Sein oder Fiction

Wolfgang Weißensteiner

Er dachte er müsse gleich kotzen vor Wut. Es war das dritte mal, dass er die Schnittstelle an diesem, oder sollte er besser sagen, an diesen beiden Tagen neu konfigurieren musste. Irgendein Arschloch von Entwickler hatte wieder schlampig gearbeitet oder den Gesamtzusammenhang aus den Augen verloren. Seit der Nachwuchs immer jünger wurde, er selbst war immerhin zwölf gewesen als sein Lebenstraum in Erfüllung ging und er in die Entwicklungsabteilung des C.r.o.w.d. aufgenommen ¬wurde, hatten alle das Gefühl, dass es mit der Qualität ihrer Einstiegszellen ständig bergab ging. Das Sonderprogramm für Hochbegabte war bei ihm und seinen Kollegen schon von Kindheit an ein Mythos ge¬wesen. Er hatte zwar schon damals viele seiner Miteiferer im Verdacht gehabt nur an der Ausbildung zum Netter interessiert zu sein, weil damit eine Verpflichtung zum sofortigen Schulabbruch verbunden war aber wenn er sich recht erinnerte handelte es sich meistens um Schüler mit einer äußerst überschaubaren Anzahl an Leistungspunkten die von den Ärzten ausgesucht wurden.

Nichtsdestotrotz musste er sich jetzt auf seine Aufgaben konzentrieren, die Wolke kümmerte es einen Dreck ob du andere Sorgen hast, gerade deshalb saßen an seinem Platz Leute deren Signalverarbeitung das
10²² -fache der rein hardwaregebundenen Schnittstellen leistete. Die Slots für die Zusammenführung der Daten wurden immer enger. Die Penner an deren Abteilung es ihn nach seinem kleinen Missgeschick verschlagen hatte glaubten doch tatsächlich das hing mit der immer größeren Menge an Daten zusammen welche die Wolke in sich vereinte. Wer das System im Ganzen verstand, und er gehörte immer noch zu den Wenigen die es wirklich verstanden, auch wenn er inzwischen an den äußersten Rand gedrängt war, wusste, dass „The Cloud“ wie sie in den Werbespots der Company genannt wurde, nichts damit zu tun ¬hatte sondern die Geschwindigkeit mit der seinesgleichen darauf zugriff. Seine Generation an Nettern war es welche die Geschwindigkeit der Signalverarbeitung um das siebzehnfache erhöht hatte.


Das war auch das einzige was ihm geblieben war, „Speed“, 10²² das war schon was, eine Potenz konnten die Jüngeren, und von denen nur manche, noch drauflegen aber die 10²² das war ein Run wie ihn nur er und seine Netguys, wie sie sich in ihrer besten Zeit genannt wurden, hinlegen konnten.

Er musste sich wieder zur Konzentration zwingen. Die Blitze machten ihm nichts aus, zwar drängten sie sich mit den Jahren immer mehr in den Vordergrund aber damit lebst du wenn man ab deinem zwölften Lebensjahr aus deinem Gehirn das Letzte herausholt, zumindest aus Teilen davon. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre hatte er sie sogar manchmal als willkommene Ablenkung betrachtet.
Was ihm Sorgen bereitete war, dass er, und er musste die Wolke wirklich ausquetschen um darauf zu kommen, „abgelenkt“ war.

Seit er an diese Abteilung versetzt wurde stieß er immer wieder auf verwirrende Informationen die ihn an seiner eigentlichen Aufgabe, dem Zusammenführen und Weiterleiten von Daten an den zugewiesenen Analysekern, hinderten.
Das fiel soweit niemandem außer ihm selbst auf, da er die Standards noch immer mit einem Zucken erfüllte, ihn selbst aber beunruhigte es doch häufiger als ihm angenehm war.

Er hatte sich nach seiner Neuverwendung sogar einzureden versucht, dass damit die Schwierigkeiten auf die er sich nicht vorbereitet gefühlt hatte zu Ende wären, was ja auch einigermaßen zutreffend war, wenn du dich nur mehr auf eine einzige Aufgabe konzentrieren musst.

Auch wenn er sich ungerecht behandelt gefühlt hatte musste er zugeben, dass er in seiner alten Umgebung wahrscheinlich nicht mehr den erhofften Erfolg gehabt hätte.
Als Entwickler führst du zwar ein relativ angenehmes Leben wirst aber immer von der Angst nicht die erwartete Zukunft liefern zu können verfolgt.

In seiner Datenwanne wusste er, dass von seiner Position aus die Decke der Anforderungen noch ein gutes Stück entfernt lag.

Natürlich war er noch immer davon überzeugt, dass er auch unter den Besten weiterhin gezeigt hätte warum er es mit seinen Leistungen sogar in die Ausbildungsstandards der Company geschafft hatte, aber als auf Grund seiner Erfolge der Kontakt zu Mitarbeitern auch außerhalb seiner Arbeit von der Company per Erlass akzeptiert wurde fühlte er sich offensichtlich doch etwas überfordert.

