Das Ding an sich

Günter Nowak

November 2011
„Wien als Zentrum des radikalen Konstruktivismus“ – ein Slogan den die österreichische Fremdenverkehrswerbung bislang gründlich ¬verschlafen hat. Als einer der Höhepunkt des Heinz von Foerster Kongresses 2011 wird am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien eben ein Interview mit Humberto Maturana eingespielt. Ich hatte bis vor wenige Wochen nicht einmal gewusst, dass der Begründer des Konzepts der Autopoiesis von Systemen noch am Leben ist und sich in Santiago de Chile offensichtlich – angesichts seines hohen Alters – vorbildlicher Gesundheit und einer durchaus interessanten Familienkonstellation erfreut. Ich war auf Maturana und seine Erklärungsansätze zur Selbstorganisation von Systemen irgendwann in den 80er Jahren im Zuge meiner Dissertation über die Entstehung von Sprachcodes und Gesetzessprache gestoßen. Ich folge dem Interview, fingere an meinem Siegelring herum und mir fällt auf, dass ich das in letzter Zeit wieder häufiger mache …

November 1967
Die Welt wurde damals dunkel. Die Städtische Warmbadeanstalt – das Tröpferlbad – in der Gerhardusgasse dürfte damals gerade geschlossen worden sein – zumindest gingen wir nicht mehr hin -, das im zweiten Bezirk in der Vereinsgasse, gab es, soweit ich mich erinnere, damals noch. Der erste der beiden Fleischhauer, die es bei uns in der Gasse bzw. um die Ecke gab – der ‚“Gigerer“ – sperrte damals zu. Noch kurz vorher hatte ein Pferdewagen die Milchfrau im Haus gegenüber beliefert, bei uns im Hof standen noch die alten Stallungen – da parkten jetzt ein paar Puchs drinnen – und im Keller des Nachbarhauses arbeitete damals und auch noch einige Jahre später ein Hufschmied an einer offenen Esse. Später würde dort ein junger Gitarrist namens Karli üben, der dann tatsächlich berühmt werden sollte, aber das gehört eigentlich nicht zu dieser Geschichte. An der Ecke links war der „Einöder“ – ein alter Installateur –, dann die Frau „Ott“, eine Gemüsehändlerin mit einem Sohn ohne Vater, rechts neben der Milchfrau im Haus gegenüber gab es die „Blumentandlerin“ – an deren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern, aber Beruf und Namen waren damals ohnedies so gut wie identisch; zwei Häuser weiter war die Trafik mit ihrem einbeinigen Besitzer. Einbeinige gehörten damals noch zum Stadtbild, ebenso wie die Wachzimmer – eines davon in unserem Nebenhaus rechts – als eine Außenstelle des Bezirkskommissariats Pappenheimgasse, das später die erste bauliche Erweiterung des BG und BRG XX werden sollte und wo früher die Gestapo drinnen gewesen war. Aber darüber sprach man nicht. An beiden Straßenenden gab es Wirtshäuser, das war nicht Besonderes, das war damals in ganz Wien so und am Wochenende holte man das Essen mit dem Reindl vom Wirt´n.

August 2011   
Ich sitze am See und lese; das Neuste von Richard Dawkins und dazwischen ein paar historische Krimis, die im Rahmen einer Edition der Zeitschrift die ZEIT erschienen sind. In einem dieser Romane werde ich in diesen Tagen den Schlüssel finden. In einem dieser Romane wird unter anderem die Frage diskutiert, was Mord im Krieg bedeuten kann. Ich entnehme diesem Buch auch mit Verwunderung, dass es in NAZI-Deutschland eine GESTAPO-Einheit zur Verfolgung von Kriegsver¬brechen gegeben haben soll. Ich habe versucht, dem weiter nachzugehen, habe aber nichts dazu gefunden.
Was macht die Welt zu der Welt, wie wir sie kennen, sehen, wahrnehmen? Die reale Welt und mehr noch, die Welt der Ideen.

November 2011 und vorher
Kant ging davon aus, dass wir die Dinge nicht so sehen, wie sie “an sich”, also unabhängig von unserer Erkenntnis sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen und entwickelte damit Platon weiter. Nach Kant könne man von keinem Gegenstand als Ding an sich selbst, sondern nur – sofern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d.h. als Erscheinung – Erkenntnis haben. Schopenhauer ging im Unterschied zu Kant davon aus, dass auch wenn eine Anschauung nur subjektiv sei, das Angeschaute “an sich” doch real und nicht das Objekt der Anschauung, sondern das Ergebnis dieser Betrachtung ein subjektives Gehirnphänomen sei.

