Das Lied der Taiga - ein Road Movie

Christian Ondrak & Andreas Gruber

Hier sitze ich, in der brütenden Hitze Wiens, und versuche meine Ideenfetzen in Worte zu fassen. Vor allem in lesbare Worte. Nach Möglichkeit in Form eines Romans. Mein Verleger fordert immer ein-dringlicher zumindest Leseproben. Keine Vorschüsse mehr ohne Le-seprobe. Daher hat auch mein Bankmensch immer eindringlichere Forderungen. Erst kürzlich die erste schriftliche. Und nicht zuletzt fordert auch mein Ego Ergebnisse. Einer der maßgeblichsten Litera-turpreise des Landes  wird in den nächsten Monaten vergeben und ich will ihn gewinnen. Das Thema … beschissen wie jedes Jahr: Das Lied der Taiga. Wer sich nur solchen Müll einfallen lässt? Jede Aus-rede ist mir recht, um die Tastatur zu verlassen. Der Inhalt der Weinflasche neigt sich bedenklich dem Ende. Zeit eine neue Flasche zu öffnen. Also auf zum Weinregal und eine neue Flasche Rioja öff-nen. Vielleicht findet sich ja im Inhalt der nächsten ein Quell kreati-ver Einfälle. Bisher hat´s ja nicht so gut funktioniert. Bisher habe ich noch alles gelöscht, was mir am Vortag noch ach so witzig und elo-quent vorkam. Ich speichere das zuletzt geschrieben, stehe auf und stelle fest, dass die Weinvorräte demnächst Ergänzung benötigen. Kaum bin ich bei der Tür, läutet das Telefon.

Mein Autorenkollege aus Niederösterreich ist am Apparat. Ziem-lich betrunken, wie ich höre. Auch er will in diesem Jahr den Litera-turpreis gewinnen. Auch er quält sich mit diesem beschissenen Thema herum. Auch er geht öfter Mal in den Keller, um eine Flasche Côtes du Rhone zu köpfen, zumindest öfter als das Blatt Papier in der Schreibmaschine zu wechseln.
„Wer lässt sich nur so einen Müll einfallen?“, lallt er zerknirscht.
Ich kann ihm die Frage nicht beantworten.
„Wenn ich den Kerl in die Finger kriege!“, murrt er.
„Man müsste schon in die Taiga reisen, um vor Ort zu recherchie-ren“, schlage ich vor.
„Die Muse direkt an der Quelle packen?“, fragt er.
„Mit dem Volk und den Nadelwäldern auf du und du“, sage ich.
„Ja, ja, das müsste man“, seufzt er. „Aber meine Frau hat mich letzte Woche verlassen. Ich trinke zu wenig und schreibe zu viel … oder ist es umgekehrt?“
Ich blicke mich in der brütenden Hitze meiner Wiener Wohnung um. Jetzt fällt mir auf … auch meine Frau hat mich verlassen. Ver-mutlich, weil ich zu viel trinke und zu wenig schreibe.
„Lass uns gemeinsam in die Taiga fahren“, schlage ich vor.
„Das wird eine lange, gefährliche und unvorhersehbare Reise“, warnt er mich.
Er hat recht. Aber wenn man schon einen der renommiertesten Literaturpreise gewinnen möchte, darf man weder Kosten noch Mü-hen scheuen. Man muss sich bis zur Selbstaufopferung reinknien – auch wenn das Thema noch so beschissen ist. Man muss die Kolle-gen der Konkurrenz, die bloß im Internet recherchieren, abhängen, und das Thema direkt an der Wurzel packen. Am Puls der Zeit sein, so wie unsere Vorfahren … Hesse, Hemingway, Dumas, Voltaire oder Rousseau.
„Es wird eine Kulturreise in das schwarze Herz der Taiga“, füge ich hinzu.
Mein Kollege hat Blut geleckt. „Ich bin dabei, lass uns fahren, be-vor ich es mir anders überlege“, antwortet er knapp.