Nelly gefiel ihm von Anfang an, nicht nur wegen ihrer grünen Haare, das entsprach damals dem allgemeinen Geschmack sondern besonders weil er sich seltsam anders fühlte wenn er ihr glockengleiches Lachen hörte. Wenn es ihn nicht doch ein wenig verstört hätte würde er es als das beste Gefühl das er je gehabt hatte beschreiben.

Wegen des Mechatronins bekam er zwar Rezeptorenblocker um die durch die höhere Aufnahmegeschwindigkeit unkontrollierbar gewordenen Emotionen, soweit als möglich, einzudämmen aber, da die Abstimmung aufwendig war, akzeptierten die Verantwortlichen bei den Entwicklern eine gewisse Unschärfe in den Randbereichen ihrer „Persönlichkeit“.
Darüber machte sich in seiner Gruppe allerdings niemand Gedanken auch nicht als bei einem der Entwickler die Dinge wohl etwas aus dem Ruder gelaufen waren. Offensichtlich waren die Probleme der hohen Dosierung der Company bekannt aber als einer der Netter mitten in einer Datensitzung aufzuquellen begann war die Erklärung, nachdem die Schweinerei beseitigt wurde, rasch gefunden. Mechatronin hatte schnell und unbürokratisch zur Verfügung zu stehen da die ¬Mitarbeiter unter Belastung, oder wenn die Datenknoten neue Verbindungen
bildeten, nachdosieren mussten, natürlich nach genauen Vorgaben.
Laut den verantwortlichen Ermittlern hatte der funktionsunfähig gewordene seine Dosis selbstständig erhöht um seine Leistungsfähigkeit auf dem von ihm erwarteten Niveau zu halten. Das konnte sich unter den anderen zwar niemand vorstellen da du im Blitzgewitter der Nebenwirkungen nicht einmal die Konsole vor deiner Nase finden konntest, aber mit solchen Fragen hielt sich in der Gruppe niemand auf. Das Bild des aufquellenden Kopfes und dem durch die Augenhöhlen austretenden Gehirns, das ihm noch heute wie auf der Suche nach neuen Anbindungen schien, trat allerdings immer öfter in sein Bewusstsein. Vermutlich lag das an seiner neuen Verwendung bei welcher die aus der Wolke filtrierten Daten ihm auch nach Jahren ungewohnt schienen. Ein Umstand den er sich nicht einmal selbst eingestehen würde.

Vielleicht war seine Aufmerksamkeit diesem Vorfall gegenüber auch der Grund warum er kurz darauf selbst die Regeln außer acht ließ und für immer an diesen Ort an dem er sich jetzt befand versetzt wurde.

Nelly war die Tochter eines Mitglieds des C.R.O.W.D. und ihr Großvater einer der ersten die Mechatronin zur Anwendung brachten. Ihre Anbindung an das Elitenetzwerk ließ ihr nur wenige Slots für Außenbeziehungen. Anfangs erschienen ihm diese Slots noch wie halbe Ewigkeiten, weil er nicht recht wusste was er mit ihr anfangen sollte, aber da war eben dieses Lachen und diese seltsame Gefühl das ihm immer besser gefiel. Wahrscheinlich erschien es ihm damals nach all den Jahren als selbstverständlich die Schnittstellengeschwindigkeit auch bei Nelly etwas zu erhöhen um die Ausbeute an gutem Gefühl etwas effizienter zu gestalten.
Aus seiner jetzigen Position hätte er die erforderlichen Daten relativ leicht beisammengehabt um zu erkennen das Ideen welche nichts mit seiner Verwendung zu tun hatten besser keine solchen wurden.

Es ging dann alles sehr schnell. Als er sie überzeugt hatte das Mechatronin das er ihr vermittelt hatte vor dem nächsten Slot zu verwenden war er erstaunt, dass ihr Lachen noch glockenheller Klang als sonst. An ihm konnte es nicht liegen, denn seine Wahrnehmungsrate war konstant und, wie immer, überwacht. Dass ihr Lachen nicht mehr aufhörte verstärkte dieses seltsam gute Gefühl um ein Vielfaches.
Wie er es gewohnt war konzentrierte er sich auf die eingehenden Daten und enthielt sich jeder abweichenden Bewertung derselben.

Sie kamen noch während er mit der Konsole vernetzt war. Die Notabschaltung verursachte ihm keine Schmerzen, obwohl viele davon überzeugt waren, dass es kaum zu überstehen sei. Entsetzlich war nur die Leere die plötzlich über ihn hereinbrach. Es waren nur Augenblicke bis er an die Analyseeinheit angebunden war und doch erschien es ihm als der größte Schmerz den er je empfunden hatte.
Die Empfehlungen der Analyseeinheit waren die sofortige Löschung der angefallenen Daten sowie des Verantwortlichen. Ob es seine Mitarbeit bei der Entwicklung der Analyseeinheit war die ihn vor dem Final-Reset, wie die Company das Verschwinden von Mitarbeitern in ihren Jahresberichten nannte, geschützt hatte oder die Schuldgefühle von Neelys Großvater, war für ihn nicht mehr von Bedeutung.