Heissenberg bewies viel später, dass – zumindest im der Welt der kleinsten Strukturen – auch eine, durch Geräte, Maschinen usw. vermittelte Wahrnehmung der Welt, nicht nur das Ergebnis, sondern auch das Wahrgenommene selbst beeinflusst, d.h. Akt und Form der Wahrnehmung die Welt selbst verändern. Messprozess und Messinstrument sind zumindest Teil des Messergebnisses. Aldous Huxley und andere haben die Einflüsse chemischer Substanzen auf die menschliche Wahrnehmung dokumentiert, spätestens die aktuelle Kognitionsforschung dekonstruiert die Vorstellung von einer objektiv wahrnehmbaren Welt. Nicht zuletzt gibt es eine messbare Lücke zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Bewusstsein, während der unsere Gehirnstrukturen vorselektieren, was wir als Realität vorgestellt bekommen, für objektive Wahrnehmung halten und als freien Willen erleben. In der ersten Hälfte der 70er Jahre tauchte für Beiträge aus Biologie, Kybenert, Geneti, Lernpsychologie, Systemwissenschaften u.a. durhc Protagonisten wie v. Glasersfeld, v. Foerster, Maturana, Varela u.a. dafür der Sammelbegriff radikaler Konstruktivismus auf, obwohl ihn offensichtlich weder v. Förster noch Maturana – beides zentrale Figuren dieser interdisziplinären Richtung – selbst verwendeten. Paul Watzlawick machte diesen Ansatz bekannt und auch populär. Die Kunst kann auf eine längere Tradition der Brechung zwischen Innen- und Außenwelt und den daraus folgenden Konsequenzen verweisen: Rene Magrittes „Ceci n’est pas une pip“ lieferte die Ikone des für den Unterschied zwischen Bild und Abbild erforderlichen „Verrats der Bilder“ und ein John Joseph Lydon den dafür passenden Text und auch die Musik: „It could be black – it could be white, it could be wrong – it could be right …“. Und als Bob Mould und seine Hüsker Dü ein verzweifeltes „I don´t know for sure …“ hinausbrüllten, dokumentierten sie den endgültigen Verlust an Gewissheiten in und über diese Welt, in der nur noch Lärmkaskaden Geborgenheit und gewissen Schutz bieten können.

November 1967 und vorher
Sie bezogen 1956 die Zimmer-Küche-Wohnung, zuvor hatten sie in Untermiete gelebt. In den ersten Jahren nach Ihrer Heirat im Jahr 1948, verdiente sie manchmal als Verkäuferin oder als Haushaltshilfe noch dazu, er arbeitete für einen Spenglermeister, der seine winzige Werkstatt in einem dieser kleinen Verschläge hatte, die man heute noch erkennen kann, wenn man am Schulhof entlanggeht. Er verdiente damals 20 Schilling pro Woche und sie erreichten in diesen Tagen tatsächlich einen gewissen Wohlstand. Der Höhepunkt ihres persönlichen Wirtschaftswunders war um das Jahr 1958 herum, sie besaßen zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gogomobil und fuhren damit auch auf Sommerfrische nach Südtirol. Rückblickend mehr als bemerkenswert für einen Mann, der ohne Namen und Papiere und belastet mit wortloser Schuld aus dem 2. Weltkrieg zurückgekommen war und einer Frau, die als ¬Resultat der Vergewaltigung einer zu diesem Zeitpunkt Vierzehnjährigen im bigotten katholischen Mief einer niederösterreichischen Kleinstadt aufgewachsen war. Kinder waren nicht gewünscht, passierten aber in einem – für damalige Verhältnisse – relativ hohen ¬Lebensalter dann doch. Sie war bereits 40 Jahre als sie ihren ersten Sohn zur Welt brachte, und er erwähnte irgendwann viel später, dass er seinen Sohn als dieser noch ein Kleinkind war, einmal, als er wieder nicht zu beruhigen gewesen war, irgendwohin geschleudert hatte. Er gab sich viel Mühe und „lernte mit seinem Sohn“ – sobald dieser entsprechend aufnahmefähig war – obligatorisch jeden Sonntagvormittag. Inhalte dieser Lektionen waren unter anderem kriegsrelevante Meerengen und Kanäle und so kannte sein Sohn im Alter von noch weniger als fünf Jahren Skagerak, Kategat und Öresunt, aber auch bereits das Volumen eines Kegels berechnen, natürlich ohne die Bedeutung zu verstehen.