„Dir ist übrigens schon klar, dass wir wohl irgendwelche VISA brauchen werden, mein abenteuerlustiger Freund?“, bremse ich sei-nen Enthusiasmus.
„Kein Problem“, sagt er. „Ich hab´ da einen speziellen Draht zum russischen Ex-Botschafter. Der schuldet mir mehr als nur einen Ge-fallen. Vielleicht kannst du dich an die Geschichte erinnern. Ich den-ke doch, dass ich dir diese Schnurre schon mal erzählt habe. Damals war ich noch freiberuflicher Journalist. Irgendwer hat der Redaktion kompromittierende Aufnahmen vom Botschafter zukommen lassen, auf denen er Nachts um drei im Vollsuff im Hochstrahlbrunnen vor dem Russendenkmal seine Sekretärin von hinten vögelte, während er versuchte einem bekannten Landeshauptmann einen zu blasen, der ihm gleichzeitig zwei Finger in den Arsch schiebt. Was eine klei-ne Recherche eines Journalistenkollegen zur Folge hatte, welche be-reits im Ansatz ein nettes Bild von Korruption und Amtsmissbrauch zum Vorschein brachte. Nun wie soll ich sagen: Das Material und die Fotos sowie die Negative verschwanden auf unerklärliche Weise und darüber hinaus war auch der liebe Kollege von der Presse nur einge-schränkt integer, womit sich seine Glaubwürdigkeit herrlich unter-graben ließ. Es hat keine 14 Tage gedauert, und er musste seinen Hut nehmen. Damals gaben einige Dokumente und Bilder ein nettes kleines Feuerchen im Kamin des Botschafters und seither schlägt mir Valeri keine Bitte ab. Zwar ist er selbst nicht mehr im Amt, aber zerbrich dir nicht den Kopf über Papiere. Wir bekommen alles was wir brauchen, um von Polen bis nach Uelen zu fahren und ich wette mit dir, wir bekommen von den Zöllnern jedes Mal noch eine Flasche Vodka geschenkt, nur weil sie uns über die Grenze lassen durften.“
„Diese Sache ist also geritzt! Wie wollen wir reisen? Auto oder Bahn?“ frage ich.
„Wenn wir schon Papiere haben, die uns die problemlose Passage praktisch überallhin erlauben, dann wohl doch das Auto. Und wir nehmen meins. Das fügt sich wenigstens ins automobile Gesamt-bild.“
Der Typ schlägt allen Ernstes seinen abgefuckten Lada Taiga vor? Scheinbar hat der Konsum und die Trennung etwas im Oberstüb-chen durcheinandergebracht. „Spinnst Du? Die Kiste bricht spätes-tens beim überschreiten der Fischa zusammen!“
„Blödsinn! Die fährt zwar nicht schnell aber immer noch gut. Je-der gestandene Russe kann das mit einem Hammer und Draht repa-rieren und außerdem können wir den Allradantrieb sicher irgendwo brauchen, sollten wir die Taiga erreichen wollen. Soll etwas unweg-sam sein dort, hab´ ich mir sagen lassen! Fang an zu packen und vergiss den Gelsenspray nicht. Schlage vor, wir fahren am Sonntag. Zeitlich! Bis dann!“
Er legt auf und ich bleibe mit dem Hörer in der Hand stehen und frage mich, worauf ich mich da eingelassen habe. Reiß dich zusam-men und packe, sage ich mir und lege den Hörer auf die Gabel.