Seine Neuverwendung wurde jedenfalls an keine große Glocke gehängt. Als Schnittstelle hast du ein sehr einfaches Anforderungsprofil. Daten erfassen, Zusammenführen und an den Analysekern weiterleiten.
10²² das war noch immer was. Jede unnütze Bewertung oder Auseinandersetzung mit Daten ist strikt zu vermeiden.

Seine Leistungsfähigkeit bewahrte ihn davor, dass seine neuerliche Übertretung der Regeln ihn doch noch den Kopf kostete. Er selbst wusste nicht warum aber seit er den gesamten Umfang der Wolke überblicken konnte bereitete es ihm immer größere Probleme nicht an bestimmten Datensätzen hängenzubleiben.

Wahrscheinlich lag es an der Abteilung an die es ihn verschlagen hatte. Niemand in der Company war glücklich damit Ressourcen und den Zugriff auf die gesamte Wolke dem Alten zur Verfügung zu stellen aber Nellys Großvater war so etwas wie der Gründervater all ihrer Möglichkeiten und ihrer Macht und er weigerte sich beharrlich zu sterben.

All das wäre ja noch leichthin zu akzeptieren hätte er sich nicht in den Kopf gesetzt, dass die Daten aus den Zeiten vor der Kupferkrise gesammelt und bewahrt gehörten. Was der Alte damit bezweckte wusste er wahrscheinlich selbst nicht.

Die Company hatte alle Datensätze die vor der Krise gespeichert wurden für irrelevant erklärt konnte deren Reste nach Etablierung der Wolke aber auch nicht entfernen, da dies selbst ihre Möglichkeiten gesprengt hätte. Die Regeln die verhindern sollten, dass jemand wie er durch die Wahrnehmung solch versprengter Informationen in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wurde verstand er nur zu gut.

In den kurzen Augenblicken in denen er sich einen genaueren Blick auf einzelne Datensätze gönnte erkannte er immer wieder, dass der Alte etwas sehen wollte was aber noch niemand bisher gesehen hatte. Wozu das gut sein sollte war ihm mit den wenigen Informationen die ihm zur Verfügung standen nicht klar geworden.

Irgendetwas wollte der Alte „erkennen“. Ihm war nicht klar wozu man sich damit aufhalten sollte, die Dateneinheiten übernahmen das schon lange für jeden von ihnen, bei Kontaktaufnahme hast du immer alle Informationen über dein Gegenüber sofort verfügbar. Also was wollte er dann noch erkennen.

Was ihm auffiel war, dass jeder genauere Blick ihn mehr als die gewohnt Energie kostete und die Blitze andere Muster zeigten, ob sie häufiger und stärker wurden konnte und wollte er auch nicht mit Sicherheit bestimmen.

In den letzten Stunden hatte er sich jedenfalls mehrmals darum kümmern müssen.
Die Energiebilanz konnte er zwar mit dem Nahrungsinjektor ausgleichen, was entscheidend war da er durch sie am leichtesten nach Außen auffällig werden konnte. Beunruhigend war eher, dass er glaubte in den Blitzen Bilder zu erkennen und Nellys Lachen zu hören glaubte.

Bilder, was sollte jemand mit Bildern anfangen, obwohl, jedes Mal wenn sich Nellys Lachen unter die Bilder mischte änderte sich die Energiebilanz noch dramatischer.
Er wusste, dass einen neuerliche Konfiguration der Schnittstelle zu Auffälligkeiten führen konnte aber als er eine Bewertung dieses Problems beginnen wollte war das Mechatronin schon an seinen Rezeptoren angelangt.
Die Blitze die er erwartet hatte blieben aus dafür konnte er in den auf ihn einstürzenden Bildern nicht das Geringste erkennen was möglicherweise daran lag, dass sie nicht mehr an der Oberfläche existierten sondern sich zu entfernen schienen um im nächsten Moment auf ihn einzustürzen.
Er versuchte die Kontrolle zu erlangen indem er so viele Daten als möglich zusammenzuführen versuchte aber die Knoten der Wolke bildeten sich in einer Geschwindigkeit neu die es ihm, trotz seiner enormen Zugriffsrate, nur ermöglichte Bruchstücke dessen was vor ihm auftauchte zu sammeln.
Das sein rechter Augapfel in die Siliciumlösung der Datenwanne fiel erschien ihm in diesem Moment selbstverständlich. Dass er weiterhin klar sehen konnte verwunderte ihn nur einen kurzen Augenblick lang.

Als Nellys Lachen klar und deutlich erklang sah er es vor sich. Er er¬kannte zwar das es nicht das war was es zu sein schien aber kurz vor dem Reset wusste er, dass es so deutlich noch niemand zuvor gesehen hatte.