesicht, nicht schön, nicht hässlich, ein Gesicht eben. Als Mädchen ist sie noch verwundert, glaubt in ihrer Jugendlichkeit etwas besonderes zu sein, intelligent, mit schnellem Auffassungsvermögen, denkt sie wird Karriere machen – ihren Traumjob verwirklichen, fremde Länder bereisen, eine Weltbürgerin werden. Sie arbeitet hart dafür. Aber man erkennt sie nicht. Sie ist nicht wirklich farblos, in ihrem Umfeld wird sie doch als das wahrgenommen was sie ist. Eine Person, die durch Fleiß und Zielstrebigkeit zu dem kommt, was sie will. Will sie das wirklich so? Zielstrebig, fleißig und immer bestrebt das Richtige zu tun, das macht sie wahrscheinlich so eigenschaftslos. Immer das Richtige zu tun macht unauffällig, keine Kanten und Ecken zu haben, macht das Gesicht unscheinbar, also doch farblos.

Sie möchte das nicht zur Kenntnis nehmen, verfällt in eine Depression. Auch die selbst gegründete Familie ist perfekt und unauffällig, ein Mann, zwei Kinder, nichts Aufregendes passiert. Selbst das Haus, in dem sie wohnen,gleicht den anderen Häusern in der Gasse.

Sie nimmt es jetzt selbst in die Hand, endlich aufzufallen, sich aus der Masse abzuheben. Die Aufmerksamkeit, die ihr schon seit ihrer Jugend fehlt, zu bekommen. Der Mann gleichsam farblos wie sie, nimmt ihre Anstrengungen nicht zur Kenntnis. Alles ist wie immer. Egal was sie unternimmt oder nicht unternimmt, es fällt ihm nichts auf. Sie überlegt, was zu tun ist. Depressiv wie sie ist, beschließt sie einen letzten Schritt, dann wird man sie, ihre Fähigkeiten und ihr Aussehen zur Kenntnis nehmen, wenn sie fehlt. Wird sie fehlen? Erste Zweifel quälen sie.

Sie fehlt nicht. Niemandem fällt es wirklich auf, dass sie nicht mehr da ist. Sie war fleißig, hat sich um alles gekümmert, hat sich bemüht das Leben zu meistern und hat es dann besiegt.