Sonntagmorgen. Kurz vor sechs Uhr früh! In wenigen Minuten holt mich mein Kollege mit dem Lada Taiga ab. Ich trinke Kaffee, mit einem Schuss Pertsovka-Vodka, um mich auf die Reise in die Taiga einzustimmen, und schlage die Morgenzeitung auf. Tiger Woods gewinnt schon wieder das Bridgestone Golf-Turnier in den USA, lautet die Schlagzeile. Möglicherweise ein gutes Omen für un-sere Taiga-Reise.
Draußen hupt ein Wagen. Ich laufe raus, mit Tropenhut, Sonnen-brille, Flachmann, Wanderschuhen, Khakihose und Tramperruck-sack. Mein Kollege wartet im Auto. Das Fetzendach des Lada macht seinem Namen alle Ehre und ist vom Wind völlig zerrissen.
„Authentisch, nicht wahr?“, ruft mein Kollege und klopft auf die Außenseite der Tür. Eingetrockneter Schlamm bröselt von der Auto-tür.
„Super“, rufe ich.
Die Reise kann beginnen.
Wir fahren nach Bratislava in der Slowakei, wo wir zum ersten Mal tanken. Dummerweise fülle ich Diesel in den Lada. Wir kommen nur noch drei Kilometer weit, dann säuft der Motor ab. Wir werden ab-geschleppt, doch auf Grund sprachlicher Verwirrungen, landen wir in einer Werkstätte in Budapest, in Ungarn. Mit einigen Tausend Forint weniger in der Tasche nehmen wir die nächste Autobahnauffahrt, jedoch die falsche, und statt nach Norden zu reisen, fahren wir in den staubigen Süden. In Belgrad, Serbien, bemerken wir unseren Irrtum. Auch nur deshalb, weil immer noch einige Serben den Song-contest-Sieg aus dem Jahr 2007 feiern. Einige Autobahnen sind deswegen gesperrt, also müssen wir über Sofia, in Bulgarien, rüber nach Bukarest in Rumänien. Die Wälder Rumäniens, wo wir im Wa-gen übernachten, sind etwas gruselig, doch am nächsten Morgen fahren wir – etwas blutleer und blass – weiter nach Odessa und Kiew, in der Ukraine, wo immer noch eine Hand voll Spanier den Fußball-EM-Sieg feiert. Schließlich landen wir in Minsk in Weißruss-land. Einen Abstecher nach Polen, um dort Wojtek den Bären zu be-suchen, tun wir uns nicht an. Dieses Thema haben wir Gott sei Dank links liegen gelassen. Das Ding an sich ist nämlich folgendes: Auf Grund der vielen Wechselkursdifferenzen haben wir bald keine Euros mehr. Das letzte Geld wird uns in Litauen, Lettland, Estland und Helsinki in Finnland abgeknöpft. Zuletzt von einer Gruppe Kuhhirten mit langer Schmalzlocke und spitzen Schuhen.
Nach diesen Strapazen erreichen wir endlich Sankt Petersburg, vormals Leningrad. Von dort soll es nun quer durch die gesamte Taiga zum nordöstlichsten Punkt Russlands gehen, Uelen, den wir in zwei Monaten erreichen wollen.