Rund zwei Jahre später, es muss gegen fünf Uhr früh gewesen sein, erschien ihr an diesem Novembertag Jesus in Person und zwar im wörtlichen Sinne, für sie offensichtlich in Form einer realen, physischen Erscheinung. Er sprach mit ihr lange und wiederholt.

Es handelte sich um einen plötzlichen und – soweit bekannt und erinnerlich – vollkommen überraschenden Ausbruch von paranoider Schizophrenie, einer Krankheit, die in ihrem gesamten Umfeld bereits häufig vorgekommen war. In diesen Jahren sprach man nicht zwar über Geisteskrankheiten, sie wurden totgeschwiegen, bedeuteten Tabu und Stigma.

Wie ist die Welt einer Geisteskranken? Real, so absolut real, dass man, selbst wenn man bereits erfahren im Umgang mit Krankem und Krankheit ist, immer noch in leeren Räumen ihre fiktiven Gesprächspartner sucht. Kranke können selbst nach vielen Jahren noch mit der Präzision ihrer Wahrnehmung, ihrer Logik und der Stringenz ihrer Argumentation überraschen. Es ist gleichzeitig beunruhigend und faszinierend, wenn zeitgleich Gespräche inklusive Antworten mit verschiedenen Stimmen und verschiedenen Inhalten parallel zur eigenen Konversation ablaufen.

November 1967 und nachher
Die Akutphase dauerte einige Tage, es kam zu mehreren Rettungs- und Polizeieinsätzen, diversen Abgängigkeitsszenarien und verschieden gearteten Ausbrüchen psychischer und körperlicher Gewalt. Es kam trotzdem zu keinerlei medizinischer, exekutiver oder sozialer Intervention. Nicht eine Person oder Institution hielt es für nötig, die erforderlichen und unumgänglichen Schritte zu setzen.

Was genau die primär religiösen Erfahrungen waren die sie machte und ob es tatsächlich nicht schon vorher Anzeichen der Krankheit gegeben hatte entzieht sich meiner Kenntnis. Das Resultat war jedoch, dass sie am Ende dieser Akutphase zur Gewissheit gelangt war, dass die Welt da draußen – weil böse und gefährlich – nicht mehr betreten werden dürfe. Tatsächlich hielt sie das in Folge rund vierzig Jahre so gut wie vollständig durch und formte ihre Umwelt so, dass ihr diese Lebensgestaltung ermöglicht wurde. Geisteskrankheit ist kein individuelles Phänomen, sondern man kann es nur als Gesamtsystem verstehen; Verhalten – „normales“ wie „abnormales“ – ist nur im Verhältnis und der Interaktion mit Umwelt möglich.

Er war gegenüber dieser Situation vollkommen hilflos, reagierte über die Jahre mit immer mehr Wut und noch mehr Alkohol, war aber bis zu seinem Tod selbst zum Davonlaufen zu schwach. Das sonstige Umfeld löste sich nach einer sehr kurzen Schockphase auf, alle Freunde, Verwandten und Bekannten, die es vorher gegeben hatten, verschwanden binnen weniger Wochen in einer Weise, als hätte es sie nie gegeben. Kinder können nicht davonlaufen und nehmen die Welt ihrer Eltern als die wahre Welt war und müssen damit umgehen, dass es auch eine andere Welt gibt. Diese schizophrene Brechung wird verdoppelt und vervielfacht, wenn Kinder der Außenwelt eine Normalität vorspielen, die sie selbst nicht kennen. Die Lüge wird zum Lebensprinzip, die einzige Kommunikationsform die möglich scheint. Die Welt ist und bleibt für immer eine Fremdsprache, der Aufenthalt in der Welt nur ein Besuch anhand eines Reiseführers.

In einer anderen Zeit oder unter anderen Umständen hätte das was damals passierte und sich dann noch Jahrzehnte lang fortsetzen sollte als religiöses Erweckungserlebnis firmieren können und, je nach Rahmen¬bedingungen, allemal entweder für eine Seligsprechung oder ein Fanal gereicht. Es fehlte letztendlich nur eine echte, physische Stigmatisierung im katholischen Sprachgebrauch, alles andere wurde von ihr irgendwann durchlebt.