Hier gelingt es uns auch endlich, eher zufällig, die etwas ange-schlagene Reisekasse ein wenig aufzubessern. Als wir eines nach-mittags nämlich unsanft aus einem St. Petersburger Beisl geworfen werden, da mein Begleiter der Kellnerin angeblich an die Brüste ge-fasst hat, intonieren wir vor dem Lokal die Sowinetz´sche Interpre-tation der Ode an die Freude in einer traumhaften a capella Version. Erstaunlich wie viele St. Petersburger bereit sind, ein wenig Geld für arme Straßenmusikanten springen zu lassen, nur damit wir aufhören zu singen.
Um mehr Publikum zu erreichen stellen wir uns nahe der Eremitage auf. Wir singen lauter, das Konzept geht auf, und tatsächlich haben wir neben den zahlreichen anderen Künstlern, Schnorrern und Bettlern die größte Zuhörerschar. Was wir in unserer Naivität natürlich nicht beachten: Die Reviere sind hier abgesteckt. Es dauert nicht lange, bis uns der Lahme mit der altertümlichen hölzernen Krücke auf ein Detail aufmerksam machen will. Mangels Sprachkenntnis wissen wir natürlich nicht was, und schmettern unbeirrt weiter. Langsam kommt der Lahme in Fahrt. Auch ohne Sprachkenntnisse erkennen wir, dass er uns derb beschimpft und versucht uns abzudrängen, was wir uns so ohne weiteres nicht bieten lassen. Immerhin brauchen wir das Geld für Benzin. Das wiederum ruft Kollegen unseres lahmen Kämpfers auf den Plan. Ein Wort ergibt das andere, es gelingt uns gerade noch unseren Verdienst einzusammeln und dann suchen wir das Weite, verfolgt von einem stummen Saxophonspieler, einem blinden Maler und einem Krückstock schwingenden Lahmen, der nebenbei bemerkt, gute Sprinterqualitäten an den Tag legt. Nach minutenlanger Jagd können wir die Truppe abschütteln indem wir in taktisch gut gewählten Abständen ein paar kleine Rubelscheine wegwerfen, die sie im Vorbeilaufen versuchen einzusammeln, was uns schließlich zum entscheidenden Vorsprung verhilft.
Schwitzend und keuchend steigen wir in den Lada und verlassen St. Petersburg. Nächste Destination: Moskau.

Wir erreichen spät Nachmittags den Roten Platz. Völlig pleite spa-zieren wir mit knurrenden Mägen vor den Mauern des Kremls auf und ab, dessen Türme mit stoischer Ruhe auf uns herabblicken. Vor uns thront das Lenin-Mausoleum. Da Lenin nicht wollte, dass ein Personenkult um seine Person betrieben werden dürfe, finde ich es völlig okay, dass ein paar streunende Köter das Bein heben und auf den mittlerweile gelb gewordenen Marmorsockel pissen.
Einer der Hunde, ein struppiger kaukasischer Zwerg-Beagle, schließt sich uns an. Ihm knurrt wie uns der Magen. Zu dritt spazie-ren wir zur Basilius-Kathedrale.
„Wir brauchen Geld“, gebe ich zu bedenken.
„Versuchen wir es doch wieder mit einem Lied“, schlägt mein Kol-lege vor.
Ich bin einverstanden, zücke einen wasserlöslichen schwarzen Edding und schreibe mir in großen Lettern die Worte HELP US aufs weiße T-Shirt.
„Gute Idee.“ Mein Kollege macht es mir nach und schreibt, nach einem kurzen Blick auf den verwahrlosten Zwerg-Beagle, ASYL FOR TRIO TRAMPER auf sein weißes T-Shirt. Wir postieren uns vor dem Eingang der Kathedrale und beginnen zu singen. Der Beagle heult dazu. Einige Passanten schlagen das Kreuzzeichen und werfen tat-sächlich ein paar Rubel in eine Mütze. Plötzlich beginnt es zu reg-nen.
„Scheiße!“, flucht mein Kollege. „Die schwarze Tinte auf den T-Shirts zerläuft.“
Rasch flüchten wir in die Kirche. Dort stehen wir Seite an Seite und wollen weitersingen, doch einige orthodoxe Gläubige werfen uns böse Blicke zu.
„Rasch … ein religiöses Lied“, zischt mir mein Kollege zu.
Also stimmen wir ein Ave Maria an, um die Heilige Maria Mutter Gottes zu preisen.
Was wir nicht bedacht haben, dass von unseren T-Shirt-Aufschriften HELP US und ASYL FOR TRIO TRAMPER der Regen eini-ge Buchstaben weggewaschen hat. Übrig bleiben die Buchstaben:
P US SY RIO T.
Nachdem wir weiterhin die Mutter Gottes um Beistand ansingen, greifen einige Besucher völlig verängstigt zum Handy. Wenige Se-kunden später stürmt ein Einsatzkommando die Kirche und nimmt uns mitsamt dem Beagle gefangen.
In Kerkerhaft bei Wasser, Brot, Schlafentzug und Peitschenhieben wissen wir nun, wie gefährlich es ist, ein Lied in der Taiga anzu-stimmen. Doch mit den richtigen Papieren des ehemaligen Botschaf-ters in der Tasche, werden wir nach wenigen Stunden freigelassen, was auch den Schlafentzug weniger dramatisch ausfallen lässt als befürchtet.

Mein Reisebegleiter versucht die strengen Hierarchien und Obrig-keitshörigkeit des russischen Militärs auszunutzen und begehrt wü-tend eine Entschädigung für die erlittenen Qualen während unserer grundlosen Inhaftierung.
„Wir werden dem Botschafter, unserem Freund, persönlich über die skandalösen Vorfälle berichten und erfahrungsgemäß enden Vor-fälle wie diese mit der Versetzung aller Beteiligten in irgendein ödes Kaff im hohen Norden. Dagegen gleicht Sibirien einer Sommerresi-denz.“
Das Wunder geschieht: Mit einer Eskorte und ein paar Rubel rei-cher werden wir mit dem kaukasischen Beagle zuerst zu unserem Lada Taiga und dann bis zur Moskauer Stadtgrenze geleitet. Gut so, denn keiner von uns wäre nach ungezählten Friedensvodkas noch in der Lage gewesen, völlig selbständig den hiesigen Straßenverkehr zu bewältigen und gleichzeitig den Weg aus der Stadt zu finden. Na-türlich selbstgebrannte Vodkas, vom Onkel des Übersetzers, von dem wir auch noch zwei Kartons als Wegzehrung bekommen. Der Beagle hängt den Kopf aus dem Fenster, und seine Ohren und die Zunge flattern im Wind.
Nächste Station: Nowgorod, früher Gorki, die fünftgrößte Stadt Russlands. Wir beschließen vorsichtshalber die stark befahrene Hauptstraße zu verlassen, um irgendwo auf einem Forstweg unseren Rausch ausschlafen zu können. Ich nicke ohnehin bereits ständig ein, während mein Mitreisender versucht den Wagen halbwegs ge-rade zu einem Schlafplätzchen zu steuern.
Als ich aufwache ist es dunkel und still. Ich hatte einen seltsamen Traum von einem Autounfall auf Sylt. Der Name Alexandra kommt mir in den Sinn. Merkwürdig. Die Scheiben sind beschlagen. Mit dem Ärmel wische ich die Sicht frei. Eine Mondsichel verbreitet spärliches Licht aus einem klaren Sternenhimmel. Mein Kollege schläft tief, mit einer Hand auf dem Lenkrad. Ich öffne die Tür und steige aus. Wir stehen auf einer Lichtung. Der Lada steckt bis zur Bodenplatte im Schlamm. Ich greife auf die Motorhaube und stelle fest, dass sie kalt ist. Wahrscheinlich stehen wir schon länger hier. Vor unserem Wa-gen erhellen die Scheinwerfer nur noch ein kleines Stück des Pfades. Das Schaukeln beim Aussteigen hat meinen Kollegen geweckt.
„Wo sind wir?“, fragt dieser.
„Gute Frage. Du bist gefahren“, antworte ich. „Versuch mal zu starten, bevor die Batterie ganz den Geist aufgibt.“
Das Auto hustet müde. Es bleibt beim Versuch. Der Starter dreht die Kurbelwelle eine geschätzte halbe Umdrehung und schweigt dann. Da wir beide einen kräftigen Brand haben und außer dem Fu-sel aus Moskau nichts zu trinken an Bord, beschließen wir ein Stück des Weges weiterzugehen. Weit kann die nächste Hauptstraße ja nicht sein. Glauben wir zumindest! Nur unser Hund will irgendwie nicht aus dem Auto. Er versucht sich in einer Ecke zu verkriechen und knurrt als wir versuchen ihn am Halsband aus dem Wagen zu zerren. Nur mit Mühe können wir ihn dazu bewegen mitzukommen. Wir folgen dem Weg, der im dichten Wald verschwindet. Wenigstens können wir uns die Taiga jetzt schon sehr gut vorstellen.