Die anderen verschwanden nach und nach, zuerst die Milchfrau, dann der Fleischhauer, zuletzt der auch schon nicht mehr so junge Sohn der Gemüsefrau, die Einbeinigen waren schon länger aus dem Stadtbild verschwunden. Die geburtenstarken Jahrgänge, in Kombination mit der Schulpolitik der 70er Jahre, hatten die Nachbarhäuser zu einem, wenngleich permanent provisorischen, Schulmoloch verwandelt. Sie aber blieben nebenan, gelähmt in Krankheit und Vergangenheit, in ihrer zunehmend devastierten Zimmer-Küche-Wohnung.

Er starb 1989, sie erst viel später. Sie hatte nie mehr ihre spezifische Welt verlassen – weder räumlich noch geistig. Man selbst überlebte. Irrtümlich. Ungeplant. Ersatzwelten waren dafür hilfreich. Man wartete und beobachtete, wann und ob man an sich selbst die ersten Anzeichen entdecken würde. Die Welt wurde erst viel später wieder heller, die Gefahr der Dunkelheit blieb aber für immer.

Oktober 2011
Ich schreibe meinen diesjährigen Beitrag zu Krachmannpreis 2011. Er handelt darüber, wie es möglich ist, dass Menschen sich aus einer – fiktiven – Normalität ausklinken oder herausgenommen werden und manchmal tatsächlich wieder zurückkehren können. Hello is everybody in – the story is right to begin … Es reicht dafür vollkommen ein wenig am chemischen oder physikalischen Zustand eines Menschen zu manipulieren und schon verändert sich die Welt. Ich schreibe nicht nur über die Zusammenhänge zwischen Gehirnstoffwechsel und Gotteserlebnissen. Ich schreibe auch über die Weitergabe einer Krankheit an Kinder und Kindeskinder, weniger durch Infektion als durch Tradition. Und ich schreibe darüber, wie Menschen – auch noch Kinder – in einen Krieg geschickt werden und habe dabei Stan Ridgeway´s Camouflage im Kopf. Ich schreibe über den Einsatz von Amphetaminen im 2. Weltkrieg, über die Verwendung von wie Benzedrin, Methedrin oder Pervitin. Hermann Buhl überlebte seine Nacht am Nanga Parbat mit dieser Droge dafür ohne künstlichen Sauerstoff. Ein englischer U-Boot-Kapitän beklagte angeblich einmal, dass die Deutschen ihr Pervitin benutzen konnten, während die Engländer nur Kaffee hatten. Ich glaube mich erinnern zu können, dass er einmal erwähnt hatte, dass auch sie damals immer wieder Tabletten geschluckt hatten. Ich schreibe über Menschen die ohne ihre verlorenen Gliedmaßen zurückkamen und solche, die nur physisch intakt zurückkamen.

1944 bis 2011
Schopenhauer hatte übrigens angenommen, dass, die Welt wie sie uns erscheint, ein Resultat des menschlichen Willens sei. War eine nette Illusion. Erkenntnis liefert kein Bild einer realen Welt, sie liefert nur eine subjektive Konstruktion, die zur Welt wie ein Schlüssel zum Schloss passt. Der radikale Konstruktivismus geht davon aus, dass jedes ¬Individuum seine subjektive Welt konstruiere ohne einen Zugang zu einer objektiven Realität zu haben. Das bedeute aber nicht, dass keine soziale Kontrolle dieser Konstruktionsleistungen unter den Menschen stattfinde, weil die Sprache den Menschen Konsensualität im Sinne ¬einer Einigung über die Beschaffenheit eines Umstandes oder einer Sache und der über-individuellen Sinnstiftung, in denen sie existieren und die für sie Wirklichkeit sind ermöglicht. Maturana und Varela bezeichneten das als den Bereich der sozialen Koppelung. Ich halte dem die Faktizität der Lüge entgegen. Und auch wenn objektive Erkenntnis nicht möglich ist, gibt es mitunter Erklärungen: Ich selbst fand eine
davon – nach fast 35 Jahren der Mutmaßungen und Spekulationen – durch Zufall in einem kleinen Detail eines Kriminalromans: Angehörige der SS-Panzerdivision Großdeutschland hatten 1944 während der sogenannten Ardennenoffensive, auch als Rundstedt-Offensive bekannt, kanadische Kriegs¬gefangene erschossen.