Wir marschieren stundenlang durchs Unterholz. Plötzlich bleibt mein Kollege stehen und verzieht das Gesicht. „Verdammt, ich bin in einen Haufen Hundescheiße gestiegen.“
Er hebt den Schuh und zeigt mir die Sohle.
„Sieht eher nach Bärenscheiße aus“, kommentiere ich. „Von ei-nem großen Bären, der gerade einen Elch und zwei Stinktiere ver-speist hat.“
„Immerhin besser als die Kacke von einem Tiger oder Schneeleo-parden.“
Unser Beagle zieht den Schwanz ein und jault ängstlich vor sich hin.
Die Mondsichel leuchtet durchs Nadelholz. Der Mond nimmt ab – genauso wie meine Hoffnung, hier je wieder raus zu finden. Es wird rasch kalt. Ein Kauz schreit.
„Ich glaube, wir haben uns in der Tundra verlaufen.“
„Taiga“, korrigiere ich ihn.
„Hast du eigentlich schon eine Idee, worüber du schreiben wirst?“
Ich schüttle den Kopf. „Wenn ich über diesen Haufen Scheiße hier schreibe, glaubt mir das kein Mensch.“
In der Ferne heult ein Wolf. Einer, der seit Tagen kein Stinktier mehr verspeist hat.
„Ich habe Angst“, gebe ich zu.
„Wir könnten uns Mut antrinken“, sagt mein Kollege, „aber ich habe die Flasche im Auto vergessen.“
Was für eine Niederlage. Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass der Wagen nicht im Schlamm, sondern in Bärenscheiße versunken ist.
Kläglich stimme ich ein Lied an, um meine Furcht zu vertreiben.

Bärenscheiße heißt ein altes Lied der Taiga,
in die damals schon meine Mutter stieg,
Wahnsinn flackerte im Spiel der Balalaika,
als Vater heimkam aus dem Krieg.

Daraufhin stimmt mein Kollege die zweite Strophe an.

Ich habe schreckliche Albträume,
die in der langen Nacht vor mir entsteh'n,
und tausend Ängste, dass ich dem Heimweg versäume,
und nichts anderes als die Taiga krieg zu seh'n.

Der Beagle heult mit, und ich stimme die nächste Strophe an.

Heimweh sind die vielen heißen Tränen,
wenn die Verzweiflung im Herzen schwingt,
Angst und Furcht liegt in den Tönen,
nachts wenn das Heulen der Wölfe erklingt.

Gemeinsam singen wir die letzte Strophe.

Die endlosen Steppen und die tiefen Wälder,
die wie grausame Schatten oft vor uns ersteh'n,
neblige Flüsse, von Bärenscheiße bedeckte Felder,
das alles möcht' ich nie wieder seh'n.

Wir verstummen, als ein Licht durch den Wald flackert. Es stammt von einer Holzhütte, aus der Rauch durch den Kamin steigt. Das Klirren von Gläsern und Klänge einer Balalaika dringen durch die Nacht. Wir schleichen näher. Durch die angelaufenen Scheiben sind förmlich der Schweiß, der Alkoholdunst und das Testosteron der bärtigen Männer in den Holzfällerhemden zu sehen, die Kasatschok auf dem Holzboden tanzen, dass die Petroleumlampen an den De -kenbalken schwingen.
„Pssst!“, flüstert mein Freund.
Er zeigt mit dem Finger hinter die Hütte. Dort liegt ein freies Feld im Licht der Mondsichel. In den Ackerfurchen steht eine alte Propel-lermaschine. Unser Ticket raus aus der Taiga.

„Kannst Du fliegen?", frage ich.
„Naja, zumindest bin ich schon einmal ein bisschen geflogen. Als Pilot und nicht als Passagier! Ein Bekannter war Fluglehrer und hat mich mal ein Stück fliegen lassen."
Ich bin trotzdem skeptisch. Er meint tatsächlich er kann das Ge-rät starten, wenden und wegfliegen, bevor irgendeiner von den hartgesottenen Typen etwas merkt. So kommt es wie es kommen muss: Wir stehen vor einer Hütte voller tanzender Bärtiger in einem Wald irgendwo in Russland und streiten, ob es eine gute Idee ist, ein Flugzeug zu stehlen, bei dem wir nicht sicher sind ob wir damit überhaupt abheben können und wenn ja, ob wir die Landung über-leben werden. Wir merken im Eifer des Gefechts gar nicht, dass die Musik inzwischen verstummt ist.
„Wuff", kläfft unser Hund, als sich die Tür der Hütte öffnet. Das Licht von starken Taschenlampen leuchtet, erfasst unsere Köpfe und raubt uns die Sicht.
„Kto tam!", sagt einer der Männer.
„Njet gawarit russki", sage ich, was glatt gelogen ist, da ich ja ge-rade in diesem Augenblick Russisch spreche. Ich hebe die Hände um mich zu ergeben. Ich denke an Wien und dass es ein Fehler war in die Taiga zu fahren.
„Eine Idee wie wir hier rauskommen?", frage ich meinen Kollegen.
„Sie sprechen Deutsch?", kommt es in gebrochenem Deutsch von einem der Taschenlampenträger zurück.
Nur zehn Minuten später sitzen wir sehr erleichtert mit den Män-nern in der Hütte und feiern mit den anderen Dimitris Geburtstag. Keine Mafia, keine Schmuggler, keine Waffenhändler, keine Drogen-dealer, keine Kinderschänder oder Snuff-Produzenten, sondern ein Forscherteam. Es sind nur Biologen, die die Auswirkung des Balz-verhaltens des Taigalurches auf die Population der Bären erforschen.
Ich bin trotzdem skeptisch, denn die Männer wirken nicht wie Forscher. Während wir feiern und ein Glas nach dem anderen run-terkippen, tippt mich mein Kollege plötzlich leicht am Arm an. Er deutet mit dem Kopf zu einer Holztür, die in eine hintere Kammer führt. Unser Hund hat die Tür mit der Schnauze aufgedrückt, glotzt in den Raum, in dem einige Kerzen brennen und wedelt aufgeregt mit dem Schwanz.
Beim Blick in den Raum ist mir, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser über den Rücken gegossen.

Ein geöffneter Koffer voller dick gebündelter Banknoten liegt auf dem Tisch. Rubel! Im Kerzenschein erkenne ich, dass es Millionen sein müssen. Daneben liegen einige Päckchen Heroin, in handlichen halb Kilo Einheiten. Darunter mehrere Truhen mit automatischen Waffen, Handgranaten, Raketenwerfern und jeder Menge Munition. Daneben lehnt eine schwarze Kiste mit dem gelben Radioaktiv-Emblem. Zwei nackte junge Frauen sind an die Wand gekettet und stöhnen vor sich hin. Sie haben einen roten Ball im Mund und ein Gummimaske über den Kopf gestülpt. Ein kleiner buckliger Russe mit schiefem Gesicht steht daneben und schwingt eine Lederrute. Eine Live-Webcam filmt die Szene. Von einem Taigalurch ist weit und breit keine Spur zu sehen.
Die Russen merken plötzlich, dass mein Kollege und ich wie ge-bannt in den Raum glotzen.
Die Musik verstummt. Die Russen erheben sich.
„Ich fürchte“, sagt mein Kollege, „wir sind zur falschen Zeit am falschen Ort, haben etwas gesehen, was wir nicht sehen sollten und sind da in eine ganz schlimme Sache hineingeraten.“
Ich nicke. Ich weiß, dass wir hier nie wieder rauskommen. Zu-mindest nicht lebendig oder in einem Stück. Wir haben beide noch immer keine Ahnung wie wir das Lied der Taiga in Worte fassen sol-len, aber das ist uns im Moment scheißegal.
„Es wird Zeit für Plan B“, flüstere ich.
„Plan B?“, fragt mein Kollege.
„Hund nehmen, rausrennen, Propellermaschine starten und ab-hauen.“
Mein Kollege schnappt sich unseren kaukasischer Zwerg-Beagle, klemmt ihn sich unter den Arm und stürmt in den dunklen Raum. Ich folge ihm. Bei unserer Flucht zum Fenster löse ich die Ketten der gefangenen Frauen, stoße dabei aber unabsichtlich die Kerzen um. Sogleich fangen die Geldbündel und das Heroin zu brennen an. Wir springen durchs Fenster. Durch den plötzlichen Luftzug lodert und flackert das Feuer im ganzen Raum.
Wir rennen zur Maschine.
Während mein Kollege ins Cockpit springt und die Hebel am Ar-maturenbrett umlegt, schreit er: „Jetzt!“
Ich drehe am Propeller. Die Maschine hustet und springt an.
Hinter mir fliegt die Hütte in die Luft. Durch die Granaten und Munitionskisten hebt sich das Dach um gute zehn Meter, während die Hütte lichterloh flackert. In wenigen Sekunden ist hier alles ra-dioaktiv verstrahlt.
„Spring rein!“, brüllt mein Kollege.
Ich quetsche mich zwischen ihn und den Hund und greife nach dem Sicherheitsgurt, als wir schon über die Lichtung rasen.
Bei jeder neuen Explosion zuckt der Hund zusammen. Dann he-ben wir ab, drehen eine Runde über die brennende Hütte, streifen mit dem Fahrgestell die Baumwipfel und fliegen zum Horizont, wo gerade die Sonne aufgeht.
Ein Blick aufs Armaturenbrett zeigt mir, dass die Tanks voll sind.
„Ich liebe die Taiga!“, brüllt mein Kollege.
Mir ergeht es ähnlich. Tränen stehen mir in den Augen.

Wir fliegen über das Land. Unter uns trabt eine Herde Rentiere. Das Leben ist herrlich.
„Kein Mensch wird uns je glauben, was wir hier erlebt haben!“, brülle ich, um den Lärm des Propellers zu übertönen.
„Du hast Recht. Besser wir schreiben irgendeinen Scheißdreck über die Taiga, den wir aus Wikipedia rauskopiert haben.“

„So wie es alle anderen wahrscheinlich auch tun werden.“
Mein Kollege nickt.
Es ist ein beiderseitiges Verständnis ohne Worte. Sogar der Hund ist unserer Meinung.

Insgeheim wissen wir, dass wir uns mit unseren Recherchen diesmal mächtig ins Zeug gelegt haben und wir mit dem Land und seinen Einwohnern aufs Intimste vertraut wurden. Wir sind bis an unsere Grenzen vorgestoßen, haben alles ausgelotet.

Wir zogen in die Taiga, weil wir den Wunsch hatten, unseren Bei-trag mit Überlegung zu schreiben, dem eigentlichen, wirklichen Le-ben näher zu treten, zu sehen, ob wir nicht lernen konnten, was die Taiga zu lehren hätte, damit wir nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müssten, dass wir nicht gelebt hatten.

Wir wollten nicht das leben, was nicht Leben war; das Leben ist so kostbar. Auch wollten wir keine Entsagung üben, außer es wurde unumgänglich notwendig.

Wir wollten tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde.

-    Ende –